Linda J. Graham (Ed.): (De)Constructing ADHD. Critical Guidance for Teachers and Teacher Educators, New York u.a.: Peter Lang, 2010 (Band 9 der »Disability Studies in Education«, Gesamtherausgeber: Susan L. Gabel and Scott Danfort), 244 Seiten, 22, 70 Euro
Für die auch in der Bundesrepublik Deutschland kontrovers geführte wissenschaft- liche Auseinandersetzung über das Phänomen ADHS dürfte es von fachlichem Interesse sein, sich über den aktuellen Forschungsstand in Großbritannien, Austra- lien, Kanada und den Vereinigten Staaten von Amerika zu informieren.
Linda J. Graham vom »Centre for Research on Social Inclusion« an der Macquarie Universität in Sydney hat 2010 im Peter Lang Verlag das Buch »(De)Constructing ADHD. Critical Guidance for Teacher and Teacher Educators« (ADHD (De)Konstruieren. Ein kritischer Führer für Lehrer und Lehrerbausbilder) herausgegeben und damit auf hohem fachwissenschaftlichem Niveau einen theoretisch anspruchsvollen Einblick in den derzeitigen Kenntnisstand über die Entwicklung in den o.g. Ländern eröffnet. Die anglo-amerikanische Bezeichnung ADHD entspricht dem deutschen Begriff ADHS.
Der Band umfasst 244 Seiten und enthält drei Teile. Im ersten Teil wird das Themenfeld »Power, Politics and Policy« (Macht, Politiken und politische Linien) in vier Beiträgen entfaltet; der zweite Teil widmet sich mit zwei Beiträgen »Parents, Poverty and Pills« (Eltern, Armut, Pillen). Vier weitere Beiträge zeigen auf, wie eine »Personal and Proactive Pedagogy« (Persönliche und proaktive Pädagogik) bei ADHD pädagogisch professionell gestaltet werden kann. Alle Forschungsarbeiten setzen sich kritisch mit der Dominanz des biomedizinischen Konstrukts ADHD auseinander und stellen die hieraus resultierende einseitige Medikalisierung von Kindern und Jugendlichen in Frage.
Der erste Teil des Buches führt gleichsam in verschiedene Fachdiskurse über ADHD ein, verbindet historische, soziologische, kulturelle, ökonomische und pädagogische Perspektiven, die den Siegeszug von Psychostimulantien im Klassen- zimmer als neue Verhaltenskontrolle bei Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen kritisch reflektieren. Er wird eingeleitet von Matthew Smith (Universität von Exeter, Großbritannien) mit einer historischen Einführung über »The Uses and Abuses of the History of Hyperactivity« (Gebrauch und Missbrauch in der Geschichte von Hyperaktivität). Smith zeichnet im historischen Rückblick die Entwicklung von Stimulantien nach und erläutert beispielhaft – etwa an der Geschichte des Zappelphilipps oder der Comicfigur Bart Simpson – die soziokulturell bedingten, epochal unter- schiedlichen Etikette von Erwachsenen für aus ihrer Sicht sozial unangemessenes Verhalten bei Kindern und Jugendlichen. Roger Slee (Universität London, Großbritannien) analysiert in seinem Arti- kel über »Bad Behavior« (Schlechtes Verhalten) den Zusammenhang zwischen der enorm angestiegenen Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit der Diagnose
ADHD und der generellen Krise der Schulen. Er weist sehr differenziert nach, dass und wie trotz Inklusionsrhetorik die Inklusionsrealität die den Schul»betrieb« störenden Schüler exkludiert. Mit dieser empirischen Evidenz provoziert der Au- tor; ADHD ist für ihn lediglich ein weiteres stigmatisierendes Etikett in einer auf Tests und Leistungsvergleiche reduzierten Bildungsindustrie, wo noch viele weitere stigmatisierende Bezeichnung zur Disziplinierung der Kinder des Prekariats zur Anwendung kommen. Slees Buchbeitrag unterscheidet sich deutlich von allen an- deren, insofern der Gründer und Herausgeber des »International Journal of Inclusive Education« das Phänomen ADHD theoretisch reflektiert und im Kontext von Inklusion und Exklusion dekonstruiert.
