Fachbeiträge

Fachtexte zu «ADHS» von unseren Kuratoriumsmitgliedern

SIT und die Individualpsychologie Alfred Adlers - Fremde oder alte Verwandte?

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Zuallererst möchte ich meinen hohen Respekt vor Michael Bienes Leistung ausdrücken, die in der Schaffung der zugleich breiten und tiefen Systemischen Interaktionstherapie liegt. Hier vereinigen sich mehrere historische Entwicklungsstränge bewährter psychotherapeutischer Schulen mit reichhaltigen praktischen Erfahrungen des Begründers selbst zu einer innovativen, ganz real erlernbaren und wohl nicht nur in der Jugendhilfe konkret anwendbaren Methode. Man kann den Wert eines sowohl theoretisch fundierten als auch praktisch am Wohl von Eltern und Kindern und der Gemeinschaft ausgerichteten therapeutischen Ansatzes gar nicht hoch genug schätzen.

Denn eine klare Orientierung und Hilfe tut not in einer Gesellschaft, die trotz ihres Wohlstandes noch immer zu viele Kinder ohne die nötige Gemeinschaft, Liebe, Struktur, Förderung und Ermutigung aufwachsen sieht. In der Schweiz beispielsweise war im Jahr 2005 die häufigste Todesursache aller 15-24 jährigen - der Suizid (Grimmer in Damman 2012, 150).

Das Leid der Kinder ist es übrigens auch, mit dem sich der Begründer der Individualpsychologie Alfred Adler vor fast 100 Jahren nach dem Ende des ersten Weltkrieges in massenhaftem und extremem Ausmaß in Wien konfrontiert sah. Er sah seine Aufgabe schon damals genau wie die SIT heute vor allem in der Aktivierung und Kompetenzerweiterung der Eltern. Er schreibt: "Den Eltern sollten niemals Vorwürfe gemacht werden, auch wenn es dafür gute Gründe gäbe. Wir können viel mehr erreichen, wenn wir mit Erfolg versuchen, mit den Eltern eine bestimmte Art von Pakt zu schließen, und wenn wir die Eltern dafür gewinnen können, ihre Haltung zu ändern und im Sinne unserer Grundsätze mit uns zusammenzuarbeiten. […] Wir müssen […] versuchen, sie dafür zu gewinnen, eine neue Art des Vorgehens anzunehmen." (Adler in Datler 2009, 248). "Im Wintersemester 1915/16, also bereits während des Krieges, hatte Alfred Adler im Volksheim Ottakring, der größten Volkshochschule Wiens, einen Kurs über 'Praktische Erziehung' begonnen. Ein gut besuchter Einzelvortrag [...] hatte ihm das Bedürfnis gezeigt, das in der Kriegsbevölkerung nach praxisorientierter Hilfe im Umgang mit Heranwachsenden herrschte" (Schiferer 1995, 126).

Um nun weitere Verbindungen zwischen Alfred Adlers Individualpsychologie und der systemischen Interaktionstherapie zu skizzieren, müssen wir zunächst ein potenziell brisantes Missverständnis ausräumen: Unglücklicherweise wird nämlich im Sprachgebrauch der SIT der Terminus "Individualpsychologie" bzw. das Adjektiv "individualpsychologisch" für die überholte Idee eines autonomen, isolierten, reaktiven Individuums, also für eine "Einpersonenpsychologie" benutzt, die die soziale Einbettung des Menschen ignoriert (z.B. Biene 2011, 27). Dieser Terminus hat aber rein gar nichts mit der gleichnamigen Individualpsychologie Alfred Adlers zu tun. Diese blendet nämlich keinesfalls die soziale Vernetzung des Menschen aus - im Gegenteil, Adler betont immer wieder: "Aus guten Gründen vermeidet es die Individualpsychologie, den isolierten Menschen zu studieren. Sie sieht ihn immer nur im kosmischen und sozialen Zusammenhang" (Adler 1924 in Eife 2010, 232). Ich möchte darum unbedingt festhalten: Die Individualpsychologie ist gerade keine Einpersonenpsychologie. Doch was ist sie dann?

