Fachbeiträge

Fachtexte zu «ADHS» von unseren Kuratoriumsmitgliedern

Das hyperaktive Kind, die multimodale Therapie und die evidenzbasierte Medizin

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Zusammenfassung: Hyperaktive und aufmerksamkeitsgestörte Kinder ziehen Erwachsene durch ihre ungerichtete Getriebenheit in ihren Bann und erzwingen eine fast permanente Aufmerksamkeit, die jedoch kaum eine Möglichkeit zu Besinnung und gemeinsamer Sinnfindung lässt. Die daraus resultierenden persönlichen und sozialen Belastungen sind beträchtlich. Um eine Entlastung zu erreichen gilt die multimodale Therapie als ultima ratio. Als technologisches Veränderungskonzept setzt sie auf die medizinische und psychologische Reparatur eines Defizits, das mit der Innenwelt des Kindes sehr wenig zu tun hat. Zu ihrer Legitimation beruft sie sich auf Ergebnisse einer evidenzbasierten Forschung, die einem streng naturwissenschaftlichen Wissenschaftsverständnis verpflichtet ist. Entgegen anders lautenden Bekundungen erfüllt die multimodale Therapie die dort aufgestellten Kriterien aber nur begrenzt.

Weiterhin wird gezeigt, dass die evidenzbasierte Forschung in der Psychotherapie zu einer problematischen Komplexitätsreduktion führt, die den Zugang zu weiterführenden Erkenntnissen versperrt und angemessene Behandlungen erschwert. Es wird dafür plädiert, den Blick zu weiten: Hyperaktive und aufmerksamkeitsgestörte Kinder können dann als Subjekte in Erscheinung treten, die lebensgeschichtlich in Schwierigkeiten geraten sind; als aktiv handelnde und in ihrem Kern konflikthafte Wesen, die in einem komplexen Bedingungsgefüge zwischen organischer Basis sowie innerer und äußerer Realität aufwachsen. Dem muss eine zeitgemäße Theoriebildung gerecht werden.

Forschungsstrategien und -methoden sind danach auszurichten.

Schlüsselbegriffe: Hyperaktivität − Aufmerksamkeitsstörungen − multimodale Therapie − evidenzbasierte Medizin

Einleitung

Hyperaktive und aufmerksamkeitsgestörte Kinder ziehen Erwachsene in einem besonderen Maße in ihren Bann. Durch ihre Unruhe und Getriebenheit sorgen sie für ständige Bewegung, ihr ungerichtetes und sprunghaftes Handeln führt zu einer spannungsreichen, mitunter fast atemberaubenden Atmosphäre, aus der es nahezu kein Entrinnen zu geben scheint. Besonders belastend ist dabei, dass die Motive ihres Handelns im Dunkeln  bleiben. Man weiß nicht wirklich, warum sie dieses oder jenes tun, was sie innerlich antreibt, wieso sie kaum jemals zur Ruhe kommen und auch nicht, warum sie sich von außen nur schwer steuern lassen. Ein Zugang zu ihrer Innenwelt scheint weitgehend versperrt.

Damit entsteht eine paradoxe Situation: Auf der einen Seite erzwingen hyperaktive und aufmerksamkeitsgestörte Kinder eine permanente Aufmerksamkeit, die das Gegenüber okkupiert. Auf machtvolle Weise setzen sie sich – gemeinhin mit der Diagnose ADHS versehen – in dem Anderen fest und sorgen für eine aufdringliche Präsenz. Andererseits bleibt diese Besetzung namenlos: Die erzeugte Anspannung und Erregung ist so stark, dass sie kaum eine Möglichkeit lässt, sich zu besinnen. Das Erlebte kann vom Objekt schwerlich mit Sinn versehen werden, es entzieht sich einer sprachlichen Transformation und findet keine echte innere Resonanz. Eine gemeinsame Sinnfindung mit dem Kind ist deshalb erschwert, wenn nicht gar vollständig zum Scheitern verurteilt. Erregung ersetzt Bedeutung – so lässt sich dieses Phänomen auf eine Kurzformel bringen (Ahrbeck, 2007b, 2008).

Bei starker äußerer Bezogenheit besteht also eine große innere Ferne und gemeinsame Sprachlosigkeit. Darüber hinaus besteht ein erheblicher Handlungsdruck, in Familien ebenso wie in Schulen, der nervenaufreibend bis quälend sein kann. Er ist deshalb so belastend, weil konventionelle Interventionen und Erziehungspraktiken versagen und verlässliche oder auch nur halbwegs tragfähige Anhaltspunkte für ein „richtiges“ Handeln fehlen. Ohnmacht und Ratlosigkeit kennzeichnen häufig das Erleben der Erwachsenen, oft ist es außerdem mit heftigen Schuld- und Schamgefühlen verbunden.

Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Lösungen gesucht oder gar ersehnt werden, die aus dieser Misere befreien. Insofern liegt es auf der Hand, dass Sätze wie folgende entlastend wirken, denn sie polarisieren und vereinfachen ein komplexes Phänomen und zielen auf eine Befreiung von Ohnmacht und Schuld:

Die Veröffentlichung von Geschichten, nach denen ADHS eine fiktive Störung oder lediglich ein Konflikt zwischen den heutigen Huckleberry Finns und ihren Sorgeberechtigten sei, ist gleichbedeutend mit der Behauptung, die Erde sei flach, die Gesetze der Schwerkraft seien debattierbar, und die chemische Periodentabelle sei Betrug. ADHS (...) [ist] eine valide Störung mit unterschiedlichen und erheblichen negativen Auswirkungen bei denjenigen, die davon betroffen sind, ohne deren eigene Schuld und ohne Schuld ihrer Eltern und LehrerInnen. (Gemeinsame Erklärung internationaler Wissenschaftler, 2005, S. 3)

Demzufolge bietet es sich an, nach griffigen und entlastenden Erklärungsmodellen zu suchen – besonders solchen, die unantastbar scheinen, weil sie auf einem soliden wissenschaftlichen Fundament beruhen. Zudem suchen viele betroffene Familien nach wirksamen Handlungsanweisungen und -methoden, die einen oft schwer erträglichen Zustand möglichst schnell verändern sollen.

