Das Grosse Schweigen: Wie ein psychiatrisches Konstrukt zur Krankheit wird
Seit Monaten rollt eine Propaganda-Welle durch den deutschen Blätterwald. Nachdem der Psychopharmakaumsatz („Ritalin“) bei Kindern zurückgeht, sollen wir nun darüber nachdenken, ob wir nicht auch als Erwachsene ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung) haben: „Ich bin aber erwachsen, und ich "habe" erst seit ein paar Jahren "offiziell" ADHS“ schreibt Bettina Lüke im STERN. „ADHS bei Erwachsenen – Oft unerkannt, aber gut behandelbar" heißt es bei SWR2. ADHS „hat mich zu dem gemacht, der ich bin" verkündigt der britische Comedian Johnny Vegas im Guardian, während die Psychologin Mona Abdel-Habid bei DFL Nova verrät: „Nur zufällig kommt Angelina darauf, dass es sein könnte, dass ihr Gehirn anders funktioniert, als das von anderen Menschen. Als sie eine andere Frau über deren ADHS sprechen hört, denkt sie: „Das bin ich!“
Der Erfolg bleibt nicht aus: Der Ritalinumsatz bei Erwachsenen steigt.
Aber eine niederländische Forschergruppe um Laura Batstra von der Universität Groningen betont nun das große öffentliche Schweigen darüber, dass es keinen wirklichen Beleg für die Existenz einer medizinischen Hirnstörung namens ADHS gibt. Im genetischen Reduktionismus (Batstra) werden winzige genetische Korrelationen zur Ursache von ADHS erklärt, obwohl es keinerlei diagnostischen Gen- oder Hirnfunktionstest gibt. Erblichkeitsschätzungen, die sowohl das familiäre Umfeld als auch die Genetik umfassen, werden so diskutiert, als ob der genetische Teil der einzige Einfluss wäre. Dass psychosoziale Umweltfaktoren die Wahrscheinlichkeit einer ADHS-Diagnose erheblich erhöhen, wird verschwiegen (zum Beispiel erhalten früh eingeschulte Kinder 34 % häufiger die Diagnose ADHS). Hirnbesonderheiten werden als Ursache – und nicht als Folge - des Verhaltens behauptet.
Die Forscher betonen: Der kardinale Denkfehler besteht darin, dass eine schlichte Verhaltensbeschreibung so verdinglicht wird, als handele es sich um eine medizinische Krankheit. „ADHS“ ist aber in Wahrheit lediglich ein Etikett für ein Sammelsurium unspezifischer Verhaltensweisen, und nicht eine genetische Hirnkrankheit, die diese verursacht.
Nicht nur bei Kindern, auch bei „Erwachsenen-ADHS“ sind denn auch grundlegende wissenschaftliche Zweifel angebracht. Die Diagnose bei Erwachsenen setzt voraus, dass die Störung in der Kindheit begonnen haben muss. Aber nur ca. 10 % der Kinder mit der ADHS-Diagnose weisen noch als Erwachsene die geforderten Kriterien auf, so dass „ADHS bei Kindern“ und „ADHS bei Erwachsenen“ wahrscheinlich ganz unterschiedliche Phänomene sind (Moffit). Bei Erwachsenen mit ADHS findet man noch ca. 12 andere psychiatrische Störungen (Yoshimasu). Die Erwachsenen leiden demnach an irgendetwas, aber nicht an ADHS.
Über all dies herrscht derzeit in der medialen Öffentlichkeit ein großes Schweigen. Bis vor ca. 10 Jahren waren Berichte über ADHS noch differenzierter. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die gegenwärtige Kampagne durch einschlägige Lobbyisten, Influencer und Pharmafirmen betrieben wird -und viele spielen mit.
Quellen:
Moffitt, TE et. al. (2015): Is Adult ADHD a Childhood-Onset Neurodevelopmental Disorder? Evidence From a Four-Decade Longitudinal Cohort Study. Am J Psychiatry. Oct;172(10):967-77
Café Holunder: ADHS in der Kritik (2022): https://adhskritik.com/2020/07/29/adhs-bei-erwachsenen/
Yoshimasu K et. al. (2016): Adults With Persistent ADHD: Gender and Psychiatric Comorbidities – A Population-Based Longitudinal Study. J Atten Disord. Nov 18
Ärztezeitung (2018): Kinder tragen ADHS nur selten ins Erwachsenenalter https://www.aerztezeitung.de/Medizin/Kinder-tragen-ADHS-nur-selten-ins-Erwachsenenalter-228655.html.
Agnew-Blais et al. (2016): Evaluation of the Persistence, Remission, and Emergence of AttentionDeficit/HyperactivityDisorder in Young Adulthood. JAMA Psychiatry Research July 1
Meermann, S. te, Freedman, J.E., Batstra (2022): ADHD and reification: Four ways a psychiatric construct is portrayed as a disease. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyt.2022.1055328/full?fbclid=IwAR3nEx1ihA9DFqzcaHc1PAD3xOLzV5ypV3BsD70NvfCZK-qpHsjPxibhDd4
Neraal, T., Wildermuth, M. (Hg.)(2011): ADHS: Symptome verstehen - Beziehungen verändern. Psychosozial-Verlag
V.i.S.d.P.:
Dipl.-Psych. Hans-Reinhard Schmidt
Konferenz ADHS
https://konferenz-adhs.org/de/