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Fachtexte zu «ADHS» von unseren Kuratoriumsmitgliedern

Der Dialog in Bewegung und der entgleiste Dialog. Beiträge aus Säuglingsforschung und Neurobiologie

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Zusammenfassung: Ausgehend vom Dialogmodell (Milani Comparetti) geht es zunächst um neuere Konzepte aus der Säuglingsforschung und dabei um die Entwicklung einer Affektkontrolle auf der Grundlage von Modellen der Bindungsforschung. Aus dem aktuellen Stand der Kenntnisse über Kompetenzen des Säuglings bis hin zur triadischen Kommunikation ergibt sich eine Erweiterung des Dialogkonzepts im Sinne einer lebenslangen Struktur, in der auch Störungen entwicklungsfördernd sein können. Es folgt eine Diskussion der strukturierenden Rolle des frühen Dialogs auf unbewusste Prozesse als Vorbedingung für Kommunikation. Dadurch und über das Konzept von Wahrnehmungen als Hypothesen (Roth) ergeben sich Bezüge zur Hirnforschung. Durch das Modell vom „potential space“ (Winnicott) und dem „Dritten“ (Benjamin) wird das Dialogmodell erweitert und in Beziehung gesetzt mit der Theorie der Selektion neuronaler Gruppen (Edelman). Im Mittelpunkt steht dabei die Rolle transmodaler Wechselseitigkeit. Der Zustand des entgleisten Dialogs durch Verlust des „Spiel-Raums“ wird anhand der Borderline-Struktur verdeutlicht und durch die AD(H)S-Problematik konkretisiert. Daraus ergeben sich prophylaktische und therapeutische Aspekte.

Schlüssenbegriffe: Bindungsforschung und Dialog, Affektregulation, Triade, Strukturierung unbewusster Prozesse, Wahrnehmungen als Hypothesen, der “potential space“, Dialektik des „Dritten“, Theorie der Selektion neuronaler Gruppen, transmodale (amodale, kreuzmodale) Prozesse, Borderline-Struktur, „AD(H)S“.

„Dialog wird definiert als ein emotionsgeladener Kreisprozess von Aktion und Antwort innerhalb einer Eltern - Kind - Dyade, ein kontinuierlicher wechselseitiger Feedback Kreislauf“ (Spitz 1963, 152). Spitz bringt die Vielzahl der Dialogkonzepte auf diese Formel. Sie wirkt so plausibel, dass kein Bedarf für weitere Ausführungen zu bestehen scheint. Damit könnte sie - vergleichbar mit Begriffen wie „Ganzheitlichkeit“  - zur Leerformel werden, die zugleich alles und nichts besagt und lediglich das Gefühl vermittelt, auf der richtigen Seite zu stehen.

Ziel dieses Beitrages soll es sein, durch Bezugnahme auf Modelle und Befunde aus Säuglingsforschung und Neurobiologie konzeptionelle und praktische Aspekte des Dialogkonzepts zu diskutieren, um den leeren Raum scheinbarer Klarheiten als einen Spiel - Raum für vielfältige dynamische Prozesse erkennbar werden zu lassen. Forschungsansätze werden dabei bewusst als wandelbare Perspektiven, als Bilder behandelt. Damit ist gemeint, dass in diesen Bezügen keine übergeordnet gültigen „Erklärungen“ gesucht werden  - eine Erwartung, die sich nicht selten an die Hirnforschung richtet und von dieser aufgegriffen wird. Jeder Forschungsbereich ist  - wie bei der Bestimmung von Welle und Teilchen  - durch die Grenzen seiner Methodik bestimmt. Als Analogie sei Bezug genommen auf eine Szene, in der ein Pianist Mozart spielt. Eine der möglichen Perspektiven sei zunächst die Untersuchung der musikalischen Qualität unter ästhetischen Gesichtspunkten sowie der Frage, ob der Pianist dieser gerecht wird. Eine weitere Perspektive wäre die Betrachtung der Mechanik des Klaviers, deren materieller und technischer Voraussetzungen sowie schließlich eine physikalisch - akustische Analyse der mit dem Spiel verbundenen Schallwellen, ihrer Frequenzen, Amplituden usw. Jede dieser Untersuchungen hat ihre eigene Methodik, die auch bei beliebiger Verfeinerung keine Aussage über die Bewertungskriterien der anderen zulässt. Die musikästhetische Betrachtung wird niemals über die mechanischen und physikalischen Aspekte etwas aussagen können. Die physikalische Analyse wiederum kann keine Kriterien dafür aufstellen, warum dem Zuhörer die Sonate von Mozart vielleicht mehr bedeutet als ein Stück von Salieri. Gleichzeitig sind alle Aspekte voneinander abhängig: Ohne funktionierende Mechanik gäbe es keine musikalische Ästhetik, ohne diese wiederum keinen Anlass zur Entwicklung der Mechanik. Eine Aussage wie: „Die Mechanik macht die Musik von Mozart“ ist daher zugleich zutreffend und falsch. Es geht um wechselseitige Bedingtheit und nicht um einfache Kausalität  -  um etwas „Ganzes“, das nur durch die Bedingtheiten der methodischen Zugänge in unterschiedliche „Daten“ aufgeteilt wird. Gleichzeitig können Resultate der einen Methodik dazu anregen, unter einer neuen Perspektive genauer hinzusehen und im bereits Vertrauten Entdeckungen zu machen. In diesem kreativen Sinn soll hier die Wechselseitigkeit der Bezüge zwischen dialogischem Konzept, Säuglingsforschung und Neurobiologie verstanden und analog zu musikalischen Strukturen als Thema mit Variationen durchgespielt werden.