Man kann in Adlers Verständnis des Individuums die Vereinigung zweier Wesensmerkmale erkennen: Zum einen seine schöpferische Einzigartigkeit. "'Jedes Individuum repräsentiert gleichermaßen die Einheit und Ganzheit der Persönlichkeit wie die individuelle Ausformung dieser Einheit. Das Individuum ist mithin sowohl Bild wie Künstler. Es ist der Künstler seiner eigenen Persönlichkeit' (1930a, 7). [...]. 'Deshalb formen auch die Menschen, obwohl sie alle in ein und derselben Tatsachenwelt leben, sich selbst so verschiedenartig'" (in Ansbacher 2004, 183). Jeder hat seinen einzigartigen Lebensstil, würde man individualpsychologisch korrekt sagen.

Zum anderen ist da aber auch die unaufhebbare Verbundenheit des Einzelnen mit der Gemeinschaft der Menschen und letztlich mit dem ganzen Kosmos. "Das Individuum wird nur in seiner sozialen Verflechtung zu einem Individuum" sagt Adler (1929 d, 111).   Nicht   umsonst   zählt   die   Untersuchung   von   Familienkonstellation   und Geschwisterposition zu den ältesten und bewährtesten Methoden der Individualpsychologie. Diese Auffassung wird heute als "systemisch" bezeichnet, auch in aktuellen Lehrbüchern: "Die Betonung der sozialen Bezogenheit des Menschen [...] weist die Individualpsychologie zugleich als diejenige psychotherapeutische Methode aus, die die Familie als ätiologisches Feld für die Entwicklung psychischer Störungen sieht, wie es viel später dann die systemische Familientherapie fokussiert " (Rieken 2011a, 296).

 Das hat  ganz  praktische Gründe in Adlers täglicher Arbeit, denn "im Zentrum des Interesses Adlers standen in den ersten Jahren physiologische und psychologische Probleme bei der Erziehung von Kleinkindern. [...]. Seine ärztliche Praxis erzwang [...] frühzeitig eine entscheidende Modifikation zur therapeutischen Praktikabilität. Alfred Adler hatte in der Czernigasse kinderreiche (jüdische) Familien als Patienten, die noch dazu einer anderen gesellschaftlichen Klasse angehörten, als die Personen, die bei Freud […] Hilfe suchten" (Schiferer 1995, 59f.). Freud hat mit seiner Psychoanalyse nämlich viel eher das entwickelt, was man als Einpersonenpsychologie bezeichnen kann. Dies war nicht zuletzt ein Grund der Ablösung der Individualpsychologie. Adler engagierte sich also schon früh für die Kinder und die Erziehungsberatung: "1918 ließ der wachsende Bedarf an Hilfe, Erwartungen sowie die Zahl der Hilfesuchenden die Errichtung einer eigenen Erziehungsberatungsstelle am Volksheim nötig erscheinen. Die Erziehungsberatungsstelle sollte zudem eine Ausbildungsmöglichkeit für neue Erziehungsberater schaffen. [...]. Die Idee schlug ein. Der Ansturm von Ratsuchenden und Ausbildungswilligen übertraf alle Erwartungen. [...]. Adlers 'Technik der Erziehungsberatung' fand Nachahmer in anderen psychologischen und pädagogischen Richtungen. [...]. Die Stadt Wien als Kommune zeigte sich beeindruckt vom Erfolg der Bestrebungen und integrierte sie [...] in ihre soziale Fürsorge. [...]. Die Zahl aller Beratungsmöglichkeiten [...] muß zwischen 1924 bis 1934 auf weit über hundert eingeschätzt werden." (Schiferer 1995, 130ff.; 136)

