Fachbeiträge

Fachtexte zu «ADHS» von unseren Kuratoriumsmitgliedern

Vortrag am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf vom 21.10. 2021

Liebe Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Damen und Herren!

Ich will zu Beginn meines Vortrags aus einem Lehrbuch zitieren:

(Folie); Jeder Lehrer klagt über die nicht zu bändigende Wildheit und motorische Unruhe der prozentual stark hervortretenden sogenannten ‚Störer’. Die Hoffnung, dass man mit einfachen, billigen, leicht zu handhabenden Maßnahmen diese so störend unruhigen Kinder zur Ruhe bringen möchte, wird immer wieder ausgesprochen. Dass diese Hoffnung kaum verwirklicht werden kann, leuchtet von selber ein, wenn man nur einen kurzen Augenblick der Bemühung darauf verwendet, die Kinderschicksale solcher ‚Störer’ wirklich zu überdenken“ (S. 279).

Man könnte meinen, dies seien die heutigen Klagen eines Lehrerverbandes, aber dieser Text wurde zum ersten Mal 1954 veröffentlicht und stammt aus dem Buch Psychogene Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen von Annemarie Dührssen (9. Aufl. 1972).

(Folie: Der Text wird wie folgt eingeleitet): Der vergangene Krieg hat mit der jetzigen Kindergeneration ein Riesenexperiment gestartet. Wohl selten sind die Entwicklungsbedingungen der Kinder so unruhig und ungeordnet gewesen, wie in den vergangenen zehn oder gar fünfzehn Jahren. Ausbombung, Evakuierung, Dienstverpflichtung der Mütter, Flüchtlingselend im Treck, langjährige Wohnungsnot ist nur den wenigsten Kindern erspart geblieben. Die Quittung auf dieses Unglück ist nicht ausgeblieben.

Die von Dührssen erwähnten unruhigen Kinder mit den bewegenden Schicksalen sind die während des Zweiten Weltkriegs und danach geborenen Kinder. Eine auffällige Zahl von bewegungsunruhigen Kindern gab es also schon zu anderen Zeiten: Die so genannte „Langeoog-Untersuchung“ ist wohl die wichtigste und zugleich eine exemplarische Beschreibung von traumatisierten Kriegskindern des Zweiten Weltkriegs. In den Jahren ab 1947 waren 50 000 Schüler der Geburtsjahrgänge 1927 bis 1941 im Lebensalter zwischen 6 und 20 Jahren untersucht worden.(Folie): Festgestellt wurden damals „nervöse Störungen“, übergroße Schreckhaftigkeit, motorische Unruhe, mangelnde Konzentrationsfähigkeit, Schlaf- und Sprachstörungen (Radebold, 2005, S.47), Symptome, welche dem heute so häufig diagnostizierten ADHS außerordentlich geähnelt haben, vor dem Hintergrund von Trennungstraumata und Vaterlosigkeit.Diese Untersuchung weist zudem auf einen eklatanten Zusammenhang zwischen ADHS, der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) sowie von Bindungsstörungen hin: Van der Kolk et al. (2007) haben festgestellt, dass die ADHS einen hohen Grad von Komorbidität mit der PTBS aufweist. Gemäß einer empirischen Untersuchung von Stevens und anderen sind Unaufmerksamkeit, Überaktivität und Impulsivität auch häufige klinische Anzeichen von Kindern, die ihre frühen Lebensjahre in Heimen verbracht haben (Stevens et al.). Ich bin übrigens eines jener Kriegskinder, war bis zu meinem 11. Lebensjahr auf der Flucht oder in Lagern und erinnere die damalige überbordende Unruhe der Kinder noch sehr genau. Wenn es dieses Störungsbild schon früher gegeben hat, bedeutet das allerdings keineswegs, dass ADHS ausschließlich organische Ursachen hat, sondern beweist gerade das Gegenteil. Auf dem Bild ist übrigens das Flüchtlingslager, in dem ich fast 6 Jahre gelebt habe.