Das „Thema“ bildet das aus der Praxis der Integration behinderter Kinder entwickeltes Dialogmodell von Milani Comparetti (1996). Im Gegensatz zum geschlossenen Kreis des neurologischen Reflexmodells, bei dem Stimulus und Respons sich in jeweils vorgegebenen festen Bahnen bewegen, wird im Dialog das Wechselspiel zwischen dem Vorschlag des einen Partners und dem Gegenvorschlag des anderen unter dem Bild einer aufsteigenden Spirale gesehen. Dabei ist mit "Gegenvorschlag" nicht gemeint, dass dieser „gegen“ den des Partners gerichtet ist, sondern lediglich, dass er sich von diesem unterscheidet. Aus dieser Differenz ergibt sich statt des geschlossenen Kreises die nach oben offene Spirale, deren Bewegung von beiden Partnern, ohne sich in einer vorgegebenen und damit bereits bekannten Bahn zu bewegen, jeweils neu gestaltet wird. Das Ergebnis überrascht, gibt Anlass zur Neugier auf die weitere Entwicklung und hat damit eine kreative Dimension. Jeder Beitrag antwortet auf den Beitrag des Partners und stellt zugleich einen neuen Vorschlag dar. Die Differenz ist also keine Störung, sondern essentielle Voraussetzung für die kreative und damit entwicklungsfördernde Dimension. Darüber hinaus wird der Dialog nicht als Aufforderung zur bedingungslosen Enthüllung der Partner verstanden. Milani Comparetti spricht vom Geheimnis, von der „Nische der sprachlich nicht mehr fassbaren Subjektivität“ (S. 26), von der Begrenzung des Mitgeteilten  - nicht aus Mangel an Kommunikationsmöglichkeiten, sondern als Bestandteil des Dialogs. Bemerkenswert ist dabei, dass Milani Comparetti beide Partner als gleichberechtigt ansieht, den Behinderten also nicht als defizitär, sondern durch sein Anderssein auch für die Nichtbehinderten bereichernd.

In Anwendung dieses Modells auf den Säugling und seine erwachsene Betreuungsperson wären die Beiträge des Säuglings ebenso ernst zu nehmen wie die des Erwachsenen. Es bleibt jedoch die Tatsache, dass einer der Partner in stärkerem Maße die Bedingungen dafür schaffen muss, dass der andere sich entwickeln kann. Obwohl auch der Erwachsene sich durch das Kind weiter entwickelt, bleibt hier eine Asymmetrie, die in der Säuglingsforschung thematisiert wird. So gehen Fonagy et al. (2004)  - auf der Grundlage der Bindungsforschung  - davon aus, dass es für die Selbstentwicklung und dabei den Aspekt der Affektregulation von besonderer Bedeutung ist, dass die Gefühlszustände des Säuglings vom Erwachsenen in der Weise widergespiegelt werden, dass für den Säugling der Bezug zum eigenen Gefühl erkennbar wird, zugleich aber auch der Unterschied zum Gefühl des Erwachsenen. Der Erwachsene bewirkt dies durch

„Markieren“ seines Gefühls, einem Abkoppeln aus dem Kontext des eigenen Erlebens, das die Äusserung dieses Gefühls „nichtsequentiell“ erscheinen lässt. Dem entspricht ein übertriebener Ausdruck dieser Gefühle, ein „Als-ob“-Spiel im Sinne eines „pretended play“. Auf diese Weise ist der Säugling davor geschützt, das eigene Gefühl mit dem des Erwachsenen zu verwechseln. Wird der Säugling beispielsweise vom Gefühl existenziell bedrohlicher Angst überflutet, so kann er durch die modifizierte Spiegelung des Erwachsenen erleben, dass dieser sich nicht gleichermaßen bedroht fühlt. Dadurch vermittelt sich ihm die Botschaft, dass die Angst überlebt werden kann. Jene beim Erwachsenen beobachtete Variante des eigenen Gefühlszustandes wird für diesen zu einer inneren Repräsentanz, die es ihm ermöglicht, den überflutenden Affekt einzudämmen, auszubalancieren und auf diese Weise zu regulieren. Zusätzlich entwickelt sich daraus die Möglichkeit einer Reflexion über sich selbst und den Anderen als  getrennte Person mit eigenen Gedanken, Gefühlen und Absichten (Mentalisierung, „theory of mind“). Für den Säugling ist weiterhin bedeutsam, dass er sich als wirksam handelnd empfindet.

Beim Vergleich dieses Konzepts mit dem Dialogmodell zeigen sich Unterschiede. Die Rückwirkung auf den Erwachsenen wird nicht thematisiert. Wie bereits angedeutet, verändert sich in diesem Wechselspiel auch der Erwachsene. Er wird nicht ohnmächtig und aggressiv, sondern fühlt sich handlungsfähig, wenn er das Kind beruhigen kann.

Diese Erfahrung macht es ihm möglich, die eigene „Mentalisierung“ zu nutzen, um über das Kind zu reflektieren, unterschiedliche Möglichkeiten der Verhaltensinterpretation durchzuspielen und auf diese Weise die Beziehung zum Kind und damit den eigenen Handlungsspielraum zu verändern. Darüber hinaus enthält das Konzept von Fonagy et al. 2004 (wie auch Fonagy & Target 2002) Unstimmigkeiten, die durch ein dialogisches Verständnis überbrückt werden könnten. Die Autoren gehen beim Säugling lediglich von „angeborenen Automatismen von Basisemotionen“ aus (Fonagy & Target 2002, 848). Gleichzeitig betonen sie, dass der „Als-ob“-Modus der Kommunikation sich erst im Verlaufe des zweiten Lebensjahres allmählich entwickelt. Wie geht es dem jungen Säugling beim „pretended play“? Werden neben den gespielten auch ungewollt die authentischen Gefühle des Erwachsenen vermittelt? Bestünde bei diesem „pretended play“ mit dem Säugling nicht die Gefahr, dass dieser in seiner Wahrnehmung die authentischen Gefühle mit den gespielten vermischt und dadurch jenes „Irrewerden“ an der Verlässlichkeit einer Person sich entwickelt, von dem Ferenczy (zitiert nach Milch 2003, 280) in seinem klinischen Tagebuch von 1932 sagt: „Irrewerden ist: sich geirrt haben; es wurde einem mit Benehmen und Rede eine bestimmte Gefühlsbeziehung ‘vorgespielt’“? Im Gegensatz zur Still-face-Situation bei einer unerreichbar in die Depression zurückgezogenen Mutter, die den Säugling mit dem Gefühl eigener Ohnmacht konfrontiert, macht er hier die Erfahrung, als Ergebnis seiner Initiative etwas bewirkt zu haben, das ihn verwirrt, ihn „irre“ machen kann. Um sich davor zu schützen, versuchen Säuglinge in solchen Situationen, durch „Rückfrage“ eine neue Orientierung zu finden.