Auf einem wissenschaftlich in letzter Zeit häufiger beschrittenen Weg, nämlich mithilfe einer Metaphernanalyse, ist Brandl (2007) der Frage nachgegangen, welche Bilder über Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen im öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs vorherrschen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass es insbesondere Begriffe aus der Maschinen- und Computerwelt sind, die zur Charakterisierung dieser Störung herangezogen werden. So ist von Schaltfehlern, Regelkreisstörungen und Hardwaredefekten die Rede, von unzureichend funktionierenden Suchmaschinen, die bestimmte Informationen nicht finden können, oder von Rennautos, die unter Ölverlust leiden und Probleme mit der Schaltung haben. Diese und ähnliche Metaphern haben auf breiter Ebene Eingang in medizinische Lehrbücher, Fachartikel, einschlägige diagnostische Systeme, Elternratgeber und Informationsbroschüren der pharmazeutischen Industrie gefunden. Inzwischen nehmen sie fast eine monopolartige Stellung ein. Unhinterfragt und wie selbstverständlich breiten sie sich aus. Sie prägen das vorherrschende Bewusstsein und fixieren es auf ein nahezu monokausales Erklärungsmodell, sodass andere Möglichkeiten kaum bis gar nicht in Betracht gezogen werden. Die Störung ist demzufolge fest im Kind selbst verankert. Sie wird allenfalls durch den Hinweis auf Umweltbedingungen modifiziert. Die Lebensgeschichte des Kindes und seine soziale Eingebundenheit spielen dabei keine wesentliche Rolle, innere Verstrickungen und familiäre Konflikte sind zu Größen geworden, die (scheinbar) ohne Schaden vernachlässigt werden können.

Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen sind demzufolge im Alltagsleben wie im wissenschaftlichen Mainstream zu einer Funktionsstörung geworden, die den Gesetzmäßigkeiten der sachlichen sehr viel stärker als denen der personalen Welt folgt. Dass diese Analyse etwas Wichtiges aufdeckt, zeigt sich auch daran, dass auf der Handlungsebene Konzepte dominieren, die stark funktionelle und technologische Komponenten beinhalten. Die multimodale Therapie (Döpfner & Lehmkuhl, 1998; Lehmkuhl & Döpfner, 2006) ist das prominenteste Beispiel dafür. Sie gilt in der Behandlung hyperaktiver und aufmerksamkeitsgestörter Kinder als ultima ratio, gestützt durch das Votum diverser Fachverbände.

Die multimodale Therapie besteht (1) aus einer medikamentösen Behandlung, die (2) durch Psychoedukation und (3) durch eine streng symptomorientierte Verhaltenstherapie ergänzt wird. Medikamentös werden Psychopharmaka, zumeist mit dem Wirkstoff Methylphenidat, eingesetzt. Unter Psychoedukation ist die Aufklärung über das Krankheitsbild und die entsprechenden Behandlungsmöglichkeiten zu verstehen. „Die Therapie stützt sich im Wesentlichen auf operante Techniken (Kontingenz-Management: Münzverstärker-Systeme, „response-cost“, „time-out“)“ (Vorstand der Bundesärztekammer, 2006, S. 42). Selbst eine kognitive Umstrukturierung steht hier außerhalb des Kalküls, obgleich sie in der modernen Verhaltenstherapie eine wichtige Rolle spielt.

Unübersehbar ist der Reparaturgedanke, der im Zentrum der multimodalen Therapie steht. Ein vorhandener Funktionsschaden soll behoben werden. Dieses ausdrückliche Ziel wird damit begründet, dass innere Konflikte und intrapsychische Strukturen inadäquate Kategorien darstellen, die weder zur Ätiologie noch zur Behandlung von Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen einen Beitrag leisten. Sie gelten als irreführende Orte, die von den entscheidenden Fragen ablenken.

Die multimodale Therapie beruft sich zu ihrer Legitimation auf ätiologisch streng empirisch ermittelte Forschungsergebnisse, die naturwissenschaftlich fundiert sind. Die Wirksamkeitsuntersuchungen, auf die sich ihre Vertreter weiterhin beziehen, beruhen auf einem evidenzbasierten methodischen Zugang. Psychodynamische Therapien werden dem hingegen nicht gerecht, darüber besteht im Mainstream der Forschung ein breiter Konsens:

„Für psychodynamische Interventionen (...) liegen keine Wirksamkeitsstudien vor, sie sind in der Behandlung der Primärsymptome nicht indiziert“ (Vorstand der Bundesärztekammer, 2006, S. 43).

Das damit etablierte System weist eine innere Stimmigkeit auf. Aufgrund einer primär genetisch verursachten Hirnstörung entsteht eine massive kindliche Verhaltensstörung, bei der die Lebensrealität und Lebensgeschichte des Kindes nur eine untergeordnete Rolle spielen. Die Korrektur der Symptomatik, die im Mittelpunkt des Interesses steht, wird zum vorrangigen Ziel. Der Kreis schließt sich, wenn sich eine Symptomkorrektur mit einer eigens auf sie abgestellten Methodik erfolgreich nachweisen lässt. Doch der in sich geschlossene Zirkel zwischen ätiologischem Modell und multimodaler Therapie ist brüchiger, als er auf den ersten Blick erscheint. Ihre konstituierenden Elemente erweisen sich bei genauerer Betrachtung als wenig tragfähig. Sie geraten aufgrund neuerer Erkenntnisse zunehmend ins Wanken. Dies gilt auch für die evidenzbasierte Forschung, auf die sich die folgenden Ausführungen beziehen.

Evidenzbasierte Medizin und Psychotherapie

In der medizinischen Fachdiskussion ist die Evidenzbasierung zu einer bedeutenden Größe geworden: „An der EBM [Evidenzbasierten Medizin] hängt, zur EBM drängt derzeit anscheinend alles in der medizinischen Forschungsdebatte“ (Tschuschke, 2005, S. 106). Die evidenzbasierte Medizin beinhaltet eine bestimmte Form der Erkenntnisgewinnung, die in einem engen Bezug zum praktischen Handeln steht. Sie soll sicherstellen, dass die ärztliche Entscheidungsfindung vor dem Hintergrund empirischer Wirksamkeitsnachweise erfolgt. Für die Berufspraxis ergeben sich daraus gewichtige Folgen. Die Kompetenz des Arztes soll sich nunmehr daran erweisen, inwieweit er die vorhandenen empirisch- wissenschaftlichen Belege gewissenhaft sichtet, die besten Untersuchungen fachkundig heraussucht und sie adäquat auf die unmittelbare klinische Behandlungssituation übersetzt. Groß angelegte, repräsentative klinische Untersuchungen werden demzufolge zum primären Bezugssystem ärztlichen Handelns. Eine auf das Individuum und seine spezielle Lebenssituation bezogene ärztliche Behandlungskunst tritt dahinter zurück.

