Heute erhalten dreimal mehr Jugendliche und Erwachsene ADHS-Medikamente als in den nuller Jahren. Eine Rolle spielen auch die Corona-Monate, die vielen Eltern die Augen geöffnet haben. Die Lehrerinnen können einfach nichts: Das dachten viele Eltern, wenn sie sich mit den Klagen über das Verhalten ihrer Kinder im Klassenzimmer konfrontiert sahen. Doch Corona änderte alles. Wochenlang mussten die Schülerinnen und Schüler zu Hause unterrichtet werden. Und die Eltern konnten nicht mehr leugnen, dass ihr Nachwuchs mitunter wirklich ein Problem hat. Ein Problem namens Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS).
So beschreibt es der Zürcher Kinderarzt Roland Kägi, der auch Vorstandsmitglied der Schweizer ADHS-Fachgesellschaft ist. «Als Folge des Homeschoolings kamen 70 bis 80 Prozent mehr jugendliche Patienten mit psychischen Störungen zu uns in die Praxis. Viele davon leiden an ADHS – und müssen entsprechend therapiert werden.» Die Forschung geht davon aus, dass 5 bis 10 Prozent der Minderjährigen vom «Zappelphilipp»-Syndrom betroffen sind, bei dem das Gehirn die empfangenen Signale nicht richtig verarbeiten kann. Weil die Krankheit vor allem genetisch bedingt ist, hat die Pandemie nicht zu einer stärkeren Verbreitung von ADHS beigetragen – wohl aber zu einer besseren Diagnostizierung innerhalb des seit Jahrzehnten nicht zunehmenden Vorkommens.
Widerstand aufgegeben
Laut Kägi ist einerseits die Zahl von Neudiagnosen stark gestiegen. Andererseits hätten auch Eltern von Kindern, die bereits früher eine Diagnose erhalten hätten, in der Corona-Phase ihren Widerstand gegen eine Behandlung mit Psychopharmaka wie Ritalin aufgegeben. Kägi weiss von Familien, die lieber fünfmal umgezogen sind, als sich den Ursachen für die Probleme ihres Kindes an der Schule zu stellen. «Aber als sie das Kind während des Lockdowns zu Hause sahen, merkten sie, wie gross der Leidensdruck ist.»
Kägi ist deshalb sicher, dass die Ärzte in den letzten zweieinhalb Jahren schweizweit deutlich mehr Psychopharmaka verschrieben haben. Die neuesten Zahlen, die vorliegen, stammen von der Krankenkasse Helsana und beziehen sich auf 2020, das erste Pandemiejahr. Sie zeigen in der Tat einen Anstieg gegenüber 2019. Allerdings liegt dieser Anstieg noch im Trend der Vorjahre.
Von 2006 bis 2014 verdoppelte sich die Zahl der Ritalin-Konsumenten in der Schweiz von 20 000 auf 40 000. Dann flachte die Kurve etwas ab, bevor es 2017 wieder steil nach oben ging. 2020 nahmen 60 000 Personen Psychopharmaka ein, unter ihnen 24 000 Kinder und Jugendliche. Bei den Minderjährigen beträgt der Anteil der männlichen Konsumenten 75 Prozent, bei den Erwachsenen sind es lediglich 55 Prozent.
«Exzessive» Schweizer Praxis
Der Uno-Kinderrechtsausschuss bezeichnete die Schweizer Verschreibungspraxis bereits 2015 als «exzessiv». Auch Pascal Rudin sieht die Entwicklung kritisch. Der Soziologe ist Repräsentant des Internationalen Verbandes der Sozialarbeitenden an der Uno in Genf und Mitglied der Expertengruppe ADHS des Bundesamtes für Gesundheit. Rudin beobachtet eine «Medikalisierung» und «Pharmazeutikalisierung» der Gesellschaft. «An den Schulen herrscht heute ein grösserer Leistungs- und Konformitätsdruck. Weil körperliche Züchtigungen – zum Glück! – nicht mehr statthaft sind, erscheinen Psychopharmaka als attraktive Alternative, zumal sie schnell wirken.»
Rudin befürchtet allerdings, dass ADHS-Diagnosen zuweilen vorschnell gestellt und andere Ursachen für auffälliges Verhalten zu wenig genau abgeklärt würden. Er sieht seinen Verdacht von 2018 bestätigt: Damals wies Rudin in der NZZ warnend darauf hin, die neuen Richtlinien der medizinischen Fachgesellschaften von Psychiatern und Kinderärzten in Deutschland würden auch die Schweizer Fachpersonen beeinflussen, die sich gerne am nördlichen Nachbarn orientierten. Die neuen Empfehlungen sehen vor, dass Ritalin nicht nur bei einer schweren Form von ADHS zum Einsatz kommen solle, sondern auch bei einer «moderaten» Ausprägung. «Dieser Paradigmenwechsel war sicher einer der Treiber für die Mehrverschreibungen hierzulande», sagt Rudin.