Seit den neunziger Jahren hat die Diagnose ADHS lawinenartig zugenommen, die Verordnung von Methylphenidat in gleicher Weise. Waren es 1991 noch etwa 1500 Kinder mit dieser Diagnose, so waren es im Jahr 2011 in Deutschland bereits 757 000 Kinder und Jugendliche, (Folie- Bild) 558 000 davon sind Jungen, dies sind etwa 75 % (Grobe et al., BARMER_GEK-Arzt-Report, 2013).

So stellt sich eine erste Frage. Wenn dieses Störungsbild vererbt wird und ausschließlich physiologisch bedingt ist, wie konnte es zu dieser epidemischen Zunahme an Diagnosen kommen? Geantwortet wird zumeist, weil ADHS heutzutage immer besser diagnostiziert wird. Da muss ich mir als Kinderpsychoanalytiker die Frage stellen, ob ich innerhalb von sechsundvierzig Jahren Tätigkeit Bewegungsunruhe, Aufmerksamkeitsstörungen und Affektdurchbrüche übersehen habe. Diese Erklärung ist darum so grotesk, weil gerade das Gegenteil richtig ist: ADHS wird nur selten exakt diagnostiziert, denn dann müssten es auch heute noch so viele Diagnosen sein wie zu allen Zeiten. Der Grund für die wundersame Vermehrung ist ein anderer. Störungen des Sozialverhaltens und ADHS sind dadurch gekennzeichnet, dass sie teilweise ineinander übergehen und kaum eindeutig diagnostiziert werden. Dies führte irgendwann dazu, dass alle Störungen des Sozialverhaltens als ADHS diagnostiziert wurden, ich denke auch, weil dann eine Pharmakotherapie durchgeführt werden kann. Die meisten Fachleute gehen mittlerweile bei so genannten ADHS-Diagnosen von etwa 80 – 90 % sozialen Störungen aus, lediglich bei den restlichen 10 – 20 % könnte von ADHS, gelegentlich mit prä- und perinatalen Schädigungen, gesprochen werden. Als Psychotherapiegutachter konnte ich beobachten, dass mittlerweile beginnende Schulprobleme, mäßig gesteigerte Bewegungsunruhe, auch leicht aggressives Verhalten eines Kindes sofort medikamentös behandelt werden, oft ohne ausreichende psychologische Diagnostik. Der Eindruck entsteht, dass Kinder gelegentlich konzentrierter, leistungsstärker – vor allem aber diszipliniert werden sollen.

Um die medizinische Diagnose ADHS hat sich ein geschlossenes System etabliert. So gut wie alle Kinder mit sozialen Auffälligkeiten, mit jedweden Formen von Konzentrationsstörungen, bekommen heutzutage Medikation.

Kinder- und Jugendpsychiater sind dankbar, dass Ihnen für alle sozialen Störungen ein vermeintlich ‚hilfreiches‘ Medikament zur Verfügung steht, das schnelle Hilfen verspricht.

Eltern fühlen sich entlastet. ADHS ist gemäß der offiziellen Kinder- und Jugendpsychiatrie eine angeborene Transmitterstörung. Folglich haben die Symptome auch nichts mit ihnen und ihren Beziehungen zu tun. Wer an ihre Verantwortung appelliert, weist ihnen – angeblich – Schuld zu. Fast immer beginnt eine psychoanalytische Therapie mit dem mühevollen Unterfangen, Eltern darüber aufzuklären, dass Konzentrationsprobleme und Bewegungsunruhe zu allererst pädagogischen und psychologischen Bereichen zuzuordnen sind.

In Kitas, Kindergärten und Schulen bekommen Kinder von ihren Erzieherinnen, Lehrerinnen und Lehrern oft schon nach kurzer Beobachtung ihres Verhaltens die Diagnose ADHS, obwohl die dazu notwendigen Kenntnisse fehlen, und sie das gar nicht dürften. Doch Lehrerinnen und Lehrer üben nicht selten Druck auf Eltern aus, ihren Kindern eine Medikation zu verabreichen, damit sie im Unterricht angepasste Kinder haben.