A new paradigm for medical practice is emerging. Evidence-based medicine de- emphasises intuition, unsystematic clinical experience and pathophysiologic rationale as sufficient grounds for clinical decision making and stresses the examination of evidence from clinical research. (Evidence-Based-Medicine-Working-Group; zit. nach Berner et al., 2000, S. 173)

Die evidenzbasierte Medizin zielt darauf ab, dass klinische Entscheidungen ihrer Subjektivität entkleidet und stattdessen auf eine empirisch gesicherte Basis gestellt werden. In Zeiten knapper werdender finanzieller Mittel versteht sich die Evidenzbasierung als ein Beitrag zur Qualitätssicherung – mit der Konsequenz, dass nur noch solche Behandlungen durchgeführt werden sollen, die dieser Rationalität entsprechen. Es geht bei einer evidenzbasierten Medizin, so Raspe (1996, S. 553), „in einem Wort darum, das Vernünftige sparsam zu tun.“ Beim Kampf um Ressourcen ist demnach derjenige im Vorteil, der sich auf Wirksamkeitsbefunde einer evidenzbasierten Empirie berufen kann.

Dies gilt auch für Psychiatrie und Psychotherapie. Die Paradigmen der evidenzbasierten Medizin haben inzwischen auch diese Fächer erreicht. Zunächst wurden die Konzepte der EBM hauptsächlich von Vertretern der Inneren Medizin und Allgemeinmedizin verbreitet, während Ansätze zu einer ‚Evidence- based Psychiatry’ eher selten waren (...). Doch bekennt sich nun ausdrücklich die American Psychiatric Association in der DSM-IV zu diesem Paradigma: ,We established a formal evidence-based process for the work group to follow (...) More than any other nomenclature of mental disorders, DSM-IV is grounded in empirical evidence’. (Berner et al., 2000, S. 175)

Allerdings wird die Diskussion evidenzbasierter Paradigmen in der Psychiatrie und insbesondere der Psychotherapie und Psychoanalyse besonders intensiv und heftig geführt. Dafür gibt es gute Gründe: Im Übergangsfeld von Biologischem und Sozialem, von Natur und Kultur treten die Folgen eines an naturwissenschaftlichen Standards ausgerichteten Wissenschaftsverständnisses sowie Probleme des Praxistransfers deutlich hervor. Hier zeigt sich, je nach Sichtweise, welche Vor- und Nachteile mit einer Evidenzbasierung verbunden sein können, welcher Gewinn oder Verlust sich aus einer streng empirischen Ausrichtung ergeben mag, welche Möglichkeiten und Gefahren aus dem konkreten methodischen Vorgehen resultieren und wie sich das Verhältnis von Theorie und Praxis im Speziellen darstellt. Dabei geht es um zwei elementare Themenkomplexe: Der eine betrifft die Validität der jeweiligen Handlungskonzepte, einschließlich der ihnen zugrunde liegenden Erklärungsmodelle; der andere bezieht sich auf ihre praktische Wirksamkeit.

Beide Seiten gehören zusammen. Von Verursachungs- und Veränderungskonzepten, die theoretisch nicht zu überzeugen vermögen, wird man am Ende keine ertragreichen Wirkungen erwarten können. Umgekehrt setzen gehaltvolle Resultate eine gelungene theoretische Fundierung voraus. Doch dazu später mehr im Hinblick auf die ADHS- Forschung. In der Methodenauswahl ist die evidenzbasierte Forschung eindeutig positioniert. Den methodischen Goldstandard in der Wirksamkeitsforschung stellen für sie randomisierte kontrollierte Studien (RCT) dar, in allen Bereichen, so auch der Psychotherapieforschung (Schmacke, 2006; Mundt & Backenstraß, 2001). Dem folgend, wird unter anderem von Buchkremer & Klingberg (2001, S. 21) „trotz einiger Begrenzungen der Vergleichbarkeit (...) vorgeschlagen, die Überprüfung von Psychotherapieverfahren in Analogie zur Pharmakaprüfung in Phasen zu konzeptualisieren.“ Sie sehen darin einen unverzichtbaren Baustein zur wissenschaftlichen Fundierung der Psychotherapie, ihm komme im Hinblick auf die „Frage der Wirksamkeit eine (...) besondere und herausgehobene Bedeutung“ zu (ebd., S. 24). Dagegen erhebt Tschuschke (2005, S. 106), selbst ein empirischer Psychotherapieforscher, gravierende Bedenken. Zugespitzt formuliert er: „Die evidenzbasierte Medizin (EBM) fußt in ihrem wesentlichen Bestandteil, der randomisiert- kontrollierten Studie, auf Versuchsbedingungen, die der psychotherapeutischen Situation vollkommen unangemessen sind.“ Tschuschkes Bedenken sind vielfältiger Art. Sie werden u. a. von Mertens (2007) geteilt und lassen sich wie folgt zusammenfassen:

− In der klassischen experimentellen Forschung wird überprüft, wie ein Verum, eine reine Substanz, auf eine gut abgrenzbare Störung wirkt. Placeboeffekte oder suggestive Wirkungen, die etwa von der Person des Arztes ausgehen könnten, gilt es auszuschließen. Eine solche einfache Beziehung ist jedoch in der Psychotherapie von Anfang an nicht gegeben. Als komplexe menschliche Begegnung, in der Veränderungen kommunikativ gesucht werden, entzieht sie sich der Wirkungslogik chemisch identisch aufgebauter Medikamente. Doppelblindversuche sind deshalb undenkbar. Der Therapeut weiß, was er tut, und auch der Patient wird darüber nachdenken, wie und warum er so und nicht anders behandelt wird.

− Eine Zuweisung von Patienten zu der einen oder anderen Therapiemethode widerspricht der Lebensrealität. Patienten suchen aus bewussten wie unbewussten Gründen bestimmte Therapieverfahren und Therapeuten auf. Damit ist bereits eine wichtige Vorentscheidung für den weiteren Behandlungsverlauf getroffen. Aber nicht nur aus pragmatischen, sondern auch aus ethischen Gründen verbietet sich eine von fremden Interessen geleitete Zuordnung, insbesondere dann, wenn sie mit langfristigen Behandlungen verknüpft ist.