Zwei "Mitglieder des Individualpsychologischen Vereins, gründeten ein Kinderheim, das sie zu einer Musteranstalt machten. Sie begannen dort, Mitglieder des Vereins auszubilden und erreichten schließlich eine Approbation des Stadtschulrates zur Ausbildung von Lehrern" (Schiferer 1995, 130ff.). Die Individualpsychologie operierte also damals ebenso im Jugendhilfebereich wie die Systemische Interaktionstherapie heute – hier sehen wir Adler mit Wiener Nachkriegskindern bei der Aktion "Kinder aufs Land" (Schiferer 1995, 116).  "Aus den Abläufen der Erziehungsberatung ergab sich schnell ein festes Ritual. Die Konsultationen waren, das Einverständnis der Eltern vorausgesetzt, öffentlich. Das interessierte Publikum konnte sie miterleben. Volontären dienten sie als praktische Demonstration. Sie wurden stets in Teamarbeit vorgenommen. Ein individualpsychologischer Arzt und eine geschulte Hilfskraft, […] ergänzten sich. Die Fälle wurden ohne Vorbereitung präsentiert und eine spontane Lösung versucht" (Schiferer 1995, 130ff.). Das strukturierte Vorgehen im Team ist eine weitere Parallele zur SIT, die Spontaneität erinnert an das Psychodrama, heute Teil mancher IP- Ausbildung, Rollenspiele gibt es in beiden Methoden. "Demnach war Adler der erste, der mit Gruppen Öffentlichkeit in die Therapie gebracht hat. Auch systemische Ansätze wurden vertreten. 'Wir behandeln immer die ganze Familie, nicht den vereinzelten Kranken. Die Gruppe war daher für uns immer eine natürliche Gegebenheit, ob sie nun auf die Familie beschränkt war oder darüber hinausging' (Dreikurs 1958, 846)", so Rudolf Dreikurs, ein Mitarbeiter Adlers (in Rieken 2011a, 324).

Ein System ist ein Ganzes, dessen Teile aus der durch ihr Zusammenspiel ermöglichten übergeordneten Bedeutungsebene ihre Funktionen erhalten. Die Ursachen laufen so quasi den Wirkungen hinterher. Denken wir zum Beispiel an eine musizierende Gruppe: das aufgeführte Stück ist Ursache der Rollen jedes Einzelnen, obwohl es erst durch diese erzeugt wird. Es ist dies nichts anderes als die Finalität einer Struktur, also die Ausrichtung aller Elemente auf ein Ziel hin. Adler schreibt: "Es ist wie im Gebiet des Körperlichen auch: Jeder Teil steht mit dem Ganzen in Zusammenhang, und wir verstehen den Teil erst dann, wenn wir das Ganze begriffen haben. Das seelische Ganze des Menschen aber zu verstehen, heißt ihn im Gefüge seiner gesellschaftlichen Stellung zu erfassen" (Adler in Datler 2009, 53). Die psychisch wirksamen Feldkräfte der überindividuellen Gemeinschaft durchdringen jeden Menschen, es ist gewissermaßen wie in einem Fischschwarm: "In der ganzen Menschheitsgeschichte finden sich keine isolierten Menschen. [...], weil der Mensch unverbrüchlich  durch  das  Gemeinschaftsideal  gelenkt,  gehindert,  gestraft,  gelobt, gefördert  wird,  so  daß  jeder  einzelne  jede  Abweichung  nicht  nur  zu  verantworten, sondern auch zu büßen hat" (Adler 1933 b, 195).

 

Zusammenfassend kann man sagen: die Individualpsychologie ist erstens eine soziale "Beziehungspsychologie" (aller Sinn ist sozial), zweitens eine systemische "Positionspsychologie" (die Position im System zählt) und drittens eine dynamische "Gebrauchspsychologie" (das Subjekt macht schöpferischen, zielgerichteten Gebrauch von Körper und Umwelt und ist nicht ihr Opfer). Ihr zu Grunde liegt eine subjektive, d.h. hermeneutisch-phänomenologische, holistische und systemische Auffassung der Gegebenheiten des Lebens. Sie vertritt eine konsequente Selbstverantwortung,  die auch neurotische Symptome mit einschließt. Die Individualpsychologie denkt in Zusammenhängen der Zielgerichtetheit von Verhalten - Finalität statt Kausalität im Wechselspiel von Individuum, Mitmenschen und Situation: "Der Sinn ist nicht durch eine bestimmte Lage festgelegt, sondern wir legen uns selber fest durch den Sinn, den wir den Lagen geben" (Adler 1931 b, 21).