Stern (1992) beschreibt bei seiner Untersuchung zur Affektabstimmung (affect attunement) folgende Szene: „Als die Mutter auf unseren Wunsch die Tonhöhen-Kontur, das Zeit- und Betonungsmuster ihrer Standard-Äußerung  - verglichen mit der erkennbaren Erregung des Kindes  - über- oder untertrieb, bemerkte der Junge es und schaute sie an, als ob er auf eine weitere Erklärung warte.“ (S. 216-217).

Affektabstimmung im Sinne von Stern kann als Element des Dialogs verstanden werden. Sie ist durch bewusste Kontrolle eher zu stören als zu fördern. Die dabei benutzten Kommunikationskanäle sind noch im Erwachsenenalter weitaus vielfältiger als die über Sinnesorgane definierten und nur teilweise der bewussten Kontrolle verfügbar. Wir sprechen vom „sechsten Sinn“ -  woher weiß ich, welches Auto vor mir ausscheren wird? Von Bedeutung ist auch die Frage, ab wann von dialogischer Kommunikation gesprochen und damit eine Erfahrung gebildet werden kann, die auf spätere Erfahrungen einwirkt und sich von diesen wiederum modifizieren lässt. Vieles spricht dafür, dass diese Kommunikation nicht erst zu einem Zeitpunkt X beginnt (etwa bei der Geburt), sondern schon von Anfang an zur Entwicklung des Menschen gehört. Die Bewertung der hierzu verfügbaren Befunde ist schwierig und bleibt eine Frage der Interpretation  - doch auch die Modelle der Säuglingsforscher beruhen letztlich auf der Interpretation von Beobachtungen. Die heutige Vorstellung eines von Geburt an sozial kompetenten Säuglings setzt erst recht die Annahme einer darauf vorbereitenden Entwicklung voraus. Vor der Geburt ist die Mutter immer anwesend  - das Kind kann also kaum als monadisch abgekapselt und erst nach der Geburt Kontakt aufnehmend vorgestellt werden. Auch Fonagy et al. (2004) nehmen auf die Untersuchungen von DeCasper & Fifer (1980) Bezug, wonach sich bereits Föten an die Stimme der Mutter habituieren und diese nach der Geburt wiedererkennen. Das Neugeborene dürfte daher nicht nur über „angeborene Automatismen von Basisemotionen“ verfügen, sondern über Erfahrungen mit dialogischen Strukturen (von Lüpke 2003a). Milani Comparetti geht davon aus, dass es schon pränatal einen dialogischen Austausch zwischen Mutter und Kind geben muss. So schwer dieser methodisch zugänglich ist, so deutlich sind doch manche Hinweise in diese Richtung: so das Alternieren zwischen maximaler Bewegungsaktivität des Fötus und REM-Schlaf der Mutter (Sterman & Hoppenbrouwers 1971). Auch die jeder Schwangeren geläufige Wechselseitigkeit von Kindsbewegungen und „Antworten“ über die Hand der Mutter (oder des Vaters) kann als Dialog verstanden werden. Ohne solche vorangehenden Erfahrungen wäre auch kaum vorstellbar, was von Klitzing (2002) zu seinen Untersuchungen über frühe Triangulierung abschließend feststellt: “Die Ergebnisse unserer Studien unterstützen weitgehend die psychoanalytischen Konzepte, in denen psychische Entwicklungen von Kindern von Anbeginn an als Triangulierungsprozesse verstanden werden“ (S.880). Er distanziert sich von der Bindungsforschung und erweitert das Dialog - Konzept, indem er fortfährt: „ Im Gegensatz zu Fonagy & Target sehen wir die Bildung mentalisierender Prozesse im Kind nicht nur als Konsequenz der Bindungssicherheit und Erfahrung mütterlicher Sensitivität an. In der psychoanalytischen Denkweise entwickeln sich Objekt-Repräsentanzen nicht einfach nur infolge der dauernden und Bedürfnisse befriedigenden Anwesenheit eines sensitiven, nährenden mütterlichen Objekts. Vielmehr ist der Wechsel zwischen An- und Abwesenheit, zwischen Bedürfnisbefriedigung und Frustration das eigentliche Agens, das die Präkonzeption von inneren Objekten sich zu inneren Konzepten entfalten lässt. Die Beziehungssituation in einer von den Eltern lebendig gelebten Triade scheint uns für die Entwicklung besonders stimulierend zu sein, weil das Kind in der triadischen Beziehung nicht nur die Abwesenheit der Beziehungsperson, sondern auch die Abwesenheit in der Anwesenheit eines anderen Dritten erlebt. Das Erleben von Unterschieden zwischen den wichtigen Beziehungspersonen, Unterschieden in ihren Interaktionsstilen, ihrem Umgang mit den Bedürfnissen des Kindes etc., führen dazu, dass das Kind sich nicht einfach nur im Gegenüber spiegelt, sondern im Umgang mit den unterschiedlichen Beziehungspersonen sich selber findet“. Mit Hinweis auf Väter, die „manchmal auch disruptive Spielelemente einbrachten“ fährt von Klitzing fort: „Das Hin und Her zwischen verschiedenen Spielstilen, solange die Eltern untereinander nicht in Rivalität und aggressiven Ausschlusstendenzen fixiert waren, führte oft zu einer lebendigen und kreativen Antwort des Kindes. Dass viele Kinder immer wieder fasziniert von einem zum anderen Elternteil schauten, ließ uns vermuten, dass gerade die Unterschiede der Beziehungsangebote von Vater und Mutter das Kind in seiner reflexiven Funktion förderte“ (S.883/884). Der Bezug zum Konzept der "now moments" von Stern et al. (2002) bietet sich an: auch hier geht es um die entwicklungsfördernde Bedeutung einer vorübergehenden Störung, diesmal im therapeutischen Prozess.