− Vor allem diejenigen, die einer intensiveren Behandlung bedürfen, weisen eine Fülle sich überschneidender Probleme auf. Ihre inneren und interpersonellen Verstrickungen sind beträchtlich, vielfältig determiniert und oft lebensgeschichtlich über einen langen Zeitraum gewachsen. Auf das Einheitsmaß einer eng umschriebenen Störung lässt sich ihre Problematik nur selten reduzieren. Weiterhin muss bedacht werden: Ähnlichen oder nahezu identischen Symptombildungen können ganz unterschiedlich gelagerte Konflikte und strukturelle Besonderheiten zugrunde liegen. Die rein phänomenologischen diagnostischen Kriterien von ICD-10 und DSM-IV werden ihnen deshalb nicht gerecht. Zumal dann nicht, wenn aus ihnen diagnosespezifische Behandlungen abgeleitet werden.

− Die Wirksamkeit von Psychotherapie beruht wesentlich auf bedeutsamen Beziehungserfahrungen, auf etwas höchst Persönlichem und Einmaligem. Der Patient  muss in seinem Inneren erreicht werden.*1* Dazu ist ein oft kunstvolles (aber eben nicht künstliches!) Vorgehen notwendig, das sich in einem hohen Maße auf den jeweiligen Patienten einstellt. In randomisiert-kontrollierten Studien gelten solche Einflüsse jedoch als Störfaktoren, die es zu vermeiden gilt. Stattdessen wird auf rezeptartig manualisierte Behandlungen gesetzt, die Individuelles möglichst weitgehend ausschließen sollen.*2*

*1* Aus der Sicht der Hirnforschung besteht darin nach Bauer (2007) eine Grundvoraussetzung für jede Art der Psychotherapie, die eine über das Situative hinausreichende nachhaltige Wirkung erzielen möchte.

*2* Dazu Küchenhoff (2000, S. 15): „’Evidenzbasierung’ ist gefordert, und in einer merkwürdigen, allmählich bereits oft klaglos hingenommenen Begriffsverdrehung wird das, was am wenigsten unmittelbar einsichtig und persönlich erfahrbar ist (das meint Evidenz), als besonders evident betrachtet, z.B. die Ergebnisse hochartifiziell angelegter randomisierter und kontrollierter Studien.“

Nach Mertens (2007) wird die konventionelle Wirksamkeitsforschung der Komplexität zwischenmenschlicher Erfahrungswelten nicht gerecht, schränkt sie nach primär laborexperimentellen Überlegungen unzulänglich ein und erhebt damit methodische Fragen über fachspezifische Notwendigkeiten. Er plädiert deshalb für eine Ausweitung des Forschungsfeldes und einen erweiterten Empiriebegriff. Damit nimmt Mertens ein Desiderat auf, das in der Psychotherapieforschung seit langem besteht. Vor allem soll die Prozessforschung gestärkt und mit der Ergebnisforschung verknüpft werden. Erst wenn deutlich wird, wie und unter welchen Bedingungen sich die Probleme der Patienten in einem interaktiven therapeutischen Prozess ändern, kann über das am Ende dieser Kette stehende Outcome differenziert reflektiert werden. Erst dann lassen sich gut begründete Wirksamkeitskriterien definieren. Als ein wesentliches Element einer qualitativ hochwertigen, methodisch vielgestaltigen Prozess- und Ergebnisanalyse sind vermehrte Fallstudien unentbehrlich. Zwar finden sich auch Stimmen, die dafür plädieren, dass qualitative und hermeneutische Methoden stärker in die evidenzbasierte Forschung einbezogen werden (Schmacke, 2006; Mundt & Backenstraß, 2001). Dieses Anliegen trifft jedoch auf das „vielleicht härteste Vorurteil: qualitative Methoden sind für die Evidence-based Health Care nicht von Gewinn“ (Schmacke, 2006, S. 206). Faktisch spielen sie keine nennenswerte Rolle.

 

Die Psychotherapieforschung muss sich, so Tschuschke (2005), der hochkomplexen psychotherapeutischen Praxis stellen und von der Illusion Abschied nehmen, dass aus einem klassisch laborexperimentellen Vorgehen entscheidende Fortschritte erwartet werden können. Eine genuine Weiterentwicklung der Disziplin kann nur aufgrund der Analyse individualisierter therapeutischer Prozesse erfolgen. Klassisch experimentelle Verfahren sind deshalb durch Studien in naturalistischen Settings abzulösen, die unmittelbar vor Ort ansetzen; dort, wo sich Psychotherapien im Sinne der Patienten beweisen müssen. Insofern bieten sie auch eine realistische Voraussetzung dafür, dass die Qualität der therapeutischen Arbeit verbessert und die Versorgungssituation optimiert wird.

Der entscheidende Grund für einen solchen, von Tschuschke in verschiedenen Schriften ausführlich begründeten Paradigmenwechsel liegt darin, dass er aufgrund der inneren Logik der Psychotherapie erforderlich wird. Die psychotherapeutische Forschung bedarf eines methodischen und methodologischen Zugangs, der ihren fachspezifischen Notwendigkeiten entspricht. Es handelt sich also – das sei ausdrücklich betont – bei der hier diskutierten Problematik keineswegs um ein Transferproblem zwischen Theorie und Praxis, wie es in naturwissenschaftlichen Professionen existiert und dort mit bordeigenen Mitteln gelöst werden kann. Ein Weiteres kommt hinzu: Die geforderte paradigmatische Neuorientierung resultiert bei genauer Betrachtung auch nicht aus der Konkurrenz unterschiedlicher Therapieschulen. Sie ist auf einer anderen Ebene angesiedelt: „Es sollte deutlich werden, das es sich hier nicht wieder einmal um einen verkappten Schulstreit, etwa Verhaltenstherapie gegen Psychoanalyse oder tiefenpsychologische Psychotherapie, handelt, sondern eher um eine Auseinandersetzung akademische Psychologie versus klinische Praxis“ (Tschuschke, 2005, S. 111).