Ein individualpsychologisches Verständnis von Problemen und Symptomen kehrt den Blick also um 180 Grad: weg von der kausalen Ursachensuche, hin zum vorgestellten Ziel eines Verhaltens. "Wir beschäftigen uns in der Individualpsychologie nicht mehr mit der Suche nach den Ursachen der Angst, sondern mit der Frage nach ihrem Zweck", wie Adler sagt (Adler 1931 b, 107). Und jeder Zweck kann nur Zweck sein in Bezug auf Andere, auf eine soziale Situation, ein mitmenschliches Erlebensfeld, ein System, das ihm Bedeutung gibt.

Adler nimmt an, dass durch unsere wechselseitige Verbundenheit mit allen Mitmenschen praktisch überhaupt nichts unser "Privatbesitz" ist. Was uns wirklich selbst gehört, ist wohl unsere schöpferische Kraft und das eigene Bewusstsein. Doch schon die Sprache, "[…] der persönlichste Besitz eines jeden Menschen, ist gleichzeitig System einer Gruppe von Menschen; sie kann nur in einer großen Gruppe entstehen und lebendig bleiben. [...]. Dennoch sieht das Individuum seine Sprache als intimsten Besitz an. Der Psychoanalytiker Jaques Lacan sagt sogar: "Das Unbewusste ist die Rede des Anderen" (in Lang 1973, 212). Gleiches gilt für unseren Verstand. Adler erklärt: "Auch hier schwebt uns als Ideal eine Art zu denken vor, an die sich jeder halten sollte. Der Begriff 'Common sense' deutet den gemeinschaftlichen Charakter dessen an, was man 'Verstand' zu nennen pflegt" (Adler 1937 i, 175). "Verstehen ist Gemeinschaftssache, nicht Privatvorgang. […] Es bedeutet, uns in einer gemeinsamen Bedeutung mit anderen Menschen zu verbinden" (Adler 1979 b, 200). So versteht er dann z.B. Sprachstörungen auch in neuem - systemischen - Licht. Adler: "Die Entwicklung der Sprache [...] setzt diesen Kontakt zwischen Mensch und Mensch voraus. [...]. Wir werden regelmäßig finden, dass die Sprachentwicklung gestört ist, wenn das Kind nicht richtig angeschlossen ist" (Adler in Datler 2009, 122). Man kann den Common Sense als soziales System aus Kommunikationen im Sinne Luhmanns deuten. Systemisch bedeutet ja, dass Beziehungen, Relationen konstituierend sind für die Funktion der einzelnen Elemente eines Systems, etwa die Zellen und Organe in einem Lebewesen oder die Zeichen und Wörter in der Sprache.

Michael Biene erklärt (2011, 21f.): "Das übergeordnete theoretische Gebäude des SIT-Modells ist das der systemischen Therapie. Es wird nicht nur das Kind betrachtet (individualpsychologische Sichtweise [es sollte hier besser heißen: Einpersonensichtweise; MW]), aber auch nicht nur die Familiendynamik ([…] Kybernetik erster Ordnung). Vielmehr werden auch die Rollenverteilungen und Interaktionsmuster, die sich zwischen Helfenden und den Familien etabliert haben, betrachtet ([…] Kybernetik zweiter Ordnung). [...]. Der Fokus wird dabei vor allem auf beobachtbare Interaktionsmuster gerichtet. [...]. Das heißt, es findet eine genaue Mikroanalyse dieser situativen Interaktionsmuster statt. [...]. Gerade die Muster der immer wieder scheiternden Lösungsversuche erzeugen bzw. stabilisieren jedoch aufs Neue die Probleme des Kindes." Er bezeichnet diesen ungewollt paradoxen Systemzustand als "Mustertrance", in der die Akteure gleichsam hypnotisch in bestimmte Rollen und deren Gegenrollen hineinfallen. Mustertrancen entsprechen Adlers „Sinn, dem wir den Lagen geben“ (s.o).