Diese Vorstellung führt zurück zu Milani Comparetti und variiert den Aspekt der Differenz um den der Störung. Dies trifft sich mit jenen Vorstellungen in der Säuglingsforschung, die im Verlieren und Sich-wieder-finden, im „loss and repair“ oder „interactive repair“ nicht nur tolerierbare Frustrationen, sondern einen Anreiz für Entwicklung sehen. Schließlich zeigen von Klitzings Resultate, dass dialogische Strukturen nicht auf die Dyade beschränkt bleiben - was nach dem Spiralenmodell angenommen werden könnte   - , sondern dass in der komplexeren Struktur der Triade die wesentlichen Elemente des Dialogmodells sogar deutlicher hervortreten: der konstruktive Aspekt der Differenz auch bei unzureichender Befriedigung von Bedürfnissen („Fehler“) unter der Voraussetzung, dass dies von den Beteiligten wahrgenommen, benannt oder auf anderen Wegen im Dialog thematisiert wird. Darüber hinaus müssen Fehler nicht ängstlich vermieden werden, wenn ihnen eine Funktion in der wechselseitigen Abstimmung zugestanden wird. Es bedarf keiner Übertreibung mit dem Risiko des „Irrewerdens“, eher eines authentischen Verhaltens  - der „lebendig gelebten Triade“ bei von Klitzing. Untersuchungen von Fonagy & Target (2002) über Mütter und ihre Fähigkeit, ein 6 Monate altes Kind rasch zu beruhigen, könnten in diesem Sinne verstanden werden: „Die Mütter jener Kinder, die schnell beruhigt werden konnten, zeigten etwas mehr Angst, etwas weniger Freude, aber in der Regel gleichzeitig ein ganzes Spektrum anderer Affekte als Angst und Trauer.

Durchschnittlich zeigten sie weit mehr verschiedene affektive Verfassungen, z.B. auch komplexe Affekte, in denen Ironie und Trauer oder Furcht und Skeptizismus kombiniert waren“(S.854). Die Komplexität der Affekte entspricht vermutlich deren Authentizität.

Natürlich sprechen Eltern mit ihren Säuglingen in erhöhter Stimmlage und mit übertriebener Mimik (jenen aufgerissenen Augen des Vaters in den frühen Arbeiten der Papouseks), aber sie tun es spontan, authentisch (als Teil des „intuitiven Elternverhaltens“) und nicht als bewusstes „Als-ob“. Auch ist dies im Verlauf des Alltags nicht die Normalität. Hier dürfte der Unterschied zwischen Untersuchungen im Labor und der häuslichen Situationen methodisch von Bedeutung sein. Interessant ist auch der Hinweis auf Anteile von Skeptizismus und Ironie. In reiner Ausprägung sind diese Affektäußerungen mit dem Säugling vermutlich nicht kommunizierbar, in der beschriebenen Kombination mit Trauer oder Furcht können sie in einem bestimmten Augenblick die jeweils authentische Mischung darstellen. Damit wird der Unterschied zu den Affekten des Säuglings deutlich. Es besteht daher kein Anlass zur bewussten Übertreibung, um den Säugling vor einer Verwechslung zwischen eigenen und fremden Gefühlen zu schützen. Voraussetzung ist jedoch, dass der Erwachsene mit seinen Gefühlen anders umgeht als der Säugling und Möglichkeiten einer Balance, einer Affektkontrolle entwickelt hat. Damit kann er den Gefühlen des Säuglings jenes „Containing“ bieten, von dem Bion spricht. Authentizität allein genügt nicht. Kann ein Erwachsener seine Gefühle genau so wenig balancieren wie der Säugling, so verstärkt er diese - auch dessen Angst. Darüber hinaus kann der Säugling über die Zuordnung eines Gefühls nun wirklich in Verwirrung geraten: welches ist sein eigens, welches das des Erwachsenen? Fonagy et al. (2004) sehen in dieser Konstellation ein Risiko zur Entwicklung von Borderline - Strukturen.

Damit sollen Bindungsforschung und Dialogkonzept nicht als Gegensätze, eher als „Kontrapunkte“ behandelt werden. Die enge Beziehung zwischen beiden Modellen zeigen Untersuchungen von Beebe et al., die Brisch (2003) mit dem Hinweis zitiert, „dass eine feine dialogische Abstimmung, die durchaus nicht perfekt sein muss, sondern auch Missverständnisse erkennt und korrigiert, am wahrscheinlichsten zu einer sicheren Bindung des Säuglings beiträgt. Dagegen korreliert ein übermäßig synchroner Dialog ... eher mit einer unsicher ambivalenten Bindung“ (S. 54). Für die Praxis im Umgang mit Eltern und Professionellen in der Entwicklungsförderung könnte das hier diskutierte Dialogmodell die Chance bieten, durch seine Ermutigung zu Fehlern den mit uneingeschränkter Forderung nach Feinfühligkeit und richtigem Handeln verbundenen Druck zu mindern.

Entscheidend ist letztlich die Affektabstimmung, jenes „affect attunement“, das die Bedeutung der jeweiligen Handlung bestimmt. So kann auch mit einem 10 Monate alten Säugling ein symbolisches Spiel gelingen und mit einem Dreijährigen scheitern, wenn dieser eine Spiegelung als Nachäffen empfindet. Jede Abstimmung bedarf einer Vorverständigung, die ein strukturiertes, zur Kommunikation fähiges Es voraussetzt, das nicht - wie bei Anna Freud  - bis zur „Zähmung“ durch das Ich als wild um sich schlagender Orang-Utan vorzustellen ist. Eine solche Strukturierung könnte das Ergebnis der bereits vorgeburtlich beginnenden Dialogerfahrungen sein. Es entstünde dabei jenes „implicit knowing“, dem Stern et al. (2002) auch im therapeutischen Prozess eine entscheidende Rolle zuschreiben und das nicht durch Verdrängung unbewusst wird, sondern seiner Struktur nach garnicht bewusst werden kann  - eine Variante zum "Geheimnis" bei Milani Comparetti.