Über Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen

Die multimodale Therapie beruft sich, wie eingangs dargestellt, an einem wichtigen Punkt auf ihre Evidenzbasierung. Damit sichert sie sich einen erheblichen Vorteil: „Die Diagnostik der ADHS ebenso wie die Therapie, auch die psychotherapeutische Behandlung, orientieren sich an den evidenzbasierten Leitlinien der jeweiligen Fachverbände“, so heißt es in den Eckpunkten einer vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherheit durchgeführten Konsensuskonferenz (Eckpunkte, 2002, Punkt 4). Was naturwissenschaftlich exakt gefasst, zweifelsfrei empirisch nachgewiesen und somit „beweisgestützt“ ist, genießt gegenwärtig als wissenschaftlich geprüftes Verfahren hohes Ansehen. Auf der Höhe der Zeit ist, wer handfestes Wissen vorweisen kann, das sich möglichst problemlos in die Praxis umsetzen lässt. Unbequeme, weil Ungewissheit und Spannung erzeugende Fragen aufzuwerfen gilt demgegenüber leicht als ein unnötiges Ärgernis. Ein Beispiel dafür sind die soeben vorgetragenen Ausführungen zur Psychotherapieforschung, die nicht mit dem Charme leichter Lösungen aufwarten können. Deutende und verstehende Beiträge geraten auf breiter Ebene ins Hintertreffen (Nida-Rümelin, 2006; Liessmann, 2006). Insofern dürften die Ergebnisse der Metaphernanalyse, die Brandl zu Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen verfasst hat, auch eine allgemeine Entwicklungstendenz widerspiegeln. Die hohe Affinität zur Funktionalität und einem technologischen Umgang mit menschlichen Problemen, die dort so deutlich zutage tritt, findet sich inzwischen auch in vielen anderen Lebensbereichen wieder. Doch wie sieht es genau mit dem wissenschaftlichen Gehalt der multimodalen Therapie aus? Der Logik evidenzbasierter Forschung folgend, wird zunächst ihre interne Validität betrachtet und sodann auf Wirkungsnachweise eingegangen.

Die interne Validität der multimodalen Therapie

Die multimodale Therapie beruht auf einem ätiologischen Modell, in dessen Zentrum Besonderheiten neuronaler Netzwerke und synaptischer Verschaltungen stehen. Ein mangelnder Dopamintransport ist das zentrale Stichwort. Verantwortlich gemacht werden hierfür genetische Faktoren – zwar nicht ausschließlich, aber doch in erster Linie. Sie können im späteren Leben durch äußere Einflüsse noch begrenzt modifiziert werden. Da diese Erklärungstheorie weithin bekannt ist, muss sie hier nicht weiter ausgeführt werden.

Überraschend ist allerdings, wie sehr dieses medizinisch und biologisch fundierte Modell elementare Erkenntnisse der neueren Hirnforschung ignoriert. Bauer (2007), van Gisteren (2007), Ansermet & Magistretti (2005), Singer (2002, 2003) und viele andere haben eindrucksvoll beschrieben, dass sich die Beziehung zwischen Erbe und Umwelt, Natur und Kultur heute ganz anders darstellt, als es das multimodale Modell behauptet. Zur Entwicklung von Hirnstrukturen tragen soziale Einflüsse und Beziehungserfahrungen wesentlich bei. Einschneidende Umwelterfahrungen, insbesondere die der frühen Kindheit, führen zu nachhaltigen funktionellen Veränderungen des Gehirns. Die neurobiologische Ausstattung des Menschen entfaltet sich also, kurz gefasst, im Rahmen sozialer Erfahrungen, vor allem von Beziehungsgeschichten. Selbst die Annahme, Gene würden Grundeigenschaften des Organismus unveränderlich festlegen, hat sich inzwischen als unhaltbar erwiesen. Auch die Aktivierung von Genen hängt von Umwelteinflüssen ab, zwischenmenschliche Erfahrungen können sich bis in die Genregulation hinein auswirken. Dazu Bauer (2007, S. 9):

Bei der Funktion der Gene sind (...) zwei Aspekte zu berücksichtigen: Der erste Aspekt der Genfunktion ist der ‚Text’ eines Gens, der auch als ‚DNS-Sequenz’ bezeichnet wird. Dieser ‚Text’ ist in einem Lebewesen ein für alle Mal festgelegt, er geht auch in die Erbfolge ein. Sieht man jedoch von den sehr seltenen, echten Erbkrankheiten einmal ab, so ist der andere Aspekt, der die Regulation der Genaktivität betrifft, für sämtliche gesundheitsrelevante Körperfunktionen durchaus wichtiger. (...) Die Regulation der Genaktivität unterliegt im hohen Maße situativen Einflüssen und wird überwiegend nicht vererbt. Sie richtet sich nach den aktuellen Umgebungsbedingungen, sowohl nach jenen der einzelnen Körperzellen als auch nach denen des gesamten Organismus. Erst in jüngster Zeit wurde außerdem entdeckt, dass individuelle Erfahrungen im Organismus Reaktionsmuster ausbilden können, die einen Einfluss auf die Regulation der Genaktivität in zukünftigen Situationen haben. Es wurde experimentell gezeigt, dass bestimmte genetische Reaktionsmuster durch Erlebnisse und Erfahrungen ‚eingestellt’ werden können.

Angesichts dieser Befundlage bedürfen die bei einem Teil der hyperaktiven und aufmerksamkeitsgestörten Kinder vorzufindenden organischen Besonderheiten einer Neubewertung. Die enorme Plastizität des Gehirns, das sich nutzungs- und erfahrungsabhängig aus- und umformt, verbietet jede nahezu ungebrochene, fast monokausale Ableitung, die von einem organischen Defekt ausgeht. Das bedeutet auch, dass sich die Dopaminmangelhypothese in der vorgetragenen Eindimensionalität nicht mehr aufrechterhalten lässt. Die Gruppe der hyperaktiven und aufmerksamkeitsgestörten Kinder ist ätiologisch sehr heterogen, eine neurologische Mitbedingtheit in unterschiedlichem Maße gegeben. Bei einer großen Gruppe von Kindern entsteht das Störungsbild ohne organischen Hintergrund (Leuzinger-Bohleber et al., 2008).