In der Medizin, inzwischen aber auch in der gesamten Öffentlichkeit, wird davon ausgegangen, dass ADHS ein ausschließlich genetisches Schicksal ist. Doch wird diese wissenschaftliche Ungeheuerlichkeit nur noch selten als eine solche erkannt.

Innerhalb der Psychoanalyse werden Leib und Seele als Ganzheit, als eine Wechselwirkung zwischen seelischen, psychosozialen und körperlichen Prozessen betrachtet. Seit Sigmund Freud Konversionen bei der Entstehung von Hysterien beschrieben hat, haben wir uns auf Terrains begeben, wo sich die Grenzen zwischen Körperlichem und Psychischem auflösen. Diese Grenzüberschreitungen können auch beunruhigen und Abwehrprozesse initiieren.

Bei der Diagnose ADHS wurde von der offiziellen Psychiatrie von Anfang an eine strikte Trennung von Leib und Seele festgestellt. Beide Bereiche stehen einander unverbunden gegenüber. Diese Spaltung wird von der Medizin eisern verteidigt. Starr, gelegentlich kämpferisch, wird an einer ausschließlich biologischen Verursachung festgehalten, Medikation als zentrale Therapie betrachtet.

(Folie): Ich zitiere kurz aus einer Pressemitteilung des Berufsverbandes für Kinder- und Jugendpsychiatrie vom 23.2.2012: „ADHS ist eine Krankheit, keine gesellschaftliche Fehlentwicklung. … Leider hat das Bemühen, fundierte Diagnostik einzufordern, offensichtlich dazu geführt, ADHS als Krankheit insgesamt in Frage zu stellen und damit die Betroffenen zu stigmatisieren“.

Wer psychodynamische Überlegungen anstellt, diskriminiert also kranke Menschen.

Vor diesem Hintergrund war es auch folgerichtig, dass die Bundesärztekammer zur Behandlung der ADHS ausschließlich multimodales Vorgehen und Verhaltenstherapie empfahl. Gutachter durften keine psychodynamischen Psychotherapien empfehlen (es sei denn, der Therapeut hatte psychodynamische Zusammenhänge und Zugangswege verdeutlicht).

Können psychodynamische Therapien also überhaupt durchgeführt werden?

Nach dem Hirnforscher Eric Kandel (2008) leiten sich alle geistigen Prozesse, selbst die kompliziertesten psychologischen Prozesse, von Operationen des Gehirns ab. In Gedanken, Fantasien und Beziehungen werden jedoch biologische Vorgänge wieder zu psychischem Erleben, und auch neurobiologische Niederschläge können durch Einflüsse von Pädagogik und Psychotherapie wieder verändert werden. Es besteht ein ständiges Wechselspiel zwischen Leib und Seele sowie einer störenden und fördernden Umwelt. Dieter Bürgin hat das zutreffend formuliert: „Menschen kommen mit unterschiedlichen genetischen Programmen und spezifischen psychophysiologischen, intrauterinen Erfahrungen auf die Welt. Sie sind aber nicht genetisch betonierte, sondern weltoffene Lebewesen, die ihr genetisches Potenzial im Wechselspiel und in Interaktion mit ihrer jeweiligen Umgebung aktivieren und determinieren“ (2016, S. 87).