Das Konzept eines nicht bewusstseinsfähigen, aber Entscheidungen und daraus resultierende Handlungen maßgeblich steuernden Unbewussten findet seine Entsprechung in neueren Konzepten der Säuglingsforschung. So geht Lyons-Ruth (1999) davon aus, dass „Entwicklung nicht allein oder ursprünglich durch eine Bewegung von prozeduralem zu symbolischem Codieren (oder vom Primär- zum Sekundärprozess oder von präverbalen zu verbalen Formen des Denkens) fortschreitet. Prozedurale Formen der Repräsentation sind nicht infantil, sondern in jedem Alter ein Bestandteil menschlichen Denkens (intrinsic to human thinking) und bilden die Grundlage für zahlreiche Formen von erlernten Handlungsweisen, einschließlich sozialer Interaktion“ (S. 579). Die Vorstellung, dass auch wesentliche Entscheidungsprozesse auf der unbewussten Ebene bereits stattgefunden haben, bevor sie als solche wahrgenommen werden, findet sich in der Hirnforschung (Roth 2001) und hat zu einer Debatte über die Willensfreiheit geführt.

Philosophen sehen moralische Grundwerte in Gefahr, wenn menschlicher Wille neurobiologisch vorprogrammiert sein soll und Roth den bewussten (kortikalen) Anteilen nur noch die Funktion eines Regierungssprechers zuschreibt, „der Dinge interpretieren und legitimieren muss, deren Gründe und Hintergründe er gar nicht kennt“ (ebd. S. 370). Werden jedoch auch die unbewussten Prozesse als Teil des Selbst und über Dialogerfahrungen vorstrukturiert verstanden, so erübrigt sich diese Debatte: die unbewusst getroffenen Vorentscheidungen wären dann nicht weniger das Ergebnis einer Auseinandersetzung der Persönlichkeit mit ihrer Umwelt als die bewussten. Die strukturierende Funktion von frühen Dialogerfahrungen erhielte damit einen hohen Stellenwert. Nach Roth (2001) kann sogar die Sprache nur dann zur Kommunikation zwischen Partnern dienen, „wenn diese sich aufgrund interner Prozesse der Bedeutungserzeugung oder der nichtsprachlichen Kommunikation mit uns bereits in einem konsensuellen Zustand befinden“ (S. 452-453).

Bei Roth (1999) finden sich noch weitere Bilder, die den intersubjektiven Spielraum illustrieren, ohne ausdrücklich auf ein Dialogkonzept Bezug zu nehmen. Wahrnehmungen sind für ihn kein Abbild der Umwelt, sondern werden als "Hypothesen über die Umwelt" verstanden. Interindividuelle Wahrnehmung wie auch die intraindividuelle Reflexion darüber sind das Ergebnis einer Konstruktion von Bedeutung auf der Basis von Erinnerungen und deren Bewertung  - ohne die Beteiligung einer als real klassifizierbaren Instanz. Für das Dialogkonzept erscheint die Vorstellung von der Wahrnehmung als Hypothese besonders hilfreich, da sie jene Beweglichkeit schafft, die der Spirale von Milani Comparetti die Öffnung nach oben und damit ihre kreative Dimension ermöglicht.

Es kommt nicht darauf an, dass die Partner reales benennen und den anderen „richtig“ verstehen, sondern darauf, dass sie offen sind für die wechselseitige Modifikation (die Modulation) ihrer Vorstellungen. Dies hat zur Voraussetzung, dass sie die eigenen Bilder lediglich als Ausdruck der eigenen Überzeugung und nicht als allgemeingültige „Wahrheiten“ behandeln. Auch im psychotherapeutischen Dialog enthält dann jede Deutung zugleich eine Frage, ein sokratisches Nicht-Wissen. Auf der anderen Seite wäre die Verständigung durch „Hypothesen über die Umwelt“ ohne eine dialogische Struktur kaum vorstellbar.

Die Öffnung als Ausdruck der kreativen Kompetenz führt zum „potential space“ von Winnicott (1974). Für Winnicott bedeutet dies eine Erweiterung seines früheren Konzepts vom intermediären Raum als Ort der Übergangsphänomene. Wittenberger (2000) betont die Unübersetzbarkeit des Begriffs: „In ‚potential’ ist sowohl die Möglichkeit als auch die Kraft (Potenz) enthalten, die der Raum bietet“ (S. 402). Ermann als Übersetzer der deutschen Ausgabe benutzt „je nach Zusammenhang“ die Begriffe „Spannungsbereich“ und „potentieller Raum“ (Winnicott 1974, 116). Der „potential space“ ist für Winnicott „ein Raum, der zu einem unbegrenzten Bereich der Trennung werden kann, den das Kleinkind, das Kind, der Jugendliche und Erwachsene kreativ mit Spiel erfüllen kann, aus dem sich später die Freude am kulturellen Erbe entwickelt“ (ebd. S. 125). Damit erweitert sich der „Spiel - Raum“ bis zur kulturellen Dimension, die hier (im Gegensatz zu Freud) nicht als Ergebnis einer Sublimation verdrängter Triebinhalte, sondern als Ausdruck lustvoller Kreativität verstanden wird. Sie entwickelt sich aus Erweiterungen des Spiels mit den Möglichkeiten der Symbolik sowie spielerischer Übertreibung und damit - anders als im Säuglingsalter - vielfältigen Varianten für ein „pretended play“. Missverständnisse, Fehler, aber auch Kritik, Aggressionen und Angst können gestaltet und ohne Gefahr kommunizierbar werden.