Notwendig sind vielmehr komplexe Modelle, die sich dem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis von Hirnentwicklung und Lebenspraxis stellen. Hüther (2006) sowie Hüther & Bonney (2002) gehen davon aus, dass einige Kinder bereits in ihrem frühen Leben über eine besondere Reizoffenheit verfügen. Ihr dopaminerges System ist vergleichsweise dicht ausgebildet, es neigt zu verstärkter Aktivität. Die Gründe dafür können in genetischen Prädispositionen, intrauterinen Einflüssen oder sehr frühen Lebenserfahrungen liegen. Diese mitgebrachte Grundausstattung führt dazu, dass solche Kinder stärker auf Außenreize reagieren und vergleichsweise unruhiger sind.

Entscheidend ist nun aus Hüthers Sicht, welches psychologische und soziale Schicksal diese relativ unspezifische, in der Regel noch nicht sonderlich gravierende Besonderheit erfährt. Sie lässt sich aus seiner Sicht durch günstige, für die kindliche Entwicklung adäquate Beziehungs- und Erziehungserfahrungen erheblich korrigieren. Dafür sind intensive, emotional angereicherte und lang anhaltende Beziehungen erforderlich, die ordnungsbildende Strukturen bieten, die Sicherheit und Halt geben. Sie können dafür sorgen, dass die kindliche Entwicklung in ruhigeren Bahnen verläuft. Das Gehirn hat dann die Möglichkeit, sich in einer fruchtbringenden Weise an die veränderten Nutzungsbedingungen anzupassen. Anderenfalls, bei unsicherer und unstrukturierter Umgebung, wird das dopaminerge System in einen Zustand fast permanenter Überreizung gebracht. Die kindliche Unruhe verstärkt sich weiterhin, in der Hirnentwicklung verfestigen sich strukturelle und funktionelle Besonderheiten. Diese sekundären Prozesse haben nach Hüther entwicklungspsychologisch und hirnphysiologisch ein deutlich stärkeres Gewicht als die vorgegebene Ausgangslage.

Dadurch, dass sich erschwerte und misslungene Lebenserfahrungen hyperaktiver und aufmerksamkeitsgestörter Kinder innerlich niederschlagen, ist keine ausschließlich medikamentöse Lösung möglich. Es bedarf vielmehr neuer Lebenserfahrungen, daran lassen auch medizinische Fachleute wie Hüther (2006), Bauer (2007) und Amft (2006) keinen Zweifel. Mit der neurowissenschaftlich zeitgemäßen Erweiterung ihres Aufmerksamkeitsfokus wollen sie der offensichtlichen Komplexität des Gegenstandsbereiches gerecht werden. Ihre Absicht ist es ausdrücklich nicht, eine neue oder gar anti-biologische Doktrin zu fördern.*3* Sie öffnen aber den Blick für die individuelle Lebensgeschichte, für die ihr immanenten inneren und äußeren Verstrickungen und die kulturelle Einbindung des Individuums. Dabei ist es allerdings erforderlich, weiter zu differenzieren. Die bisher bemühten Kategorien wie Bindung, emotional gesättigte Erfahrungen oder haltender Rahmen sind noch recht allgemeiner Natur. Sie bedürfen einer Ausformung, die Gegenstand der psychoanalytischen Theorie und Praxis ist.

*3* Was medikamentös gelingt, ist eine Dämpfung der Symptome, die im Einzelfall sehr hilfreich sein kann (Grothe & Horlbeck, 2006). Für eine prinzipielle Ablehnung der Medikamentenvergabe wird deshalb vor dem Hintergrund der Heterogenität der Personengruppe nicht plädiert.

In jüngerer Zeit mehren sich die psychoanalytischen Schriften zu Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen (Amft, Gerspach & Mattner, 2004; Bovensiepen, Hopf & Molitor, 2002; Leuzinger-Bohleber, Brandl & Hüther, 2006; Heinemann & Hopf, 2006; Ahrbeck, 2007a; Warrlich & Reinke, 2007). Sie zeigen, wie gewinnbringend es sein kann, sich mit der Innenwelt und der äußeren Realität solcher Kinder zu beschäftigen. Ihre oft lärmende Symptomatik lässt sich bei sorgfältiger Analyse ihrer aktuellen und vergangenen Lebensrealität als sinnhafter Ausdruck einer inneren Not verstehen, der sie hilflos ausgeliefert sind. Dabei mag es in eher reiferer Form um relativ gut umschreibbare, aber dennoch schwer lösbare Konflikte mit der Umwelt gehen. Bei anderen Kindern stellt sich die Problemlage strukturell gravierender dar, etwa dadurch, dass elementare psychische Leistungen wie Symbolisierungen nicht gelingen. Diese schwerer beeinträchtigten Kinder verfügen fast regelhaft über eine ungesicherte und stark ängstigende innere Erlebenswelt. Die sie bedrängenden inneren Spannungen sind so unerträglich, dass sie in Ermangelung eigener Worte umstandslos in Aktionen umgesetzt werden. Und sei es auch nur in der Hoffnung auf eine kurzzeitige innere Befreiung. Erst ein Verständnis solcher inneren Bewegungen ermöglicht es, dass pädagogisch und therapeutisch reflektiert Beziehungserfahrungen hergestellt und Einsichten erworben werden, die zukünftig über die symptomatische Oberfläche hinaus ein freieres Leben ermöglichen.

Die Gruppe der als hyperaktiv und aufmerksamkeitsgestört deklarierten Kinder ist, wie sich gezeigt hat, in vielfältiger Hinsicht heterogen. Ihre inneren Konfliktlagen variieren erheblich, ebenso wie die Ausformungen ihrer psychischen Struktur. Ein einheitliches, vornehmlich auf der Symptomatik basierendes Krankheitsverständnis lässt sich somit nicht bestätigen (Bürgin & Steck, 2007; Hopf, 2007; Leuzinger-Bohleber, Staufenberg & Fischmann 2007; Leuzinger-Bohleber, Fischmann, Göppel, Läzer & Waldung, 2008). Weiterhin gibt es Gründe dafür, sich genauer mit kulturellen Rahmenbedingungen auseinanderzusetzen. Der beschleunigte gesellschaftliche Wandel hat dazu geführt, dass das Alltagsleben in wichtigen Segmenten hektischer und unruhiger geworden ist. Zeit steht zumindest im subjektiven Erleben immer weniger zur Verfügung. Kurzfristiges und Unmittelbares gewinnen an Gewicht, die mediale Reizflut nimmt zu. In einer klugen Studie über die „Erregte Gesellschaft“ hat Türcke (2002) eindrucksvoll ausgeführt, wie sehr sich dadurch Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesse ändern. Wer auf der Höhe der Zeit sein will, muss zu einer ständig wechselnden Aufmerksamkeit in der Lage sein. Bewegung und eine rastlose Unruhe sind das Motto der Zeit, nichts wird so sehr gefürchtet wie der Stillstand. Auch wenn der kulturelle Rahmen und das individuelle Seelenleben in keinem geradlinig ableitbaren Verhältnis stehen, sind die hier nur angedeuteten symptomatischen Übereinstimmungen zwischen kultureller Entwicklung und Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen frappierend. Ausführliche Überlegungen dazu finden sich bei Ahrbeck (2007a) und Rosa (2005).