Markku Jahnukainen (Universität Alberta, Kanada / Universität Helsinki, Finnland) stellt seine Vergleichsstudie über den Umgang mit ADHD in Kanada und Finnland vor: »Different Children in Different Countries: ADHD in Canada and Finland« (Unterschiedliche Kinder in unterschiedlichen Ländern: ADHD in Kanada und Finnland). Die kulturelle Differenz zwischen beiden Ländern zeigt sich besonders deutlich in der Wahrnehmung und Umsetzung des sonderpädagogi- schen Förderbedarfes. In Kanada dominiert das biomedizinische Modell mit der Konsequenz einer ausdifferenzierten medizinisch / psychiatrischen Kategorisierung von Behinderungen – erst diese biomedizinische Defizitzuschreibung legitimiert die Ressourcen für eine sonderpädagogische Förderung. In Finnland obliegt die Gewährung sonderpädagogische Förderung dem pädagogischen Personal; Lehrerinnen und Lehrer nehmen ADHD als ein Verhaltensproblem unter anderen wahr, die Medikamentenvergabe hat hier keinen Stellenwert für die konkrete Ver- haltensunterstützung.
Den Abschluss dieses ersten Teils bildet der Beitrag von Paul Adams (Universität Hill, Großbritannien) über »The Politics of Educating Children with ADHD« (Die Politik, Kinder mit ADHD zu bilden und zu erziehen). Adams skizziert die Bildungs- und Sozialpolitik in Großbritannien und erläutert, wie nach dem Zweiten Weltkrieg die Idee des Wohlfahrtsstaates für alle Bürgerinnen und Bürger spätestens seit Beginn der 80er Jahre von der Ideologie eines neoliberal organisierten Staates abgelöst wurde. Vor allem Schülerinnen und Schüler mit Verhaltensstörungen – für die ADHD nach Adams ein prototypischer Sammelbegriff ist – gefährden die Marktpositionierung der Schulen. In einem diskursanalytischen Vergleich des biomedizinischen Etiketts ADHD und der bildungspolitischen Entwicklung unter New Labour seit 1997 werden vor allem die hieraus resultierenden Konsequenzen für das Arbeitsfeld und Arbeitsverhalten von Lehrerinnen und Lehrer deutlich herausgearbeitet. Adams fordert eine Neubesinnung des Lehrpersonals auf seine pädagogischen Aufgaben, statt sich weiterhin auf administrative Tätigkeiten reduzieren zu lassen.
Im zweiten Teil des Buches erfolgt eine Vertiefung der Thematik in zwei Bereichen. Elke Emerald und Lorelei Carpenter (beide Griffith Universität, Australien) haben in »ADHD, Mothers and the Politics of School Recognition« (ADHD, Mütter und die Politik schulischer Anerkennung) die besondere Situation von Müttern, deren Kinder die Diagnose ADHD erhielten und mit Ritalin behandelt wurden, empirisch untersucht. Diese Mütter erleben sich als ebenso stigmatisiert und marginalisiert wie ihre Kinder, sie leiden unter den Vorurteilen, schlechte Mütter zu sein und beklagen, dass Lehrerinnen und Lehrer sie nicht oder missverstehen. Die Autorinnen belegen die hohe Sensibilität dieser Mütter gegenüber der Inklusionsrhetorik bei gleichzeitig stattfindenden subtilen Exklusionsprozessen bei ihren Kindern. Die permanente mediale Präsenz der Pharmawerbung für Ritalin bereits im Frühstücksfernsehen mit vermeintlichen Expertinnen und Experten verunsi- chert vor allem jene Mütter, die nach Alternativen zur Medikamentenvergabe su- chen. Emerald und Carpenter ziehen hieraus das Fazit, dass nur eine verbesserte Elternarbeit zu einer Entlastung der mit der Medikamentenvergabe verbundenen familiären Dynamik beitragen kann.
In ihrer Studie »The New Outsiders: ADHD and Disadvantage« (Die neuen Außenseiter: ADHD und Benachteiligung) belegt Valery Harwood, Universität Wollongons, Australien, erneut den Zusammenhang zwischen der Diagnose ADHD und sozioökonomischer Benachteiligung. Bezug nehmend auf Forschungsergebnisse in Großbritannien, den USA und Australien, die vor allem Ar- mut als wichtigsten Indikator benennen, untersucht sie die derzeitige Situation in den fünf am stärksten sozioökonomisch benachteiligten Gemeinden Australiens. Ihre Befunde decken die doppelte Diskriminierung auf, die mit dem Etikett ADHD und der sozialen Benachteiligung verbunden ist. Harwood stellt auf der Grundlage des Capability Approachs (Sen, Nussbaum) das bisherige Management sozialer Probleme in Frage und erläutert an einem Projekt exemplarisch, was dieser doppelten Diskriminierung erfolgreich entgegengesetzt werden kann.