In der Darstellung von Davies & Wallbridge (1983) zeigt sich die Nachbarschaft zum Dialog-Modell, wenn diese von der Rolle des „potential space“ für die Entwicklung von „persönlichen Beziehungen zwischen getrennten Individuen“ sprechen: „Kommunikation findet dort statt, wo sich die potentiellen Räume überschneiden: Diese Überschneidung ist die gemeinsame Grundlage zärtlicher Beziehungen, bei denen Triebspannung nicht die Hauptrolle spielt, Beziehungen, die durch die Erfahrung der mütterlichen Beziehung zum eigenen Ich in der frühen Kindheit ermöglicht werden. Hier entsteht Kommunikation durch ‚Gegenseitigkeit der Erfahrung’ oder durch die Überschneidung potentieller Räume, und zwischenmenschliche Beziehungen ‚können einen Reichtum und eine Leichtigkeit aufweisen, die jene flexible Stabilität mit sich bringt, die wir Gesundheit nennen’ (Winnicott 1971)“ (S. 106).

Winnicotts sieht diesen Prozess jedoch nicht von Beginn an dialogisch. Er geht noch von einer Phase der „völligen Verschmelzung mit der Mutter“ aus (Winnicott 1974, 124). Die allmähliche Trennung ist das Werk der Mutter: sie „passt sich an die Bedürfnisse ihres Kindes an, das allmählich Persönlichkeit und Charakter entwickelt; diese Anpassung gibt ihr ein bestimmtes Maß an Verlässlichkeit“ (ebd. S. 126). Durch die Trennung entwickelt sich der „potential space“, der - wie oben bereits erwähnt - „mit kreativem Spiel, mit Symbolen und dem, was allmählich das kulturelle Erbe ausmacht, erfüllt ist“(ebd. S. 127) und damit nie zur völligen Trennung führt. Winnicott benennt einen „Widerspruch“, der „hingenommen werden“ muss, wenn er die Frage stellt: „Wie soll sich Trennung vollziehen, wenn Trennung unmöglich ist ?“ (ebd. S. 125). Die Vorstellung von einer Mutter, die durch ihre Anpassung an die Bedürfnisse des Kindes diesem das Gefühl von Verlässlichkeit gibt, erinnert an die feinfühlige, sichere Bindung schaffende Mutter der Bindungsforscher. Der Aspekt einer Vertrauen bildenden Verlässlichkeit verweist noch einmal auf die Gefahr des „Irrewerdens“ durch verwirrende Botschaften.

Mit dem Hinweis auf einen unauflösbaren Widerspruch benennt Winnicott die verborgene Dialektik des Dialogs. Sie findet ihren Ausdruck im Modell vom gemeinsamen Dritten. Es ist Teil eines jeden Partners, verbindet diesen jedoch gleichzeitig mit dem anderen und veranlasst ihn zu einem Verhalten, das über die Orientierung an den eigenen Bedürfnissen hinausgeht. Benjamin (2002) vergleicht die Betreuung des Säuglings mit einem Dialog und in ihrer Notwendigkeit der Abstimmung „eines jeden mit dem anderen und mit tieferen Strukturen“(S. 49) mit der Struktur von Musik. Sie betont dabei die „Mühelosigkeit“ (effortless) dieses Prozesses: „(Das System) hat die Qualität von etwas Vorgegebenem, obwohl man daran teilnimmt, es zu erschaffen  - eine Übergangsqualität (transitional quality), in der keine Aussage darüber möglich ist, ob es gemacht oder gefunden wurde“ (S.48). Hier geht es also nicht um etwas Drittes im Sinne eines äußeren Objekts (wie etwa bei Sterns (1998) gemeinsam von Kind und Mutter beobachtetem LKW und dessen Benennung), sondern um die Gemeinsamkeit einer Struktur, die analog zum Rhythmus oder anderen Elementen der Musik zugleich vorgegeben ist und in jedem Augenblick von den Beteiligten neu geschaffen wird. Auch die dialogische Struktur könnte also in diesem Sinne als „Drittes“ beschrieben werden: als die dialektische Aufhebung von Handeln und Reagieren (analog zu Winnicotts Vereint- und Getrenntsein), oder - wieder mit Benjamins Worten: „Ein Gefühl von Handeln, aber zugleich auch ein Gefühl von Fließen oder Freiheit jenseits von Handeln“. Mit der Dialektik von Handeln und Reagieren im Dialog wird die weiter reichende Dialektik von Identität berührt: gerade die Wahrnehmung und bestätigende Wertschätzung durch andere lässt eigenes Handeln und Fühlen erst als eigenes empfinden und verbindet es mit dem Gefühl von Identität.

Der Dialog als Modell für die Vielzahl von Wahlmöglichkeiten führt zu einem weiteren Konzept der Hirnforschung: der Theorie der Selektion neuronaler Gruppen (Edelman & Tononi 2004). Das von der Entwicklung der Immunität abgeleitete Konzept geht davon aus, dass auch im Gehirn zunächst ein vielfältiges Repertoire an Schaltkreisen entsteht („Entwicklungsselektion“), das im Laufe der Entwicklung durch Umwelteinflüsse teils verstärkt und weiterentwickelt sowie in anderen Bereichen bis zum Zelluntergang abgebaut wird („Erfahrungsselektion“). Schließlich ist die Vielfalt reziproker Verknüpfungen in und zwischen einzelnen Hirnkarten von Bedeutung für die zeitliche und räumliche Koordination von Hirnaktivitäten - ebenfalls unter dem Aspekt der ständigen Veränderbarkeit aller zellulären Strukturen und Verknüpfungen unter den jeweiligen Umweltbedingungen („Reentry“). Edelman & Tononi weisen diesem „Reentry“ besondere Bedeutung für spezifisch menschliche Entwicklungsmöglichkeiten zu und betonen den Unterschied zur Rückkopplung mit dem Hinweis, dass beim Reentry  - im Gegensatz zur „fest verkabelten Schleife“ der Rückkopplung  -  „multiple parallel geschaltete Wege“ bestehen, „bei denen keine Information vorgegeben ist“ (ebd. S. 118). Der Vergleich mit der über Stimulus und Respons festgelegten Reflexschleife und ihrer Gegenüberstellung zur offenen Bewegung in der Dialog-Spirale bietet sich an.