Jörg Blech berichtete am 5.6.2021im SPIEGEL (2021): „Als Kitas, Schulen und Sportvereine während der ersten Coronawelle geschlossen wurden, als sich das Umfeld mit den bekannten Strukturen veränderte, haben viele unruhige oder unkonzentrierte Kinder eine ADHS-Diagnose bekommen. Ihr zuvor noch als normal eingestuftes Verhalten hat sich in den Bereich des psychisch Gestörten verlagert, das seither mit Medikamenten behandelt wird. Eine solche Verschiebung haben chinesische Forscher auch bei Schulkindern mit zuvor bestehendem ADHS gesehen“ (S. 109). Halten wir fest: Familie und Gesellschaft beeinflussen die Entstehung von Bewegungsunruhe. Eine offenkundig psychodynamisch entstandene Bewegungsunruhe mit affektiven Durchbrüchen wird durch eine ärztliche Diagnose zur ADHS, einer angeblichen Störung des Hirnstoffwechsels festgeschrieben.

Jungen benötigen die Motilität als Ausgleich. Bewegung mindert depressive Affekte, regelmäßiger Sport ist daher auch für das psychische Befinden wichtig, es fand jedoch kein öffentlicher Sport mehr statt. Hinzu kamen noch lange Zeitspannen vor dem Bildschirm.  Hinzu kam ein Familienleben unter verschärften Bedingungen mit vielerlei Spannungen und Auseinandersetzungen.

Werden Untersuchungsdaten aus Deutschland (Krankenkassen, Untersuchungen, Gutachterstatistiken) ausgewertet, so kann festgestellt werden: (Folie)

  • Etwa 75 % betreffen Jungen. Anna Bischoff (2019) hat ihr Buch ADHS „Die Jungenkrankheit der Moderne“ genannt und mit einem Fragezeichen versehen. Ganz sicher kann es durch ein Ausrufezeichen ersetzen kann.
  • ADHS wird umso häufiger bei Kindern diagnostiziert, je jünger deren Eltern sind.
  • Bei Kindern und Jugendlichen wird häufiger ADHS diagnostiziert, je mehr Zeit sie am Computer verbringen.

In unteren Schichten wird mehr und in höheren Schichten weniger ADHS diagnostiziert.

  • Bei Söhnen alleinerziehender Mütter, also bei fehlenden Vätern, wird häufiger ADHS diagnostiziert. Jungen mit einem zugewandten Vater zeigen eine höhere Kompetenz beim Umgang mit Triebimpulsen und Affekten als Kinder ohne Vater: Insbesondere die Fähigkeit, die eigenen Aggressionsimpulse kontrollieren und positiv zur Erreichung von Zielen einsetzen zu können, wird durch das motorisch wilde Spiel mit einem männlichen Dritten befördert. Jungen lernen über den Vater, Affekte zu organisieren und zu modulieren sowie gutartige Aggressionen für positive Ziele einzusetzen.
  • Einer Studie zufolge erhalten Kinder, die mit knapp sechs Jahren eingeschult werden, besonders häufig die Diagnose der Hyperaktivitäts- Aufmerksamkeitsstörung. Dabei fallen diese Kinder lediglich wegen ihrer Unreife auf, denn auch Aufmerksamkeitsstörung und Hyperaktivität sind altersabhängig. In einer Klasse werden jedoch alle gleich eingestuft und beurteilt, auf diese unterschiedliche Entwicklung wird im Unterricht und bei Beurteilungen keine Rücksicht genommen (Berndt, C., 2015).

Diese einfachen Feststellungen über Einflüsse von Familie und Gesellschaft sollten genügen. Kann man an einem Störungsbild festzuhalten, das angeblich nur auf Gendefekten und Schaltfehlern im Gehirn beruht und damit die Seele eines Kindes außen vorlässt? Der Psychotherapieforscher Volker Tschuschke weist 2018 in seinem Buch darauf hin, dass die herrschende Gesundheitsindustrie eine Entwicklung hin zu einer einseitigen biologischen Sichtweise des Menschen bewirke. Die mächtige Lobby der Arzneimittelhersteller beeinflusse über intensive Einwirkung die öffentliche Meinung und Politiker, so dass immer mehr Psychopharmaka anstelle von psychotherapeutischen Behandlungen verschrieben würden. Er betont, dass je komplexer ein Störungsbild sei, desto ungeklärter die Ursachen desselben seien, und dass über Medien überwiegend unhinterfragte Glaubenssätze in die Öffentlichkeit hineingetragen würden. Es hat also noch einen anderen Grund, psychische Ursachen zu leugnen. Wenn alle Kinder ein Störungsbild mit gleichen Ursachen zeigen, wird die Welt überschaubar und erklärbar. Niemand muss Verantwortung übernehmen, weder Ärzte noch Pädagogen oder Eltern.