Der dritte Teil dieses Buches vermittelt eine konstruktiv-kritische Sicht auf Bildung und Erziehung und rückt vor allem die Position des Lehrpersonals in den Mittelpunkt. Hier sind manche Inhalte nicht wirklich neu oder gar innovativ; ihre kompakte Darstellung ist gleichwohl eine große Bereichung, weil das Aufgabengebiet und Wirkungsfeld der Pädagogik überzeugend der Medizinierung / Pathologisierung / Therapeutisierung von Verhaltensstörungen gegenüber verteidigt wird.
Pamela Beth Whitt (Universität Indiana, USA) und Scott Danforth (Universität Ohio, USA) argumentieren mit John Dewey, um die pädagogische Arbeit von Lehrerinnen und Lehrer trotz neoliberaler Verformung durch die allgegenwärtige Testkultur zu stärken. In ihrem Beitrag »Reclaiming the Power of Adress: New Metaphors and Narratives for Challenging Behaviors« (Wiedergewinnung der Stär- ke der Zuwendung: Neue Metaphern und Erzählstränge für herausforderndes Verhalten) belegen sie, dass die triviale Pathologisierung von Unterrichtsstörungen bspw. mit dem Etikett ADHD, Lehrerinnen und Lehrer dazu verleitet, sich für die spezifischen und individuellen Probleme und Schwierigkeiten, aber auch Talente und Ressourcen ihrer Schülerinnen und Schüler, nicht mehr zuständig zu fühlen: Ritalin ist faktisch die Lizenz zur Distanzierung und Immunisierung. Whitt und Danforth machen nun auf der Grundlage ihrer Erfahrung in der Lehrebildung konkrete Veränderungsvorschläge, wie die Interaktion zwischen Lehrenden und Schülerinnen und Schüler mit Verhaltensstörungen wieder lebendig, konstruktiv und dialogisch gestaltet werden kann. So schlagen sie bspw. vor, gemeinsame positive Geschichten zu phantasieren, in der die Lehrperson ihre Rolle neu definiert, etwa als »Kartograph für Pilger«, als »Coach für Athleten« oder als »Zauberer für Zauberlehrlinge«. Mit diesen im Text anschaulich beschriebenen Beispielen führen die Autoren noch einmal deutlich vor Augen, welche Bedeutung dem Humor im Erziehungsprozess zukommt.
Die Effekte der neoliberalen Umgestaltung des australischen Bildungssystems untersucht Brenton Prosser (Universität Südaustralien) in »Engaging Pedagogies: From Psychomedical Deficits to Virtuel Schoolbags« (Pädagogik beanspruchen: Von psychomedizinischen Defiziten zu virtuellen Schultaschen). Als ein zentrales Ergebnis dieses Prozesses lässt sich nachweisen, dass eine innovative, gar engagierte Pädagogik im Klassenzimmer verloren gegangen ist. Seitdem sich Schulen auf Quasimärkten als Konkurrenten gegenübertreten und das Lehrpersonal ei- ner dichte Test- und Vergleichskultur mit hohem Verwaltungsaufwand gerecht werden muss, dominiert eine formalisierte Unterrichtsgestaltung, die in erheblichem Maße zur Entfremdung gegenüber Schülerinnen und Schülern führt. Die Medikamentenvergabe bei Verhaltensstörungen wird daher als Entlastung erlebt, trägt aber gleichzeitig zum weiteren Schrumpfen des pädagogischen Engagements bei. Posser, ebenfalls in der Lehrerbildung tätig, schlägt hier den Einsatz von »virtuellen Schultaschen« vor. Mit dieser Metapher ermutigt er Lehrerinnen und Lehrer, auch das außerschulische Lebensfeld von Kindern und Jugendlichen im Unterricht zu berücksichtigen. Dieser Ansatz – in Deutschland bekannt als »Lebensweltorientierung« – sollte zugleich auch die Autonomie des Lehrpersonals stärken, um Abstand zu gewinnen von einer quasi roboterhaften Erfüllung ihrer durch ökonomische Zwänge diktierten Rolle.