Im Kontext der bisherigen Darstellung ergibt sich die Frage, ob die Unterscheidung zwischen einer rein biologisch bestimmten Entwicklungsselektion und einer Erfahrungsselektion weiterhin sinnvoll erscheint, wenn Erfahrungen über den pränatalen Dialog bereits in den frühesten Entwicklungsphasen für die Hirnentwicklung wirksam werden - eine zeitliche Vorstellung, die sich auch bei Hüther in diesem Band wiederfindet. Sein Beitrag zeigt darüber hinaus, dass auch genetische Informationen erst über Umwelteinflüsse in der Hirnentwicklung wirksam werden. Für das Dialogmodell bedeutsam erscheint vor allem das Konzept des „Reentry“ als Bild für die Möglichkeit einer Korrespondenz zwischen unterschiedlichen Modalitäten, wie sie in der Säuglingsforschung als anfangs amodale (ganzheitliche) und später  - mit zunehmender Reflexionsfähigkeit  - als trans- oder kreuzmodale Wahrnehmung thematisiert werden. Nur durch den wechselseitigen Bezug zwischen optischer, akustischer, taktiler, vestibulärer und olfaktorischer Wahrnehmung sowie denen des „sechsten Sinnes“ ist ein kohärentes Empfinden des eigenen Selbst und der Umwelt möglich. Edelman & Tononi (2004)  nennen als Beispiele die Verknüpfung von Farb- und Bewegungswahrnehmung als Voraussetzung zur Gestalterkennung (S. 118-119). Die transmodale Wahrnehmung stellt damit eine Grundlage für Lernprozesse sowie für Gedächtnisleistungen im Sinne des Episodengedächtnisses (Stern 1992) dar. Möglicherweise spielen transmodale Verschiebungen auch bei der Kontinuität zwischen pränataler Erfahrung und dem Erleben nach der Geburt eine Rolle: etwa dann, wenn manche Kinder unmittelbar nach der Geburt konzentriert das Gesicht der Mutter betrachten, als ob sie es schon lange kennen. Mit der Möglichkeit, dass vorangegange, auf dem jeweils verfügbaren Enwicklungsstand gemachte Erfahrungen transmodal weitergeleitet werden können, relativiert sich auch die Frage, wann ein Kind welche Erfahrungen gemacht haben kann. Die Bedeutung transmodaler Phänomene für dialogische Strukturen wird bei Beobachtungen von Mutter- Kind-Interaktionen deutlich, wie sie Stern (1992) im Kontext der wechselseitigen Abstimmung (affect attunement) beschreibt: „Die Mehrzahl der Abstimmungen erfolgt transmodal. Wenn der Säugling sich stimmlich äußerte, war die Abstimmung der Mutter in der Regel gestischer oder mimischer Art. Umgekehrt galt das gleiche“(S. 211). Stern kommt zu dem Ergebnis, dass bei seinen Beobachtungen 87% zumindest teilweise transmodaler Art waren. Der bereits erwähnte Wechsel zwischen dem Bewegungsmaximum des Fötus und REM-Phasen der Mutter könnten ebenfalls als transmodale Korrespondenz verstanden werden.

Für die Entwicklung dürfte in diesem Zusammenhang von Bedeutung sein, dass hier jene modifizierte Spiegelung stattfindet, die dem Kind das Erleben seiner selbst (seiner Gefühle) ohne Verwirrung über die jeweilige Zugehörigkeit zur einen oder anderen Person bestätigt. Spiele mit Kindern wie „Kommt ein Mann die Treppe hoch...“ oder „Hoppe hoppe Reiter...“ leben von der Korrespondenz zwischen gemeinsam gespürter Bewegung, Sprache, Melodie und einem (immer wieder leicht variierten!) Rhythmus. Stern verweist in diesem Zusammenhang auf jenes Gesellschaftsspiel, bei dem Personen durch Ähnlichkeiten mit Gegenständen, Getränken, Gerüchen etc. geraten werden sollen. Auch der kulturelle Bereich wird von transmodalen Phänomenen bestimmt, etwa in Kunstformen wie Tanz, Oper, Film. Sie finden sich in der Lyrik  - „Les parfums, les couleurs et les sons se répondent“ - „Die Gerüche, die Farben und die Töne antworten sich“ (Baudelaire 1861) - und bilden ein konstituierendes Element der Musik. Hier sind es die ständig neuen Variationen im Zusammenspiel von Melodie, Rhythmus, Klangfarbe. All diese Phänome finden sich gleichermaßen als Spiel und Kreativität mit „Freude am kulturellen Erbe“ in Winnicotts „potential space“ und in dialogischen Strukturen. Wie im Zusammenspiel von Säugling und Erwachsenem bewirkt auch hier die transmodal variierte Anwort (der „Gegenvorschlag“ im Sinne von Milani Comparetti) eine bestätigende Verstärkung der anfänglichen Mitteilung (des „Vorschlags“). Dabei geht es nicht um Übereinstimmung, sondern um Zustimmung zur Andersartigkeit.

Nach allem, was bisher über den Dialog gesagt wurde, stellt sich nun die Frage nach dessen Grenze. Hass und Kämpfe schließen ihn nicht aus. Selbst bei zeitweiliger Abwesenheit eines Partners kann er über dessen verinnerlichte Repräsentanz fortgeführt werden. Als entscheidender Aspekt erscheint nach dem bisher Dargestellten  - je nach der verwendeten Metapher - ein Verlust der Aufwärtsbewegung und Öffnung der Spirale, des „potential space“ oder eines gemeinsamen „Dritten“, der „Hypothesen“, des „Reentry“ mit der Entwicklung transmodaler Verbindungen.

Ohne diesen „Spielraum“ sind die Wahrnehmungen vom Anderen und alle daraus resultierenden Bilder und Handlungen unkorrigierbar festgelegt und durch diesen nicht beeinflussbar. Statt „Hypothesen über die Umwelt“ geht es um „Wahrheiten“ und daraus resultierende feste Erwartungen ohne Möglichkeiten der Einflussnahme des Partners, der Modulationen und damit der Entwicklung. Hier ist der Dialog entgleist. Schon Spitz (1976) hat vom entgleisten Dialog gesprochen, wenn Mütter durch überbehütendes Verhalten dem Kind keine Chance zur Wirksamkeit eigener Botschaften und Initiativen lassen.