Die Systemtheorie mit ihrem implizierten Konstruktivismus ist auch als verdinglichte Phänomenologie verstehbar, welche wiederum der Individualpsychologie zu Grunde liegt (Husserl 1985, 1986; Wenke 2010). Die Phänomenologie versteht kurz gesagt die Welt und alle Annahmen über Dinge und sich selbst nicht als irgendetwas objektives Äußeres, sondern als Erscheinungen, Phänomene, ein Geschehen, das allein im Bewusstsein des erlebenden Subjektes stattfindet, so wie der Konstruktivismus annimmt, dass die Welt, auf die ein Akteur reagiert, dessen interne Konstruktion ist.

Das gilt auch für eine Kybernetik 2. Ordnung, von der die SIT spricht und welche auch die subjektiven Beobachtungsprozesse der professionellen Beobachter, also der helfenden Pädagogen, als Teil des gesamten Systems versteht, die das Geschehen nicht nur beobachten, sondern durch die eigene Anwesenheit maßgeblich verändern. Unter gewissen Bedingungen eingefahrener gegenseitiger Rollenzuschreibungen kann so auch eine destruktive Interaktionsschleife entstehen, die das Problem stabilisiert statt löst. Michael Biene (2011, 42) beschreibt das wie folgt: "Eine wesentliche Annahme im SIT-Modell ist nun, dass der Zustand einer Person [...] im Kampfmuster nahezu reflexhaft einen komplementären Zustand beim Gegenüber auslöst." In der Individualpsychologie sind derartige Prozesse als Übertragung und Gegenübertragung bekannt und ein Mittel der therapeutischen Arbeit. Auch hier ist der Therapeut bzw. die Therapeutin Teil eines gemeinsamen Feldes und kein neutraler Beobachter. Er wird vom Klienten unwillkürlich zu Impulsen oder Gegenimpulsen angeregt, die oft auch den Rollen von dessen ursprünglichen Beziehungspersonen entsprechen.

Michael Biene (2011, 40) formuliert das so: "Wichtig ist [...] die Annahme, dass diese Rollen unabhängig von den Personen, die sie ausführen, 'leben'. Die Rollen sind sozusagen 'überindividuell'." Genau wie die Logik der Situation in der Individualpsychologie. Wir können den Platz des Anderen einnehmen. Adler betont: "Wenn ich in seiner Lage wäre, an seiner Stelle stünde, würde ich geradeso handeln, in derselben Umgebung die gleichen Fehler begehen, dasselbe Ziel setzen, wie er es tut. Wenn ich mich mit ihm eins fühlen kann, dann verstehe ich ihn" (Adler in Datler 2009, 170). Durch die  frühen  Erfahrungen mit Bezugspersonen und Lebenswelten entstehen je individuelle Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, die sich bereits in der Kindheit als Lebensstil bzw. Zur-Welt-Sein (Merleau-Ponty 1966) einschleifen und verfestigen, zu einer Gesamthaltung werden. Jeder lebt so in seinem persönlichen Erfahrungsfeld mit einem bestimmten Satz von erwarteten Erfahrungen und Beziehungsmustern und nicht in einer objektiven Welt. Das Ganze ist in ständigem Fluss und wird in jedem Moment aufs Neue reproduziert und variiert - die Individualpsychologie spricht hier von Aktualgenese.

Jedes Erlebensfeld birgt immer viele intentionale Anschlussmöglichkeiten, in jedem Augenblick des strömenden Feldes treffen wir unwillkürlich Entscheidungen, was wir tun oder nicht tun. Situationen motivieren zu bestimmten Vollendungsweisen und bleiben trotzdem offen. Es ist, als würde ein bestimmtes Verhalten nahegelegt, das im Gegenwartsmoment aber je noch unbekannt ist, ganz ähnlich "wie etwa die ersten Töne einer Melodie einen gewissen Schluß verlangen, ohne daß damit dieser selbst schon bekannt wäre" (Merleau-Ponty 1966, 103). Eins ergibt sich aus dem Anderen und ist nicht planbar.

