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Neuenburg ist Ritalin-Spitzenreiter der Schweiz

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Wie viele Kinder und Jugendliche Ritalin brauchen, darüber streitet man in der Schweiz seit Jahren. Das Medikament könne schnell beachtliche Erfolge in der Therapie der Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, erzielen, sagen die Befürworter. Schwierige Kinder würden mit Ritalin «ruhiggestellt», so kritisieren die Gegner.

Wann eine medikamentöse Therapie von ADHS bei Kindern sinnvoll ist, ist eine vieldiskutierte Frage, und die Antwort darauf fällt von Kanton zu Kanton unterschiedlich aus.

Im Schnitt werden in der Schweiz 12 Tagesdosen ADHS-Medikamente auf 1000 Kinder und Jugendliche zwischen sechs und achtzehn Jahren abgegeben. Im Kanton Neuenburg sind es mit 30 Dosen mehr als doppelt so viele. Besonders gross ist der Unterschied zum Tessin: Dort sind es nur 3 Dosen.

In Neuenburg werden doppelt so viele ADHS-Medikamente an Kinder abgegeben wie im Rest der Schweiz

Anzahl durchschnittlicher Tagesdosen von ADHS-Medikamenten pro 1000 Kinder zwischen 6 und 18 Jahren

Die Grafik umfasst alle zur Behandlung von ADHS zugelassenen Medikamente. Da Kinder unter 6 Jahren nur in seltenen Ausnahmefällen Medikamente gegen ADHS bekommen, haben wir sie bei unserer Berechnung ausgeschlossen. Die Kantonsangabe bezieht sich auf den Wohnkanton des Patienten. Stand: 2021

Quelle: ObsanNZZ / wea.

Die Zahlen wurden von den Krankenkassen erhoben und im Versorgungsatlas des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) erstmals im April veröffentlicht.

Kantonsarzt sieht keinen Grund zur Beunruhigung

Dass in Neuenburg mehr ADHS-Medikamente verschrieben werden als im Rest der Schweiz, ist kein neues Phänomen. Die Daten des Obsan zeigen, dass eine ähnliche Verteilung bereits im Jahr 2015 vorlag.

Laut dem Neuenburger Kantonsarzt Laurent Kaufmann hat die kantonale Gesundheitsbehörde schon im Jahr 2000 eine Untersuchung angestellt, die klären sollte, weshalb in Neuenburg mehr Ritalin verschrieben wird als in anderen Kantonen. Die Untersuchung ergab, dass in den späten neunziger Jahren eine Gruppe von Kinderärzten in Neuenburg begonnen hatte, Behandlungen mit Ritalin durchzuführen und Eltern, Lehrer und andere Ärzte für das Thema ADHS zu sensibilisieren. Die gleiche Entwicklung gab es auch im Rest der Schweiz, jedoch mit ein paar Jahren Verspätung.

Diesen Vorsprung scheint Neuenburg seitdem noch ausgebaut zu haben. Aufgrund der in diesem Jahr veröffentlichten Daten hat das kantonale Gesundheitsamt erneut Kinderärzte befragt. «Wir denken, dass die Behandlung im Kanton korrekt erfolgt und der Realität angepasst ist», sagt Kaufmann. Die höhere Rate medikamentöser Behandlungen von ADHS sei auf eine bessere Detektion der Erkrankung und eine höhere Akzeptanz der Medikamente zurückzuführen. Anzeichen für eine missbräuchliche Verschreibungspraxis gebe es keine.

Medikamente sind nur ein Teil der Therapie

In den Gehirnen von ADHS-Patienten fehlt es am Botenstoff Dopamin, das hilft, wichtige von unwichtigen Eindrücken zu unterscheiden. Bei Menschen mit ADHS kommt es daher häufig zu einer Reizüberflutung, die es den Betroffenen erschwert, sich zu konzentrieren. Medikamente wie Ritalin gleichen den Dopaminmangel aus.

«Normalerweise ist die Behandlung einer Aufmerksamkeitsstörung multimodal», sagt der Zürcher Kinderarzt Roland Kägi, Vorstandsmitglied der Fachgesellschaft ADHS. Das heisst, es kommen mehrere Therapieformen gleichzeitig zum Einsatz: Ergo- oder Psychotherapie, Massnahmen in der Schule, Familienberatung – und häufig auch ein Medikament.

Dennoch dürfen ADHS-Medikamente nicht leichtfertig verschrieben werden. Häufig kommen gerade zu Beginn der Behandlung Nebenwirkungen wie Appetitlosigkeit und eine Gewichtsabnahme vor. Auch Kopfschmerzen und Probleme beim Einschlafen werden regelmässig beobachtet. Diese Nebenwirkungen sind bei neueren Medikamenten zum Teil seltener. Gemäss den Obsan-Daten kommt jedoch in 80 Prozent der ADHS-Fälle noch immer Ritalin zum Einsatz.

Für Kägi ist es zentral, dass einer Verschreibung eine sorgfältige Diagnose vorausgeht, die die Eltern, Lehrpersonen und das Kind selbst einbezieht. Das ist ein aufwendiger Prozess: lange Fragebögen, Intelligenz-, Merkfähigkeits- und Wahrnehmungstests und ausgiebige Gespräche. Doch das sei noch nicht überall gängige Praxis. «Ein Gespräch von zwanzig Minuten, dann geht man mit einer Schachtel mit hundert Ritalin-Tabletten aus der Praxis – das gibt es leider immer noch», sagt Kägi.