Entwickeln kann sich daraus entweder ein von Umweltbezügen (zumindest scheinbar) abgekoppeltes Verhalten wie bei autistischen Stereotypien oder die aus der Borderline- Struktur bekannte Wut als Resultat der enttäuschten Erwartung, dass der andere sich nicht zugleich wunschgemäß und spontan verhält. Hier liegt ein Gewaltpotential, das in privaten Beziehungen wie im religiösen und politischen Fundamentalismus zur Wirkung kommen kann. Dahinter steht die Angst, im offenen Spiel des Dialogs nicht genügend Sicherheit zu finden und diese in festen Bildern oder aggressiven Aktionen zu suchen  - eine Angst, bei der frühe Erfahrungen von einem Mangel an wechselseitiger Abstimmung und damit an dialogischen Strukturen vermutet werden können. Neben den erwähnten Stereotypien lassen sich Wahngewissheit und Halluzinationen in diesem Sinne verstehen. Milch (2003) weist darauf hin, dass länger bestehende Halluzinationen zu "wiederkehrenden stabilisierenden Erfahrungen" (S. 281) werden können, nach denen der Patient trotz möglicher quälender Eigenschaften ein großes Bedürfnis verspürt. Der Dialog kann aber auch vorübergehend während einer Krise entgleisen, wenn die ganze Welt als feindlich empfunden und die Fliege an der Wand zum Schuldigen wird. Damit stellt sich  die Frage nach Voraussetzungen, zeitlichem Verlauf und Korrekturmöglichkeiten eines solchen Entgleisens. Dies soll abschließend mit einigen skizzenhaften Hinweisen am Beispiel der AD(H)S-Problematik diskutiert werden.

Auch das von sozialer Wechselseitigkeit abgekoppelte und durch hyperaktive Selbstbestätigung charakterisierte Verhalten vieler Kinder mit der Diagnose „AD(H)S“ kann als Hinweis auf einen entgleisten Dialog verstanden werden. Hyperaktivität wäre ein verzweifelter Versuch, den Stillstand nach dem Entgleisen durch Bewegung aufzuheben. Vermehrtes und schwer beeinflussbares Schreien in der Säuglingszeit als Ausdruck von Dialogproblemen scheinen frühe Warnhinweise auf das Risiko für ein späteres „AD(H)S“ zu sein (Papousek 2000, Wolke 2002). Prospektive Studien (Carlson et al. 1995, Sroufe 1997) haben bei Überprüfung von 40 auf das Kind bezogenen Untersuchungskriterien ergeben, dass allein die Beobachtung der Eltern-Kind-Interaktion beim 6 Monate alten Säugling verlässliche Vorhersagen für das Risiko eines AD(H)S ermöglicht. Die entscheidenden Kriterien waren dabei ein überstimulierendes und eindringendes (intrusive)Verhalten bei den Eltern (vgl. Spitz: überbehütendes Elternverhalten !) sowie Beziehungsprobleme und mangelnde Unterstützung der Eltern (der alleinstehenden Mutter). Die Bedeutung dieser Faktoren zeigte sich auch daran, dass Unterstützung der

Eltern und Verbesserung der Beziehungssituation zugleich die sicherste Vorhersage für eine Veränderung der Problematik beim Kind darstellten (Sroufe 1997). Eine Diskussion dieser Zusammenhänge wird jedoch oft durch die dabei ausgelöste Schuldproblematik erschwert (von Lüpke 2003b).

Hinweise auf eine Dialog-Problematik ergeben sich auch aus Psychotherapie-Erfahrungen mit Kindern und Jugendlichen. „Die Überschreitungen im Sozialverhalten zeigen den fehlenden Raum zwischen Subjekt und Objekt, die Patienten scheinen gleichsam ihre Umwelt als ihrem Ich zugehörig zu erleben“ (Staufenberg et al. 2004, 24). Wieder geht der entgleiste Dialog mit einem Mangel an „Spielraum“, an Bezug auf das „Dritte“ einher. Die eingangs geschilderte Affekt-Kontrolle über eine Internalisierung der modifizierten Spiegelung durch den Erwachsenen ist unzureichend. „Die Kontrollverluste verweisen auf den unzulänglichen inneren Raum, der den Patienten erlauben würde, ihre Gefühle zu ertragen und zu verarbeiten und sich entsprechend in Beziehungen zu verhalten“ (ebd. S. 24). Der Mangel an Wechselseitigkeit führt zu den bekannten eskalierenden Konflikten.

Die besondere Chance des Dialogkonzepts zeigt sich nicht nur im Hinblick auf prophylaktische Möglichkeiten für eine Verbesserung der Dialogstrukturen bei schwierigen Konstellationen in der frühen Kindheit, sondern auch auf den Umgang mit der späteren Problematik. Die konsequente Entwicklung eines dialogischen Zusammenspiels könnte de-eskalierend wirken, etwa durch die Schaffung eines Spielraums (potential space), in dem provozierendes Verhalten nicht auf verurteilende, bereits erwartete Sanktionen auslösende Gegenmaßnahmen trifft, sondern auf das Angebot zu einem Spiel, das den „Vorschlag“ auch einmal mit einem übertriebenen (unter Umständen paradox absurden) „Gegenvorschlag“ beantwortet. Möglichkeiten dazu wurden u.a. im Rahmen psychomotorischer Praxis (auch an Schulen!) entwickelt (Passolt 2003, Köckenberger 2001).

Nicht nur beim AD(H)S spiegelt sich die Problematik der Störung auch in der Diskussion der Fachleute wider. Die Auseinandersetzung mit dem Dialogmodell könnte dazu beitragen, den fachlichen Austausch im „potential space“ mit Bildern aus Säuglingsforschung und Neurobiologie zu füllen und einen Stillstand durch Entgleisen zu verhindern. Diese unterschiedlichen Bilder würden dann in einer "transmodalen" Wechselwirkung dazu beitragen, konkurrierende Erklärungsmodelle durch wechselseitig sich ergänzende Perspektiven zu ersetzen.

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