Bei allen Kindern und Jugendlichen mit fachärztlich diagnostizierter ADHS ließen sich nachvollziehbare Psychodynamiken sowie erhebliche Strukturdefizite erkennen. Das zentrale Symptom ist eine gestörte Affektregulation. Ein kleines Beispiel; Ben, ein sieben Jahre alter Junge, reagiert auf alle Veränderungen, auf Stimmungen, Berührungen und Geräusche empfindlich, fast mimosenhaft. Er beantwortet sie mit heftigen Wutanfällen, haut dann um sich, spuckt und tritt und ist in dieser Verfassung für nichts mehr zugänglich. Seine Wutdurchbrüche können von einem Moment zum anderen entstehen. Manchmal sind Ursachen zu erkennen, kleine Frustrationen oder Kränkungen, zumeist jedoch nicht. Gerade noch zugewandt und kooperativ, kann es im nächsten Moment zum ungehemmten Ausbruch kommen. Ben kann keine körperliche Nähe ertragen, möchte weder umarmt noch geküsst werden. Nachts wacht er aus Albträumen auf und schreit. In letzter Zeit wirkt er müde und erschöpft. Er neigt zu Selbstanklagen und äußert auch Wünsche, nicht mehr leben zu wollen. Seine Ich-Defizite zeigen sich besonders im Bereich der Frustrationstoleranz. Er fürchtet sich einerseits von Objekten bedroht, andererseits befürchtet er ihren Verlust. Auch sein Selbstwert wird ständig labilisiert; unvermittelt überfallen ihn depressive Affekte und Schuldängste.

Es ist ein zentrales Strukturmerkmal, Spannungen in einem inneren seelischen Raum halten zu können, weil diese Befähigung über andere zentrale Fähigkeiten entscheidet:

  • über die Fähigkeit, Affekte auszuhalten, sie in Beziehungen auszuleben und nicht mit Wutdurchbrüchen zu reagieren;
  • über die Fähigkeit, entstehende Spannungen nicht über Bewegungsunruhe abzuführen;
  • über die Fähigkeit, aufmerksam zu sein und sich konzentrieren zu können, wie es den jeweiligen Anforderungen entspricht.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass sich heutzutage diese Fähigkeiten bei vielen Kindern erheblich verschlechtert haben. Aus diesen drei Mängeln wurde inzwischen – wie mehrfach diskutiert – eine Störung konstruiert, die angeblich ausschließlich genetisch bedingt ist und reine hirnphysiologische Ursachen haben soll, das Störungsbild Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung, kurz ADHS.

Im Folgenden will ich über den neunjährigen Jungen Luca sprechen, der im Therapiezentrum Osterhof lebt und dort therapeutisch betreut wird, um kurz einige psychodynamischen Ursachen aufzuzeigen. Hier war ich einst therapeutischer Leiter. (Folie)

Schon Lucas Eintritt in die Welt war problematisch. Die Schwangerschaft mit ihm sei beschwerlich gewesen, die Mutter habe unter körperlichen Beschwerden gelitten, Lucas Geburtsgewicht war unterdurchschnittlich. Das größte Problem war schon damals der gewalttätige Vater. Es kam zu ständigen Wutausbrüchen und Gewalttätigkeiten durch ihn: In seinen ersten Lebensjahren wurden Luca, die Mutter und sowie die ältere Schwester vom Vater misshandelt, gelegentlich auch eingesperrt. Oft mussten alle hungern.

