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Gemeinsamer Bundesausschuss regelt zweifelhafte ADHS-Diagnostik

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist ein Organ der Selbstverwaltung von Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen, das gesetzliche Gesundheitsvorgaben in die Praxis umsetzen soll. Seine Richtlinien haben untergesetzlichen Charakter und sind für alle Beteiligten verbindlich.

Im März dieses Jahres hat der G-BA Einzelheiten der Medikation und Diagnostik für den Umgang mit ADHS bei Erwachsenen geregelt (1).

Dabei legt er fest, dass die Diagnostik einer Erwachsenen-ADHS auch die retrospektive Störungsmessung aus der Kindheit umfassen muss, und bestimmt hierfür als angeblich bewährtes Instrument die deutsche Kurzform der Wender Utah Rating Scale (WURS-K) von Rösler u. a. (2).

Es gehört zu den Kuriositäten des Konstrukts ADHS, dass man diese angebliche Hirnfunktionsstörung von Kindheit, ja von Geburt an haben soll und dies auch als Erwachsener rückblickend diagnostizieren muss. Davon abgesehen, dass eine solche rückblickende Verhaltensdiagnostik grundsätzlich stark störungsanfällig sein muss, soll die WURS-K dennoch ein geeignetes Instrument sein.

Die Wender Utah Rating Scale (WURS) hatte ursprünglich 61 Items und wollte nicht nur ADHS, sondern auch eine ganze Reihe anderer psychiatrischer Probleme erfassen (3). Ward u. Wender (4) haben deshalb später 36 Items eliminiert und gefunden, dass die restlichen 25 Items am besten zwischen ADHS und Gesunden sowie Depressiven unterscheiden.

Die Arbeitsgruppe um Stein fand aber anschließend, dass der Fragebogen nach wie vor sehr heterogen ist und immer noch viele andere psychiatrische Störungen (wie depressives, ängstliches oder sozialgestörtes Verhalten) misst (5). McCann u. a. fanden dann, dass sogar fast jede zweite ADHS-Diagnose falsch war: fast jeder Zweite, der die Diagnose ADHS erhalten hätte, war falsch diagnostiziert (6).

Die Kurzform der WURS eignet sich also kaum für den Einsatz in einem psychiatrischen Kollektiv. Das bestätigt auch Stein, der darauf hinweist, dass die Anwendung der WURS wegen ihrer erheblichen Überschneidung mit vielfältigen Komorbiditäten in einem Patientenkollektiv zweifelhaft ist (5). Auch Brunklaus kommt zu diesem Ergebnis. Die vom G-BA vorgeschriebene deutsche Adaption WURS-K von Retz-Junginger aus 2002, die nur noch 21 Items enthält und etwa 10 Minuten Bearbeitung erfordert, unterscheidet sich von den Vorgängerversionen nicht wesentlich (7).

Der vom G-BA vorgeschriebene Fragebogen WURS-K erscheint also kaum geeignet, um ADHS-Patienten von Patienten mit anderen psychiatrischen Störungen zu unterscheiden. Das verwundert auch nicht, sind doch ADHS-Symptome grundsätzlich völlig unspezifisch. Es ist zu befürchten, dass die nur ca. 10 Minuten dauernde Durchführung der WURS-K klinische Praktiker dazu verführt, viel zu viele psychisch gestörte Menschen fälschlich mit ADHS zu diagnostizieren und ihnen damit eine störungsspezifische Therapie zu erschweren.

Es drängt sich der Verdacht auf, dass im Zuge der geplanten Ausweitung der Pathologisierung bislang „normaler“ Variationen menschlicher Daseinsformen im Zuge der Neufassung des DSM (8) und im Vorgriff auf die zu erwartende Vorlage der ICD XI die Zahl von ADHS-Diagnosen bei Erwachsenen vorab künstlich erhöht werden soll, um dem von 1993 bis 2009 explodierenden und seither auf hohem Niveau stagnierenden Absatz methylphenidathaltiger Medikamente durch die Ausweitung möglicher Diagnosestellungen neue Marktsegmente zu erschließen.

Quellen:

1. http://www.gba.de/institution/presse/pressemitteil ungen/482/

2. http://www.testzentrale.de/programm/homburger-adhs-skalen-fur-erwachsene.html

3. Wender P., Reimherr F., Wood D., 1981, Attention deficit disorder ("minimal brain dysfunction") in adults: A replication of diagnosis and drug treatment. Arch. Gen.Psychiatry, 38, 449-456

4. Ward M., Wender P., Reimherr F., 1993, The Wender Utah Rating Scale: An Aid in the Retrospective Diagnosis of Childhood Attention Deficit Hyperactivity Disorder.Am. J. Psychiatry, 150, 885-890

5. Stein M., Sandoval R., Szumowski E., Roizen N., Reinecke M., Blondis T., Klein Z.,1995, Psychometric Characteristics of the Wender Utah Rating Scale (WURS):Reliability and Factor Structure for Men and Women. Psychopharmacology Bulletin, 31, 425-433

6. McCann B., Scheele L., Ward N., Roy-Byrne P., 2000, Discriminant Validity of the Wender Utah Rating Scale for Attention Deficit Hyperactivity Disorder in Adults. J. Neuropsychiatry Clin. Neurosci., 12, 240-245

7. Brunklaus, A.: Vergleich von Symptomen des Hyperkinetischen Syndroms bei politoxikomanen Patienten in Suchtbehandlung und gesunden Kontrollprobanden. Dissertation 2006, Medizinische Fakultät der Charité – Universitätsmedizin Berlin

8. Frances, A.: 2013, Saving Normal: An Insider's Revolt Against Out-of-Control Psychiatric Diagnosis, DSM-5, Big Pharma, and the Medicalization of Ordinary Life. New York: William Morrow (Deutsch: NORMAL: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen: Der Kampf um die Definition geistiger Gesundheit. Köln: Dumont 2013.

Tags: Erwachsene Diagnostik Methylphenidat Normalität Bundesausschuss Wender Utah Rating Scale Verhaltensdiagnostik WURS Komorbidität Pathologisierung DSM ICD

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