Anhand kinderpsychiatrischer Diagnosestellungen lässt sich eine zunehmende Biologisierung der Psychiatrie erkennen, die auf Kosten ihrer Humanisierung geht. Wie das Beispiel des ADHS zeigt, werden «Verhaltensabweichungen» nur noch vor dem Hintergrund sogenannt hirnorganischer Störungen betrachtet: ADHS sollte das Resultat einer genetisch bedingten Stoffwechselstörung sein. Psychisches und dessen Verhaltensfolgen werden in diesem reduktionistischen Verständnis nicht mehr als mögliche Folge innerpsychischer und zwischenmenschlicher Abläufe verstanden, die in einem lebensgeschichtlichen sowie gesellschaftlichen Zusammenhang stehen können, sondern psychische Auffälligkeiten werden auf rein biologische Ursachen zurückgeführt, was einer Pathologisierung der kindlichen Entwicklung (z.B. des «oppositionellen» Trotzverhaltens) gleichkommt. Diese Blickwinkelverengung, die sich in der Praxis nicht mehr auf das Verstehen, sondern nur auf das Erkennen von Symptomen beschränkt, verengt den therapeutischen Spielraum auf dessen medikamentöse Behandlung: Dem Methylphenidat wird eine prioritäre Bedeutung beigemessen.
Abgesehen davon, dass beim ADHS die Ursachenzuschreibungen bisher nur von Hypothesen geleitet sind und hinter dieser Diagnose ein ungeklärter Normalitätsbegriff steht, sind auch die Diagnosekriterien völlig unscharf. Bis heute gibt es keine validen Testsysteme für die Diagnose des ADHS. Stattdessen offenbart der Symptomkatalog des ADHS, wie fragwürdig die Diagnosekriterien sind. Kinder, die u.U. noch nicht in der Lage sind, die emotionalen Grundbedingungen zur adäquaten Aneignung des schulisch geforderten Lernstoffs bereitzustellen, werden auf der Ebene einer Organpathologie als krank diagnostiziert und in der Folge medikamentös behandelt.
Die rasante Zunahme an Medikamentenverschreibungen [1] – und dies trotz mangelnder Evidenz sowohl für die Genese von ADHS wie auch für dessen Diagnostik – lässt den Verdacht aufkommen, dass hier einseitige Interessenskoalitionen [2] bestehen, die zu Ungunsten eines objektiven wissenschaftlichen Diskurses einer biologistischen Deutungshoheit das Wort reden. Diesem Verdacht gilt es aber mit sachlicher Diskussion und unter Einbezug aller bis anhin vorhandenen, auch nicht-biologistischen Erklärungsansätzen und mit Transparenz entgegenzutreten.
Leserbrief zu: Schmeck K. et al. Behandlung von Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitäts-Störungen (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen in Schweiz Med Forum. 2008;8(23):436–9. Publiziert in Schweiz Med Forum 2009;9(3):62–3
Literatur
[1] Psychiatrie: Häufige Interessenkonflikte der DSM-V-Autoren. rme in: Deutsches Ärzteblatt. aerzteblatt.de vom 7.5.2008.
[2] Gemäss dem Bundesamt für Statistik hat die Ritalinabgabe in der Schweiz zwischen 1996 und 2000 um 690% zugenommen. Die jährlichen Zuwachsraten betragen 20–35%. In: Tagesanzeiger vom 7.10.2005; «Zappelkinder haben es schwerer».