Als Luca drei Jahre alt war, floh die Mutter mit Tochter und Sohn in ein Frauenhaus, um sich vor den Grausamkeiten des Vaters zu schützen. Seitdem lebten sie von ihm getrennt und Luca besuchte ihn an jedem zweiten Wochenende. Mittlerweile hatte die Mutter einen neuen Lebensgefährten, als Luca acht Jahre alt, kam eine gemeinsame Tochter zur Welt.

Bereits im Kindergarten war Luca wegen seiner außerordentlichen Wutdurchbrüche auffällig geworden. Mit fast acht Jahren wurde er in die erste Klasse der Grundschule eingeschult, um dort eine Grundschulförderklasse zu besuchen. Von der Schule wurde ein massiver Entwicklungsrückstand festgestellt. Der Kinderarzt diagnostizierte eine Störung des Arbeitsgedächtnisses, der Impulskontrolle sowie der Aufmerksamkeit und überwies Luca mit folgender Diagnose in ein kinderpsychiatrisches Klinikum: „Hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens und emotionale Störung des Kindesalters“.

Luca wurde daraufhin in einer Tagesklinik untergebracht. Er zeigte ein oppositionell-verweigerndes Verhalten, konnte Regeln und Grenzen nicht akzeptieren und verhielt sich distanzlos und übergriffig, vor allem gegenüber Erwachsenen, dazu kamen noch Schlagen, Beißen, Spucken.

Auch in der Klinik hatte Luca täglich bis zu eineinhalb Stunden dauernde Wutanfälle, bei denen er festgehalten werden musste. Ein sofortiger Wechsel in eine vollstationäre heilpädagogische bzw. therapeutische Jugendhilfeeinrichtung mit angegliederter Schule wurde empfohlen.

(Folie) Es wurden die folgenden Diagnosen festgestellt:

  • AD(H)S (Mischtyp)
  • Verdacht auf Traumafolgestörung, reaktive Bindungsstörung bei massiven Gewalterfahrungen in der Prä- und Postnatalzeit sowie der frühen Kindheit bei psychischer Entwicklungsverzögerung.
  • Verdacht auf Zustand nach Kindesmisshandlung im Kleinkindalter, Verdacht auf unzureichende elterliche Aufsicht und Steuerung.

Vor allem hatte es an einem liebevoll strukturierenden, grenzsetzenden Vater gefehlt, mit dem sich Luca hätte auseinandersetzen und identifizieren können. Und weder im Kindergarten noch später in seiner Grundschule ist Luca Männern begegnet. Die Fallgeschichte von Luca veranschaulicht, dass ADHS auf einem Mangel der affektiven und emotionalen Selbstregulation beruht. Gleichzeitig liegen Störungen der Mentalisierungsfähigkeit und der Symbolisierungsfähigkeit vor (Bovensiepen, Hopf u. Molitor 2002, Heinemann u. Hopf 2006). Mentalisieren ist bekanntlich eine zentrale seelische Eigenschaft: Damit wird  jene Fähigkeit beschrieben, die es uns möglich macht, auf das Verhalten eines anderen Menschen - angemessen - zu reagieren. Vereinfacht ausgedrückt befähigt uns Mentalisierung dazu, anderen Menschen ein seelisches Leben zuzuschreiben und ihre Gedanken und Gefühle zu erfassen: „Es ist mir wichtig, zu wissen, was Du denkst und fühlst. Und ich versuche das für mich herauszufinden!“

(Folie) Zu Beginn der Lebensgeschichte steht nicht selten ein Scheitern des Containments; entweder wegen einer missglückten Mutter-Kind-Beziehung oder weil Traumata - etwa abrupte Beziehungsabbrüche - bereits gelungene Weiterentwicklungen zerstört haben. Im Fall des 9jährigen Luca fand beides statt.

(Folie) Gefühle werden nicht ausreichend symbolisierungsfähig, und sie werden weiterhin in Gestalt von Affektmotilität abgeführt. Die Stimulation des Körpers wird in der Fantasie zum Mutterersatz.

