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ADHS Forschung zeigt: es gibt keine spezifischen Gene

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Die Konferenz ADHS kritisiert die Behauptung, ADHS sei primär genetisch bedingt. Neue Forschungsergebnisse aus der Epi- und Molekulargenetik weisen auf komplexe Wechselwirkungen mit starken psychosozialen Kontexteffekten hin.

Bereits vor einigen Jahren hat der amerikanische Forscher Jay Joseph herausgefunden, dass die Verhaltensgenetik bei ADHS keine Aussage über Genetik versus Umwelt zulässt. Alle Beobachtungen lassen sich auch vollständig durch nicht-genetische Einflüsse erklären. Joseph resümiert: „Wir können nicht erwarten, dass die führenden Verhaltensgenetiker eingestehen, dass die Grundannahmen ihres Forschungsgebiets falsch sind, dass ihre hochgelobten Forschungsmethoden massiv fehlerhaft und durch Umwelteinflüsse konfundiert sind, und dass familiäre, soziale, kulturelle, ökonomische und politische Einflüsse es sind, - und nicht genetische-, die psychiatrische Störungen und die Variation menschlichen Verhaltens hauptsächlich begründen“.

Dem lässt sich bis heute auch für die Molekulargenetik nichts hinzufügen. Von ihr erhoffte man sich eine Überwindung der Methodenschwäche der Verhaltensgenetik. Bobb u.a. haben 2004 alle über 100 Forschungsstudien zur molekularen Genetik der ADHS der Jahre 1991-2004 kritisch gesichtet, darunter drei genomweite Assoziationsstudien mit 94 Polymorphismen und 33 Kandidatengenen. Sie finden, dass ADHS eine sehr "komplexe" Störung mit vielfältiger, aber jeweils schwacher genetischer Beteiligung sei, und fassen dann zusammen, dass es nur für vier Gene einigermaßen gesicherte, aber nur bescheidene und auch nur statistische Zusammenhänge gibt. 64 % aller Genstudien zu ADHS waren in 13 Forschungsjahren ergebnislos geblieben.

In einer Metaanalyse von über 300 molekulargenetischen Studien zu ADHS stellen Li u. a. abschließend fest: „Der gegenwärtige Forschungsstand genetischer Studien zu ADHS ist immer noch uneinheitlich und ergebnislos“, aber die Zukunft (und damit weitere Forschungsgelder) werde alles klären.

Plomin, der international bekannte Verhaltensgenetiker, konnte 2011 keinen einzigen replizierten, also in Nachfolgestudien bestätigten, Genfund anführen. Es müsse diese Erblichkeit auch molekulargenetisch aber trotzdem geben, man habe sie bisher nur noch nicht entdeckt, wird gesagt.

Einer der führenden deutschen ADHS-Vertreter ist T. Banaschewski. Vor nunmehr 13 Jahren stellte er fest, dass die bisherige Forschung die Frage, ob es ADHS als von anderen unterscheidbare spezifische Störung überhaupt gibt, im Unklaren lasse. Aus seiner damaligen Forschungsübersicht bisheriger Vergleiche von ADHS mit anderen neuropsychologischen, neurobiologischen und genetischen Korrelaten zog er den ernüchternden Schluss, dass es bisher keine ADHS-Spezifität gibt. Auf Deutsch: ADHS gibt es gar nicht. Neue Forschungen bestätigen dies nunmehr.

In zwei umfangreichen aktuellen Genstudien zeigte sich nämlich: Es gibt einen großen genetischen Überlappungsbereich von ADHS mit anderen psychiatrischen Krankheiten. Es gibt also keine spezifischen Gene für ADHS. Wissenschaftler des Brainstorm Consortiums unter Beteiligung von Humangenetikern des Universitätsklinikums Bonn haben dies kürzlich bestätigt. An der groß angelegten Studie arbeiteten mehr als 500 Forscher aus aller Welt. Ergebnisse der Arbeit hat jetzt das Fachjournal Science vorgestellt. Es zeigte sich, dass sich 25 verschiedene psychiatrische Krankheiten inkl. ADHS in Bezug auf ihre Genetik im Grunde nicht unterscheiden lassen. Dabei ist die gemessene genetische Beteiligung bei psychiatrischen Krankheiten sowieso sehr klein, in bisherigen Studien beläuft sie sich auf ca. 5-10 % der Gesamtvarianz, 90% der Varianz bleiben also genetisch unerklärt.

Auch eine zweite internationale Forschergruppe unter Demontis hat kürzlich einige Gene identifiziert, die mit ADHS assoziiert sind, aber auch sie sind mit sogar ca. 200 anderen Erkrankungen und Persönlichkeitsmerkmalen verbunden, z. B. auch mit niedrigerer Intelligenz oder zerebralen Entwicklungsstörungen. Die gefundenen Genvarianten können nach Berechnungen der Forscher ca. 20 % der genetischen Prädisposition erklären. Also auch in dieser sehr umfangreichen Studie bleiben 80% der Varianz unerklärt.