Shila Riddel (Universität Edingburg), Jean Kane (Universität Glasgow), Gwynedd Lloyd (Universität Edingburg), Gillean McCluskey (Universität Eding- burg) und Elisabeth Weedon (Universität Edingburg) gehen in ihrem Beitrag über »School Discipline and ADHD: Are Restorative Practices the Answer?« (Schuldisziplin und ADHD: Sind pädagogisch unterstützende Angebote die Antwort?) der Frage nach, ob eine gezielte Stärkung von pädagogischen Angeboten die geeignete Lösung bei Disziplinproblemen in der Schule und bei ADHD sei. Sie informieren zunächst über die spezifische bildungs- und schulpolitische Situation im Umgang mit Verhaltensstörungen in Schottland. Statt direkter Strafpraxen herrscht ein Klima der Beschämung und Bloßstellung von die Unterrichtsdisziplin störendem Verhalten. Die Schulen selbst werden ihrerseits diszipliniert und abgestraft, wenn sie im nationalen Leistungsvergleich schlecht abschneiden. Was liegt also näher, als diesen permanenten Druck in den Klassenzimmern weiterzugeben? In ihrer Evaluationsstudie in einer schottischen Schule mit 650 Schülerinnen und Schülern weisen die Autorinnen nach, dass und wie systemimmanente Veränderung durch spezifische pädagogische Unterstützungsangebote in der Schule die drop-out Rate signifikant reduziert.
Im letzten Beitrag von Linda J. Graham über »Thinking Pedagogically« (Pädagogisch denken) bezieht sich die Herausgeberin mit einem Ausblick auf die Bei- träge in ihrem Buch. Sie fordert eine stärker kindzentriert orientierte Pädagogik im Klassenzimmer, um wieder Raum und Zeit zu gewinnen, die je individuell verschiedenen Verhaltensweisen bei Schülerinnen und Schülern als wichtige Potentiale zu sehen – eine der zentralen Voraussetzungen, um überhaupt wieder über Kinder und Jugendlichen zu sprechen (statt nur über Synapsen). Was vor allem auch verloren zu gehen scheint, ist der Blick auf die Auswirkungen der Medikamentenvergabe auf Selbstwahrnehmung und Selbstkonzept der Betroffenen. Grahams Fallbeispiele zeigen eindringlich, dass in der gesamten ADHD Entwicklung längst die Frage nach Kinderrechten, Kinderschutz und Kindeswohlgefährdung gestellt werden müsste. Darüber hinaus verdeutlicht Graham, dass der Verdrängung der Pädagogik durch Medizin, Psychopathologie und Pharmaindustrie eine wieder dezidiert pädagogische Positionierung entgegengesetzt werden muss. Die »Verbetriebswirtschaftlichung« von Erziehung und Bildung ist keine akzeptable Entschuldigung, wo das Lehrpersonal seinen pädagogischen Auftrag zur Disposition stellt.
Die zahlreichen empirisch gesicherten Forschungsergebnisse in diesem Buch verdeutlichen die Notwendigkeit, die »Pillen für die Störenfriede« fachlich begründet in Frage zu stellen und als dem Zeitgeist geschuldet zu kritisieren. Hatte Bernd Ahrbeck 2007 mit seiner Veröffentlichung »Hyperaktivität« aus psychodynamischer, kultureller und pädagogischer Perspektive gegen die Medikalisierung von ADHS – als Sammelbegriff für Verhaltensstörungen – argumentiert, so erweitert und aktualisiert Graham diese Position um interdisziplinäre und internationale Befunde.
Der Band bietet vielfältige wissenschaftliche und praktische Anregungen, die eigene Position zu ADHS und zu Verhaltensstörungen neu zu überdenken und damit den vorherrschenden Trend, Verhaltensstörungen unter »brain dysfunction« zu subsumieren. Er ist nicht nur lesenswert für alle, die mit Kindern und Jugendlichen – qua pädagogischen Auftrag – arbeiten, sondern auch für Eltern und Selbsthilfegruppen. Eine deutsche Übersetzung wäre sehr zu begrüßen!
(Birgit Herz, Hannover)