Philipp Ramming, der ehemalige Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Kinder- und Jugendpsychologie, hat eine weitere Erklärung für das Phänomen: den Mangel an Therapieplätzen für Kinder und Jugendliche in der Schweiz. Die Wartezeiten betragen derzeit oftmals mehrere Monate oder sogar ein Jahr. Ritalin könne für manche Patienten nützlich sein, sagt Ramming. Doch es würde eine begleitende psychologische Therapie brauchen, die auch das Umfeld des Patienten einbeziehe. «Sonst hilft man dem Kind nicht, Strategien zur Bewältigung der Probleme zu entwickeln, die sein ‹störendes› Verhalten ausgelöst haben. Und dann wird aus dem Medikament eine Droge, die der Betroffene ein Leben lang nehmen muss.»
Dampf aus dem Kessel nehmen
Der Kinderarzt Kägi sagt, dass es wegen der immer noch Coronabedingten sehr langen Wartefristen oft nicht möglich sei, Jugendlichen, die im Alltag und in der Schule «nicht funktionierten», genug schnell eine vertiefte Diagnostik zu bieten. «Wenn ein Schüler trotz einem IQ von 130 aus dem Gymi zu fallen droht, dann muss ich Dampf aus dem Kessel nehmen und zuerst mal in die ‹Medikamententrucke› greifen.» Doch dieses Vorgehen führe nicht zu einer Zunahme der Verschreibungen. «Die Diagnostik kommt im Nachhinein – und nur wenn wir sehen, dass die Mittel gut wirken, setzen wir die Therapie entsprechend fort.»
Rund um das Ritalin tobt immer noch ein Glaubenskrieg. Kritiker des Medikaments werfen den Befürwortern vor, von der Pharmabranche gekauft zu sein und einem mechanistischen Menschenbild anzuhängen: dass sich Fehlschaltungen im Hirn ganz einfach mit einer Pille «reparieren» liessen. Die Verfechter der Ritalin-Abgabe hingegen mahnen, dass eine Verweigerung des Medikaments dazu führe, dass die betroffenen Kinder und ihre Familien nicht aus ihrer Not erlöst würden. Viele Eltern reagieren verunsichert auf diese Auseinandersetzung.
Bemerkenswert ist allerdings, dass die Kurve der Verschreibungen bei den Erwachsenen steiler nach oben geht (plus 47 Prozent seit 2014) als bei den Jugendlichen (plus 19 Prozent). Thomas Müller, Co-Präsident der Fachgesellschaft ADHS und Psychiatrieprofessor an der Universität Bern, erklärt, viele ADHS-Erkrankungen im Erwachsenenalter seien früher nicht entdeckt oder als Bagatelle abgetan worden. «Ich bin froh, dass in der Zwischenzeit mehr betroffene Menschen die richtige Behandlung erhalten.»
Müller sagt aber auch, man dürfe bei Psychopharmaka den Aspekt des Zeitgeists nicht verleugnen. Immer wieder gehe es bei Anfragen um eine Optimierung der Leistungsfähigkeit, was der Mediziner als Ausdruck des gesellschaftlichen Anspruchs an das Individuum interpretiert. «Wir müssen als Therapeuten Wert darauf legen, dass es bei Diagnosen und Behandlungen nicht zu Fehlanreizen kommt.»
Stoff der Dealer aus dem Ausland
Ritalin als Hirndoping: Laut Beobachtern greifen mittlerweile auch gesunde Sekundarschülerinnen und Gymnasiasten zum Mittel, um sich beim Lernen besser konzentrieren zu können. Doch dass diese Zweckentfremdung ein relevanter Grund für den Anstieg der Ritalin-Verschreibungen ist, glaubt der Kinderarzt Kägi nicht. «Die Substanz untersteht ja der Rezeptpflicht: Wir Ärzte müssen Rechenschaft darüber ablegen, wie viel Ritalin wir verschreiben und wie viel unsere Patienten konsumieren.»
Es komme zwar ab und zu vor, dass sich auch nahe Verwandte in der Pillenschachtel seiner Patienten bedienten. «Etwa, wenn die 22-jährige Schwester merkt, dass sie schon länger unter ähnlichen Problemen leidet wie ihr 14-jähriger Bruder, der eine Diagnose erhalten hat.» Aber die Pillen, die auf dem Schulhof oder in den Universitäten gedealt würden, stammten eher von illegalen Sendungen aus dem Ausland als von Schweizer ADHS-Patienten, die etwas zum Verkauf abzweigen würden, glaubt Kägi.