(Folie) Oft fällt die triangulierende, beschützende und begrenzende Funktion des Vaters aus. Der Junge bleibt in einer fatalen Beziehung mit der Mutter verklebt. Die inzestuöse Nähe sexualisiert, andererseits schürt sie auch destruktive Aggression, so dass der Junge in einer sado-masochistischen Beziehung gefangen bleibt und sich nicht von der Mutter lösen kann. Verschwindet der Vater, löst der Junge den ödipalen Konflikt scheinbar, indem er sich selbst an die Stelle des Vaters setzt.

Fluchtort Computer

Es ist erstaunlich, dass der Mainstream der Hyperaktivitätsforschung den sich rasch wandelnden kulturellen Rahmen, z. B. sich verändernde Familienstrukturen kaum zur Kenntnis nimmt. Auch nicht den massiven Einfluss von Medien auf die kindliche Entwicklung, sowie eine ‚erregte Gesellschaft‘, in der wir leben, wie sie der Philosoph Christoph Türcke eindrücklich beschrieben hat. (Folie).

Ein Merkmal der hyperkinetischen Störung ist bekannt, wird ebenfalls kaum diskutiert: Es existiert eine extreme Asymmetrie der Geschlechtsverteilung zu Gunsten der Jungen. Das steht im direkten Zusammenhang mit den philobatischen Tendenzen von Jungen, die Angstlust und Grenzsituationen suchen, sich überschätzen und Beziehungen unterschätzen. Diese Tatsache ist aber auch die Ursache für die bekannte Affinität von Jungen zu den Computerwelten. Die unruhigen Jungen zappeln in der Realität und scheitern in vielen Leistungsbereichen. In den digitalen Welten gleiten sie jedoch dahin wie der Fisch im Wasser. Damit findet ihre Unruhe einen paradiesischen Raum. In ihm sind sie, die ununterbrochen alles nur falsch machen, endlich vollkommen. Sie, die dauernd irgendwo „anecken“, haben sich freundliche Weiten geschaffen, für welche sie nicht nur die notwendige Ausrüstung besitzen und in denen sie darum elegant dahinschweben, sondern in denen sie auch omnipotent sind.  Umso schwieriger ist es, Veränderungen in den realen Wirklichkeiten zu erreichen, denen sie sich auf diese Weise permanent entziehen können.

Eine Überlegung zur Behandlung: (Folie) So wie eine Phobie nur erfolgreich behandelt werden kann, wenn der Patient die Angst machende Situation wieder aufsucht, müsste während einer psychoanalytischen Behandlung solcher Störungen vom kindlichen oder jugendlichen Patienten - zumindest zeitweilig - auf den „Tranquilizer Computer“ verzichtet werden, um erfolgreich psychoanalytisch arbeiten zu können (Hopf, 2007, S. 52).

Weil sie mit Bewegungsunruhe in sozialen Bezügen stören, werden Jungen häufiger psychotherapeutisch behandelt. Jungen und Mädchen mit einer Aufmerksamkeitsstörung ohne Hyperaktivität (F98.8) oder ADS, kommen seltener in eine psychotherapeutische Behandlung, weil sie kaum externalisierende Symptome entwickeln und sozial eher unauffällig bleiben und diese Kinder – zumindest begrenzt - symbolisierungsfähig sind. Darum bereiten sie auch keine so großen behandlungstechnischen Herausforderungen wie Patienten mit externalisierenden Störungen.