Auch A. Thapar betont in einer Übersicht über die genetischen Befunde der letzten 5 Jahre die große Überlappung von ADHS mit Autismus, geistiger Behinderung und vielen anderen psychiatrischen und nichtpsychiatrischen Störungen, sogar mit Lungenkrebs (was selbstredend nicht bedeutet, Kinder mit ADHS-Diagnose unterlägen einem erhöhten Lungenkrebsrisiko). Man könne also ADHS nicht länger als eigene Krankheit betrachten. Die Ergebnisse lassen sich damit vergleichen, dass man zunächst Fieber als eigene, spezifische Krankheit erklärt und dann herausfindet, dass es lediglich ein unspezifisches, multikausales Symptom darstellt. So wenig man also von einer spezifischen Fieberkrankheit sprechen dürfte, darf man auch nicht von einer spezifischen ADHS sprechen.

Eine aktuelle Übersichtsstudie zu den Fortschritten der Molekulargenetik der ADHS in China von Qian u. a. äußert sich selbstkritisch, indem sie u. a. herausstellt, dass die Ergebnisse insgesamt widersprüchlich und enttäuschend sind. Es gebe mehrere mögliche Gründe für das Versagen von GWAS- und Kandidatengenstudien, Gene zu identifizieren, die hoch mit ADHS assoziiert sind: So unterscheiden die in den verschiedenen Studien untersuchten Probanden sich stark in Bezug auf Alter, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Komorbidität und diagnostische Merkmale. Auch werden Gen-Gen- sowie vor allem Gen-Umwelt-Wechselwirkungen nicht berücksichtigt. Ein eher schüchterner Verweis auf die in der ADHS-Forschung weitgehend ausgeblendete Bedeutung der Epigenetik.

Die neueren Erkenntnisse der Epigenetik lassen aber die gesamte Genetik zu einem Teilbereich des Hirnstoffwechsels werden und differenzieren die bisherigen Kenntnisse. Es ist Tatsache, dass die Umsetzung von genetischen Informationen unter dem Einfluss der Umwelt geschieht. Der damit einhergehende Fortschritt besteht darin, dass nicht mehr behauptet werden kann, es ginge bei der Genetik um die Vermittlung vorgegebener Codierungen - die klassische Vorstellung von “Erblichkeit”. Ein Gen kann noch so viel Pathologie enthalten: nur wenn es aktiviert wird, kommt es zur Wirkung. Damit gewinnen aktivierende oder abschaltende Einflüsse - sprich: Umweltfaktoren - entscheidende Bedeutung.

Aber die Erkenntnisse der Epigenetik sind weit davon entfernt, eine neue Phase zur Entschlüsselung des Genoms einzuleiten. Im Gegenteil: sie machen deutlich, dass die Genetik mit ihren unendlich vielfältigen wechselseitigen Wirkfaktoren den Gesetzen der Komplexität unterliegt und das Geschehen daher nicht durch die Eigenschaften einzelner Elemente, sondern durch deren Bedeutung im jeweiligen Kontext bestimmt wird. Angesichts dieses Erkenntnisstandes ist es erstaunlich, dass in der Fachliteratur über die Verursachung psychopathologischer Krankheits-“Bilder” wie „ADHS“ häufig noch die klassische Vorstellung von “Erblichkeit” vertreten wird, sobald familiäre Häufung und möglicherweise noch molekulargenetische Auffälligkeiten zu beobachten sind. Offenbar fällt es schwer, sich auf die Verunsicherung durch nichtlineare Systeme einzulassen. Diese Angst scheint so schwer zu wiegen, dass sie wissenschaftliche Befunde ausblenden lässt. Dies gilt nicht zufällig auch für die Thematik der Nichtlinearität in der Neurobiologie. Es empfielht sich allen Wissenschaftlern, Fachleuten und Betroffenen gleichermaßen, sich mit wirklichkeitsnäheren, komplexen Wechselwirkungsmodellen auseinander zu setzen. 

Quellen:

Bobb, AF. (2005): Molecular genetic studies of ADHD: 1991 to 2004. Am J Med Genet B Neuropsychiatr Genet. 2005

Joseph, J. (2011): The crumbling pillars of behavioral genetics. Genewatch http://www.councilforresponsiblegenetics.org/genewatch/GeneWatchPage.aspx?pageId=384

Li, Z. u. a.: (2014): Molecular genetic studies of ADHD and its candidate genes. A review. Psychiatry Res. 2014 Sep 30;219(1):10-24.

Banaschewski, T. u. a. (2005): Towards an understanding of unique and shared pathways in the psychopathophysiology of ADHD. Dev Sci. 2005 Mar;8(2):132-40.

Von Lüpke, H. (2014): Epigenetik. In: Evertz, K., Janus, L., Linder, L. (Hg.): Lehrbuch der Pränatalen Psychologie. Mattes Verlag Heidelberg, S.104-110.

Qian, GAO (2014): Advances in molecular genetic studies of attention deficit hyperactivity disorder in China. Shanghai Arch Psychiatry. 2014 Aug; 26(4): 194–206.

Brainstorm Consortium (2018): Analysis of shared heritability in common disorders of the brain. Science. 2018 Jun 22; 360(6395).

Thapar, A. (2018): Discoveries on the Genetics of ADHD in the 21st Century: New Findings and Their Implications. Am J Psychiatry. 2018 Oct 1;175(10):943-950.

Demontis, D. et. al. (2018): Discovery of the first genome-wide significant risk loci for attention deficit/hyperactivity-disorder. Nat Genet. 2018 Nov 26.

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