Wirksamkeitsnachweise der multimodalen Therapie

Die multimodale Therapie soll in ihrer Wirksamkeit den Kriterien einer evidenzbasierten Medizin in besonderem Maße entsprechen. Als ein wesentlicher Beleg wird angeführt, dass bei entsprechender Medikamentenvergabe symptomatische Veränderungen nachweisbar sind. Bei der Mehrzahl der behandelten Kinder reduzieren sich demzufolge die Kernsymptome: Ihre Unruhe nimmt ab, sie lassen sich weniger leicht ablenken und können ihre Aufmerksamkeit gezielter ausrichten. Angesichts der erheblichen Belastung, die oft für alle Beteiligten besteht, ist es nachvollziehbar, dass diese symptomatische Veränderung begrüßt wird. Zwar mag es neue Sorgen bereiten, dass das Kind nur unter Medikamenten funktioniert, sich erst dadurch als „normal“ erweist – an der unmittelbaren Wirksamkeit des Medikamentes ändert dieser Einwand aber nichts.*4* Nach Hüther beschränkt sich die Wirksamkeit aber auf den Vergabezeitraum:

„Klinisch lässt sich selbst nach jahrelanger Methylphenidat-Einnahme keine stabile Besserung der Symptomatik nach Absetzen der Medikation verzeichnen“ (Hüther, 2006, S. 223). Die mittel- und langfristigen Effekte dieser Medikamentenvergabe sind höchst umstritten, sowohl im Hinblick auf die körperlichen als auch die psychischen Folgen.

*4* Allerdings gilt dies nicht für alle Kinder. Döpfner, Schürmann & Fröhlich (1998) geben an, dass etwa 70 bis 90 Prozent der Betroffenen medikamentös erreicht werden. Für eine nicht zu vernachlässigende Zahl von Kindern, auch wenn sie die Minderheit bilden, hilft der medikamentöse Weg nicht weiter.

Dazu nur zwei beispielhafte Belege: Aufgrund der vom Vorstand der Bundesärztekammer zusammengestellten Daten werden negative Folgen verneint. Eine Nachuntersuchung zu der weithin anerkannten MTA-Studie (1999) hingegen kommt zu einem anderen Ergebnis: Drei Jahre nach dem Ende der Studie war der Unterschied zwischen medikamentös und nicht behandelten Patienten nicht mehr signifikant. (...) Im Vergleich zu ADHS-Patienten, die niemals Methylphenidat erhalten hatten, blieben die medikamentös behandelten Kinder körperlich zurück. (...) Im Vergleich zu Nichterkrankten wurden sie dreimal häufiger straffällig und nahmen doppelt so häufig Drogen. (BPtK-Newsletter, 2007, S. 8)

Die insgesamt widersprüchliche Datenlage kann hier nicht weiter analysiert und diskutiert werden. Festzuhalten ist jedoch, dass wichtige Fragen zur Medikamentenwirksamkeit noch ungeklärt sind und ein weiterer erheblicher Forschungsbedarf besteht. Die Ergebnisse zur Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer Interventionen fallen ebenfalls uneinheitlich und teilweise kontrovers aus. Auch dazu ist nur eine kurze beispielhafte Erläuterung möglich, die unterschiedliche Positionen markiert. Lehmkuhl & Döpfner (2006) stellen fest, dass eine verhaltenstherapeutisch ausgerichtete Kombinationsbehandlung durchgängig zu keinem besseren Ergebnis führt als eine durch Beratungen ergänzte Medikamentenvergabe. Eine zusätzliche Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer Interventionen kann also nicht nachgewiesen werden. Dieses Ergebnis findet eine Bestätigung in der Nachuntersuchung zur bereits genannten MTA- Studie, die ergibt, „dass die Symptome der ADHS durch Medikamente stärker vermindert wurden als unter den anderen Therapieformen. Die Kombination der medikamentösen Therapie mit intensiver Verhaltenstherapie hat keine signifikant besseren Ergebnisse gezeigt“ (Edel & Vollmoeller, 2006, S. 55). Dem stehen Studien gegenüber, die auf die nachgewiesene Wirksamkeit verhaltenstherapeutischer Interventionen verweisen, oft allerdings im Rahmen breiter angelegter Förderprogramme. Eine Übersicht für den deutschsprachigen Raum legen Walter & Ellinger (2008) vor. Insgesamt scheinen die Grenzen verhaltenstherapeutischer Interventionen aber enger zu sein, als gemeinhin angenommen wird.*5* Auch hierzu besteht weiterer Klärungsbedarf.

*5* Dies  gilt  insbesondere  für  die  kognitive  Verhaltenstherapie.  Positive  Effekte  finden  sich  in  empirischen Untersuchungen nur selten, und die erhofften Transferwirkungen lassen sich kaum je belegen. Vor allem stellen sich keine Wirkungen ein, die über eine medikamentöse Therapie hinausgehen oder diese ersetzen könnten (Abikoff, 1991; Lauth & Schlottke, 2004; Jacobs & Petermann, 2005).

Aufgrund der bestehenden Befundlage muss konstatiert werden, dass die multimodale Therapie auf keine durchgängig überzeugenden evidenzbasierten Ergebnisse zurückgreifen kann. Damit verliert auch das Gesamtkonzept der multimodalen Therapie an Überzeugungskraft.

Abschließende Überlegungen

Der Mainstream der Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsforschung befürwortet eine technologisch konzipierte multimodale Therapie, die sich symptomatische Veränderungen zum Ziel gesetzt hat. Jede grundlegend anders gelagerte Kodierung des Phänomens wird als überflüssig betrachtet. Als Begründung dafür dient, dass die multimodale Therapie als evidenzbasiertes Verfahren ausgewiesen ist. Sie folgt damit einem Forschungsparadigma, das in der Medizin als besonders zukunftsträchtig gilt.