Überlegungen zur Behandlungstechnik

  • Kinder und Jugendliche mit externalisierenden Störungen greifen Raum und Rahmenbedingungen an und suchen sie zu zerstören. Desgleichen finden ständige Angriffe auf das Denken des Therapeuten statt mit nachfolgenden Aufmerksamkeitsstörungen und länger anhaltenden Zuständen von Verwirrung. Gegenübertragungen sind nur schwer zu kontrollieren und auszuhalten. Arbeiten am inneren Raum, an der Symbolisierungs- und Mentalisierungsfähigkeit, an Beziehung und der Übertragung, sind daher von großer Bedeutung. Eine „Verwörterung“ von Gefühlen steht im Zentrum der Behandlung.
  • Kinder mit der Diagnose ADHS haben neben Symbolisierungsstörungen so gut wie immer Spielstörungen. Ihr Spiel kann regelmäßig aus der Kontrolle geraten und den Als-ob-Charakter verlieren, es kann konkretistisch, real, auch zerstörerisch werden. Blitzartig können Impulsdurchbrüche erfolgen. Reale Destruktionen dürfen jedoch nicht zugelassen werden.
  • Schon wegen der meist schweren Symbolisierungs- und Spielstörungen, sollte eine psychoanalytische Behandlung möglichst hoch frequent erfolgen (vgl. auch Borowski, D., Bovensiepen, G., Dammasch, F., Staufenberg, H., Streeck-Fischer, A., 2009). Ist das nicht möglich, kann auch niederfrequent tiefenpsychologisch an der Ich- und der Selbst-Struktur gearbeitet werden.

Zum Abschluss will ich kurz von der Frankfurter ADHS-Studie von Marianne Leuzinger-Bohleber berichten.

Marianne Leuzinger-Bohleber und ihre Mitarbeiterinnen haben mittels eines Forschungsdesigns psychoanalytische Behandlungen ohne Medikation mit verhaltenstherapeutischen Behandlungen ohne und mit Medikation verglichen. Das Projekt hat sieben Jahre gedauert: Die psychoanalytischen Behandlungen waren ebenso wirksam wie die verhaltenstherapeutischen, die teilweise zusätzlich  mit Methylphenidat behandelt wurden! Damit wurde nachgewiesen, dass den Symptomen der ADHS unbewusste Konflikte und strukturelle Defizite zugrunde liegen.

Psychoanalytische Therapien sind hochwirksam.

Bestätigt werden konnte auch, was von Autorinnen und Autoren der Vergangenheit immer wieder betont wurde: Klinisch-ätiologisch handelt es sich bei Kindern mit einem ADH-Syndrom um keine homogene Gruppe. Für den praktizierenden Kinderanalytiker ist zudem aufschlussreich, welche Belastungsfaktoren und –konstellationen vorliegen und den Schweregrad eine Behandlung bestimmen können. Der am häufigsten aufgetretene biologische Risikofaktor betrifft alle Arten von prä-, peri- und postnatalen Stressoren. Bei den psychosozialen Risikofaktoren ist am häufigsten Alleinelternschaft sowie ein Aufwachsen ohne väterliches Gegenüber festzustellen. Hinzu kommen unverarbeitete Trennungstraumata und Beziehungsabbrüche. Diese Befunde werden kaum einen Kinderanalytiker überraschen.

Ich konnte zudem als Gutachter in den vergangenen Jahren beobachten, dass zu frühe und unvorbereitete Unterbringung (in den ersten 12 Lebensmonaten) in einer nicht ausreichend ausgestatteten Kinderkrippe ebenfalls ein erheblicher Risikofaktor bei Jungen sein kann.

Jetzt wird Evelyn Heinemann fortfahren und über weitere Untersuchungen sowie über pädagogische Fragestellungen berichten. (Folie) Danke schon jetzt für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Unsere Arbeit

«Wir sind ein Zusammenschluss von namhaften Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema ADHS einsetzen.»

Unsere Vision

«Unsere Vision ist es, die Öffentlichkeit zu ermächtigen, das gegenwärtige schulmedizinische ADHS-Konstrukt kritisch zu hinterfragen und damit der einseitigen Biologisierung kindlichen Verhaltens entgegenzuwirken».

Governance

Die Konferenz ADHS wird durch den Vorstand geführt und durch das Kuratorium beraten. Der Generalsekretär vertritt die Konferenz ADHS nach aussen.