Das bedeutet für unsere Freiheit natürlich, dass wir immer den Gegebenheiten des Feldes unterworfen sind, in dem wir uns bewegen und dass wir nicht wie isolierte Egos über den Dingen stehen und willkürlich handeln können. Es existiert quasi so etwas wie eine stimmige Forderung in jeder Situation. Oder mit Adler: "Gäbe es nicht die unerbittlichen Forderungen der idealen Gemeinschaft, und könnte jeder im Leben seinem verfehlten Bewegungsgesetz genügen - man kann phantasievoller auch sagen: seinen Trieben, seinen bedingten Reflexen -, so gäbe es keinen Konflikt" (Adler 1933 b, 123).

Man kann dies als Selbstorganisation des Phänomenalen Feldes auffassen, und hat damit die Basis für einen Situationismus gelegt, wie er eben auch in systemischen Therapiekonzepten und in der Familienphänomenologie (den sog. "Aufstellungen"; z.B. Mumbach 2005 oder Hellinger 1996) zu finden ist, wo man davon ausgeht, dass jede existenzielle Position in der Familie immer ein Feld ist, welches dem Subjekt bestimmte Funktionen nahelegt oder zuweist. Auch dies ist ein gemeinsames Element von SIT und IP. Hier gleichen sich das phänomenologische und systemische Verständnis von Kausalität: Nicht die Subjekte sind die Ursache für ein Resultat, sondern das gemeinsam erschaffene Feld lenkt als etwas Überindividuelles die Subjekte, die oft gar nicht wissen, wie ihnen geschieht.

So kann es passieren, dass Kinder zu Symptomträgern einer belasteten Familie werden, obwohl sie im klassischen Sinne alleine gar nichts dafür können – wenn dann das Kind isoliert beobachtet und ihm allein mittels einer Diagnose eine Störung zugeschrieben wird, etwa beim sogenannten "ADHS", so ist das nichts anderes als eine Mustertrance.

Bei genauerem Hinsehen zeigt sich aber meist, dass alles auftretende Verhalten und alle Symptome der tieferen Logik der Gesamtsituation folgen. Michael Biene schreibt: "Es wird hier nicht vom Begriff der Störung ausgegangen. So genanntes symptomatisches Verhalten stellt aus dieser Sicht im familiären Kontext vielmehr ein sinnvolles Verhalten dar" (2011, 29). Und bei Adler klingt das so: "Die Kinder sind nicht verantwortlich für ihre Untugenden. [...]. Sie sind nicht schlecht von Natur aus, sondern haben sich dahin entwickelt, weil sie meinten, so sein zu müssen, um Erfolg haben zu können" (Adler 1937 i, 75). "Sie sind unordentlich, und wenn ich davon höre, dann sehe ich immer eine Gestalt auftauchen, die Ordnung macht. Aber ebenso sehe ich diese Gestalt auftauchen, wenn man von einem lügenhaften Kinde erzählt. Da ist mir immer, als ob ich eine starke Hand um den Kopf des Kindes sehen müsste, der gegenüber das Kind auszuweichen trachtet. Diese Bewegung wird dann in der Lüge manifestiert" (Adler in Datler 2009, 129). Kinder wie Erwachsene tragen phänomenologisch ihr Beziehungssystem in sichSo ist ein wichtiges diagnostisches   Mittel der Individualpsychologie die früheste Kindheitserinnerung als symbolische Verdichtung früher Beziehungsmuster.