Ist es das, was in Neuenburg passiert? Spricht man mit Isabelle Brun, Kinderärztin in Neuenburg mit einer Spezialisierung auf ADHS, dann klingt das Vorgehen bei einer ADHS-Diagnose recht ähnlich wie die von Roland Kägi empfohlene Prozedur. Auch Brun beschreibt einen Therapieansatz, der auf vielen Ebenen ansetzt. Bei einer Diagnose leite sie zunächst Massnahmen in der Schule und im familiären Umfeld des Kindes ein. Nur wenn diese nach sechs Wochen keine zufriedenstellende Verbesserung brächten, verschreibe sie ein Medikament. Letztlich sei aber in 80 bis 90 Prozent der Fälle die Medikation ein wichtiger Pfeiler der Therapie.

Brun arbeitet am Centre inter- et multidisciplinaire pour les enfants et adolescents en souffrance scolaire (Cimess). Das Zentrum verfolgt einen ungewöhnlichen Ansatz: Hier kommen Kinderärzte, Psychologen, Ergo- und Psychotherapeuten zusammen, um Kinder mit Lernschwierigkeiten aller Art auf verschiedenen Ebenen zu betreuen.

«Ritalin statt Prügelstrafe»

Ob ein Kind mit ADHS Medikamente braucht oder nicht, hängt häufig von seiner schulischen Situation ab. Sowohl Brun als auch Kägi berichten, dass viele Kinder gerade in stressigen Phasen und bei erhöhtem Druck auf Medikamente angewiesen sind. An Wochenenden oder in den Ferien pausieren viele das Medikament.

Pascal Rudin, Soziologe und Mitglied der Expertengruppe ADHS des Bundesamts für Gesundheit, sieht den Hauptgrund für die vielen ADHS-Behandlungen im veralteten Schulsystem. In seinen Augen setzt das Schweizer Schulsystem noch immer auf stilles Pauken in Reih und Glied statt auf freie Entfaltung – und wird den Kindern nicht gerecht. Für Rudin kommt die Behandlung mit Ritalin einer körperlichen Züchtigung gleich. «Statt der Prügelstrafe wird heute die Ritalin-Keule herausgeholt.»

Rudin ist der Meinung, in der gesamten Schweiz – nicht nur in Neuenburg – werde mit ADHS-Medikamenten stark übertherapiert. Nur der kleinste Teil der Kinder mit ADHS-Symptomen habe diese in einer Schwere, die eine medikamentöse Therapie notwendig mache. «Der Grossteil unserer Kinder hätte gar keinen Therapiebedarf», sagt Rudin.

Das wahre Problem ist die Unterversorgung

Die Kinderärztin Isabelle Brun widerspricht. «Kinder mit ADHS haben grosse Probleme, etwas auswendig zu lernen», sagt sie. Auch dann, wenn die betroffenen Kinder sehr intelligent sind. Die Konzentrationsprobleme blieben auch im besten Lernumfeld bestehen und liessen sich nur mithilfe von Medikation verbessern. Werde die zugrunde liegende Aufmerksamkeitsstörung nicht behandelt, könne das Kind nur schwer sein volles Potenzial ausschöpfen.

Für Brun ist der Fall klar. «Selbst in Neuenburg liegt noch eine Unterversorgung vor. Es ist nicht so, dass Neuenburg zu viel behandelt, es sind die anderen Kantone, die nicht genug behandeln.» Gerade bei Mädchen, bei denen die typischen Symptome der Hyperaktivität oft fehlten, sei die Krankheit stark unterdiagnostiziert. Doch auch bei ihnen könne der Leidensdruck enorm sein. In Bruns Augen benötigen noch viel mehr Kinder mit ADHS Hilfe. Dazu brauche es nicht immer ein Medikament. Bereits die Anerkennung und Wahrnehmung der Störung und ein unterstützendes Umfeld können einen grossen Unterschied machen.

Brun wünscht sich mehr vorurteilslose Auseinandersetzung mit ADHS. «Es ist wichtig, anzuerkennen, dass es eine echte Störung ist, dass Menschen darunter leiden, und man sollte weder die Diagnose noch die Behandlung verteufeln», sagt sie.

Über- oder Unterversorgung?

Um zu beurteilen, ob eine Über- oder eine Unterversorgung vorliegt, muss man zwei Raten miteinander vergleichen: wie häufig die Erkrankung vorkommt und wie häufig behandelt wird.

Laut wissenschaftlichen Studien liegt der Anteil von Kindern mit ADHS bei etwa 5 Prozent. Zur Anzahl der mit ADHS-Medikamenten behandelten Kinder werden in der Schweiz nicht systematisch Daten erhoben. Man kann sich nur auf die Mengen abgegebener Tagesdosen der Medikamente stützen, um eine Abschätzung zu machen.

Bei Mädchen wird ADHS deutlich seltener behandelt als bei Knaben

Mittlere Anzahl abgegebener Tagesdosen von ADHS-Medikamenten im Jahr 2021 pro 100 Kinder zwischen 6 und 18 Jahren

Quelle: ObsanNZZ / wea.

Nimmt man an, dass eine Tagesdosis im Schnitt auch ein behandeltes Kind bedeutet, nehmen 4,3 Prozent der Knaben in Neuenburg ADHS-Medikamente. Bei den Mädchen sind es nur 1,6 Prozent. Da bei einem Teil der Kinder die Kosten für ADHS-Medikamente nicht über die Krankenkassen, sondern über die Invalidenversicherung abgerechnet werden, muss man mit weiteren 0,3 Prozent behandelten Kindern rechnen. Demnach würden in Neuenburg 92 Prozent der Knaben und 38 Prozent der Mädchen mit ADHS eine medikamentöse Behandlung erhalten.

Diese Schätzungen sind mit Vorsicht zu geniessen, da wohl nicht jeder Patient jeden Tag die Tagesdosis zu sich nimmt. In Neuenburg scheinen die Werte aber in der Tendenz mit der Häufigkeit der Erkrankung übereinzustimmen.

Link zum NZZ Artikel

 

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