Seine Ursprünge liegen in der laborexperimentellen pharmakologischen Forschung. Evidenzbasierte Verfahren müssen sich in zwei Richtungen legitimieren: In Bezug auf ihre theoretische Stimmigkeit sowie hinsichtlich der von ihnen erbrachten Wirksamkeitsnachweise. Um die interne Validität der multimodalen Therapie ist es allerdings, wie bereits gezeigt wurde, nicht gut bestellt. Das den Handlungskonzepten zugrunde liegende ätiologische Modell stellt, wie Amft (2006, S. 73) berechtigterweise anmerkt, „einen wissenschaftlichen Rückschritt“ dar. Die Resultate der neueren Hirnforschung werden nur unzureichend zur Kenntnis genommen. Gleichermaßen bleiben die in den letzen Jahren deutlich gewachsenen Erkenntnisse zu Psychodynamik und strukturellen Besonderheiten der Persönlichkeitsentwicklung unberücksichtigt.

Lebensgeschichte und Beziehungserfahrungen, die in einen bestimmten kulturellen Rahmen eingebettet sind, stellen in der multimodalen Therapie allenfalls ein Randthema dar. Eine auf das Innere der Person bezogene Spurensuche findet, dem psychoanalytischen Wissen zum Trotz, keine Beachtung. Insofern fällt die Bilanz zur internen Validität ernüchternd aus. Mit Beharrungsvermögen und durchaus wirkungsmächtig wird jedoch nicht nur an den alten Theorien festgehalten, sondern ebenso an der sie begleitenden Praxis. Aber auch hier zeigt sich, dass ihre auf die Symptomatik beschränkten Wirksamkeitsnachweise nicht durchgängig überzeugen. An erster Stelle steht die bei den meisten Kindern nachgewiesene Wirksamkeit der medikamentösen Behandlung. Die anderen Elemente der multimodalen Therapie fallen dagegen ab, insbesondere die verhaltenstherapeutischen Interventionen bleiben in ihren Resultaten bemerkenswert blass.

Kritische Überlegungen zur Psychotherapieforschung haben gezeigt, dass sich die Komplexität menschlichen Seelenlebens nur unter erheblichen Verlusten in das Korsett einer Serumforschung pressen lässt. Persönliche und kulturelle Einflüsse werden dadurch, dass sie auf die Funktionsweise einfacher Wirkstoffe reduziert werden, ausgeschlossen, der Forschungsgegenstand in hohem Maße entindividualisiert. Leitende Prinzipien der evidenzbasierten Forschung auf seelische Phänomene und zwischenmenschliche Beziehungen zu übertragen ist also alles andere als unproblematisch. Prägnant formuliert: Die evidenzbasierte Forschung eignet sich für die Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen nur dann, wenn – wie Brandl (2007) gezeigt hat – eine Konzeptualisierung analog zu den Gesetzmäßigkeiten der Maschinen- und Computerwelt erfolgt. Mit der multimodalen Therapie wird genau dies versucht.

Angesichts der in diesem Beitrag nur grob skizzierten, in den letzten Jahren erheblich erweiterten und vertieften Erkenntnisse zur intrapsychischen und interpersonellen Dynamik sowie der kulturellen Einbettung von Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen eröffnet sich nunmehr eine zeitgemäßere Perspektive. Sie stellt das Kind und seine Lebenspraxis in den Mittelpunkt ihres Interesses. Die durch Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen beschwerten Kinder treten dadurch als Subjekte in Erscheinung, als Akteure der eigenen Entwicklung, die in eine schwierige Lebenssituation geraten sind. Als Menschen mit einer persönlichen Geschichte, individuellen Beziehungserfahrungen, innerer Konflikthaftigkeit und strukturellen Besonderheiten der Person. Durch diese Hinwendung zur Person werden etwaige hirnstrukturelle und funktionelle Besonderheiten weder geleugnet noch in ihrer Bedeutung gering geschätzt. Im Blick behalten wird aber auch, dass die Entwicklung des Kindes niemals in einen gesellschafts- und kulturfreien Raum gerät. Lebensgeschichte, Beziehungsgestaltung und psychische Repräsentanzenbildung stellen auch bei der Anerkennung organischer Besonderheiten bedeutsame und unverzichtbare Kategorien dar (Hüther, 2006).

Diese Einsicht resultiert aus keiner nunmehr entschiedenen Kontroverse zwischen den Naturwissenschaften einerseits und den Geistes-, Sozial- und Gesellschaftswissenschaften auf der anderen Seite. Beide stehen schon längst in keinem voneinander separierten oder gar antagonistischen Verhältnis mehr. Die Trennungslinie, um die es hier geht, ist eine andere. Sie verläuft entlang zweier anthropologischer Verortungen, die sich heute in beiden großen Wissenschaftsbereichen finden. Die erste Position bezieht sich auf das Kind als Träger eines Mangels, der sich sowohl organisch wie psychologisch verorten lässt. Bei hyperaktiven und aufmerksamkeitsgestörten Kindern paart sich folglich ein hirnstruktureller und - funktioneller Defekt mit einem Defizit in der Selbststeuerung. Beide sollen von außen aufgefüllt und als Schaden repariert werden: Durch ein Medikament oder eine bewusst auf der äußeren Ebene angesiedelte Verhaltenskorrektur. Die evidenzbasierte Forschung entspricht dem passgenau. Die andere Position sieht in dem hyperaktiven und aufmerksamkeitsgestörten Kind ein Subjekt, das lebensgeschichtlich in Schwierigkeiten geraten ist und deshalb Symptome entwickelt. Das Kind erscheint hier als aktiv handelndes, in seinem Kern konflikthaftes Wesen, das in einem komplexen Bedingungsgefüge zwischen organischer Basis sowie seiner inneren und äußeren Realität aufwächst. Die Lebensumstände zu analysieren ist dann das vorrangige Ziel. Forschungsstrategien und Forschungsmethoden müssen sich entsprechend daran ausrichten und dem gerecht werden.

(Anschr. d. Verf.: Prof. Dr. Bernd Ahrbeck, Humboldt-Universität zu Berlin, Philosophische Fakultät IV, Institut für Rehabilitationswissenschaften, Georgenstraße 36, 10099 Berlin, E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!)

 

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