Bestimmte Interaktionen sind einfach begünstigt, sobald bestimmte Bedingungen im Feld vorliegen, es gibt auch in der Individualpsychologie keinen "Schuldigen", sie nimmt also genau wie die SIT an, "dass sich beide Akteure in einem Muster verloren haben, in dem beide Personen auf die jeweilige Aktion der anderen Person reagieren" (Biene 2011, 43). Wenn HelferInnen im Kampfmuster agieren, "ist es sehr wahrscheinlich, dass sie allein durch ihren eigenen Zustand permanent die widerständigen Klienten produzieren, die sie eigentlich zur Kooperation motivieren wollten (Biene 2011, 44). Dies Phänomen kennt auch die Individualpsychologie: "An mehreren Stellen weist Adler darauf hin, dass viele der weithin verbreiteten Reaktionen auf dissoziale Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen das Gegenteil des eigentlich Bezweckten zur Folge haben" (Datler 2009, 91). "Kind und Erzieher tragen ihre unbewussten und bewussten leitenden Gedanken entsprechend […] einem Schema der Gesellschaft nahezu unabänderlich in sich. Dieses Schema, das sich beiden unmerklich aufgedrängt hat, besitzt nur teilweise Wirklichkeitswert, setzt sich vielmehr recht oft aus mangelhaften Erkenntnissen und tendenziösen Einschätzungen zusammen" (Adler in Datler 2009, 59). Die Mustertrance.

Und Adlers Schlussfolgerung klingt wie aus der Systemischen Interaktionstherapie: "Kampf mit einem Kind ist aussichtslos; es kann niemals durch Gewaltanwendung besiegt oder zur Mitarbeit gewonnen werden" (Adler 1931 b, 110). "Der einzige Weg wäre, die Kampfsituation möglichst zu vermeiden, was man am besten wohl dann erreichen wird, wenn man das Kind nicht als Objekt, sondern als Subjekt, als völlig gleichberechtigten Mitmenschen, als Kameraden betrachtet" (Adler 1927 a, 188). Hier haben wir die individualpsychologische Haltung zum "Aufwachen" aus dem Kampfmuster in ein offenes Kooperationsmuster und damit zugleich einen Kern sowohl der Systemischen Interaktionstherapie als auch der Individualpsychologie. Adler schreibt: "Denn das Ziel dieser Lebensanschauung ist: verstärkter Wirklichkeitssinn, Verantwortlichkeit   und   Ersatz   der   latenten   Gehässigkeit   durch   gegenseitiges Wohlwollen, die aber ganz nur zu gewinnen sind durch die bewußte Entfaltung des Gemeinschaftsgefühls und durch den bewußten Abbruch des Strebens nach Macht" (Adler 1930 q, 32). Es geht hier immer auch um das Verlassen egozentrischer Verkrampfung, um ein "Erwachen" ins offene Beziehungsfeld des Gemeinschaftsgefühls, in die freie, freundliche Verbindung mit den anderen Menschen. Wohlwollen enthält Gemeinschaftsgefühl, Empathie und Liebe. Wohlwollen befreit das Erlebens- und Handlungsfeld aus einengenden Dogmen oder eingefahrenen Machtkämpfen, vermeidet also negative Mustertrancen und begünstigt ein Kooperationsmuster, wie die SIT sagen würde.

Phänomenologisch ist unsere eigene Innenwelt ein Möglichkeitsangebot an die Welt. Weitet man das Bild vom Anderen in sich selbst, so schenkt man ihm die Freiheit, zu wachsen. Darum ist eben das Wohlwollen eines der Schlüssel der individualpsychologischen Erziehung: "Nicht sein Programm, sondern seine Haltung ist das Entscheidende. Die richtige Haltung im Umgang mit Kindern läßt sich am ehesten durch den Ausdruck 'freundschaftliches Wohlwollen' kennzeichnen. [...]. Die Haltung des freundschaftlichen Wohlwollens muß wirklich unerschütterlich sein. [...]. Wer sich leicht ärgert, ist kein guter Erzieher", schreibt der Individualpsychologe und Adlers Schüler Erwin Wexberg (1928, 273ff.). In der SIT klingt das ähnlich. Michael Biene (2011, 18) betont, [...] dass SIT vor allem durch die Ebene der 'Haltung' seine Kraft entfaltet. Lernprozesse auf dieser Ebene scheinen eine Zeit von mehreren Jahren zu benötigen." Auch Alfred Adler hebt diesen Aspekt der gelernten Erfahrung hervor: "Die menschliche Seele kann nur ein Querkopf ganz in ein wissenschaftliches Lehrgebäude einfangen wollen. Vollends Individualpsychologie ist eine künstlerische Leistung" (Adler 1912 a, 217). Man kann also beim Vergleich von SIT und IP viele Überschneidungsfelder finden, Gleiches, das mit verschiedenen Begriffen bezeichnet wird, aber natürlich auch Unterschiede, wie in folgender Tabelle exemplarisch zusammengestellt:

Betrachtet man die Methodenvielfalt mit der heute Individualpsychologen arbeiten, wovon eine umfassende Literatur und reichhaltige Tagungen, Fort- und Weiterbildungsaktivitäten Zeugnis ablegen, so kann man die Adlersche Individualpsychologie mit vollem Recht als tiefenpsychologisch, kognitiv, systemisch, holistisch und integrativ bezeichnen. Streng genommen steht sie nicht nur gleichberechtigt neben den modernen Ansätzen, sondern ist sogar häufig deren theoretischer Wegbereiter, leider oft, ohne dafür explizit gewürdigt zu werden. Das möchte ich hiermit auch tun. Schauen wir uns die historischen Einflüsse Adlers an, so stoßen wir neben dem Erfinder des Psychodrama Jakob Levy Moreno den Begründer der Gesprächspsychotherapie Carl Rogers und den der Gestalttherapie Fritz S. Perls. Im späteren NLP, auf das sich auch die SIT stützt, stecken dessen und Alfred Adlers Ideen. Die sogenannte "Wunderfrage", die Kategorisierung in visuelle, auditive oder kinästhetische Lerntypen und das Konzept des "Lebensplans" stammen beispielsweise aus der Individualpsychologie.

 

Alfred Adler kann man mit einigem Recht als den Großvater und Vordenker vieler einflussreicher moderner Therapieschulen würdigen, seine Individualpsychologie  hat sich mit den Zeiten erhalten und nichts an Qualität und Praktikabilität verloren (s.a. Rieken 2011b; Fuest 2008). Ansbacher schreibt in einem Standardwerk der IP: "Heute aber können wir vom historischen Gesichtspunkt aus sagen, daß Adlers Weg weniger eine Abweichung war, sondern eine Weigerung, Freud in einer Richtung zu folgen, [...] die heute fast allgemein aufgegeben worden ist. Man kann sagen, Adler setzte Freuds 1. Periode in gerader Linie fort und entwickelte in seiner Individualpsychologie eine folgerichtige humanistische Psychologie. [...]. Adler ist [...] prototypisch dafür, wie sich heute das ganze Gebiet der Therapie und der Prophylaxe entwickelt hat. [...]. Aber auch die übrigen psychotherapeutischen Theorien und Methoden sind zunehmend mit Adlers Individualpsychologie vereinbar geworden […]" (Ansbacher 2004, 386).

Zusammenfassend und die Ausgangsfrage beantwortend kann man sagen, dass die Individualpsychologie und die Systemische Interaktionstherapie zu einer weitverzweigten Familie mit vielen gemeinsamen Ahnen und Urahnen gehören und damit alte Verwandte sind. Die SIT stammt wahrlich aus gutem Hause. Möge sie die große und erfolgreiche Verbreitung erfahren, die sie verdient. Lernen wir geduldig, uns, unsere Mitmenschen und unsere Kinder vor Kampftrancen zu schützen oder uns daraus zu befreien. Seien wir optimistisch und wünschen mit Adler "[...] daß in viel späterer Zeit, wenn der Menschheit genug Zeit gelassen wird, die Kraft des Gemeinschaftsgefühls über alle äußeren Widerstände siegen wird. Dann wird der Mensch Gemeinschaftsgefühl äußern wie Atmen" (Adler 1933 b, 196).

 

Literatur 

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Schiferer, Ruediger H. (1995). Alfred Adler: eine Bildbiographie. Mit bisher unbekannten Original-Dokumenten und zum größten Teil unveröffentlichten Abbildungen. Unter Mitarbeit von Helmut Gröger und Manfred Skopec. München, Basel: Ernst Reinhardt.

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Wexberg, Erwin (1928). Individualpsychologie. Eine systematische Darstellung. Leipzig: S. Hirzel.

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«Wir sind ein Zusammenschluss von namhaften Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema ADHS einsetzen.»

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