Fachbeiträge

Fachtexte zu «ADHS» von unseren Kuratoriumsmitgliedern

Vorgeburtliche Bindungserfahrungen - Konsequenzen für die Interpretation und Begleitung von Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten

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Kontinuitätüber die Geburt hinaus: Mütter, die mehrere Kinder geboren haben, bemerken bei ihren Kindern Verhaltensweisen, die sie schon während der Schwangerschaft als charakteristisch und anders als bei den Geschwistern wahrgenommen hatten. "So hat er mich schon vor der Geburt in die Leber getreten", könnte etwa eine Beinbewegung auf dem Wickeltisch kommentiert werden. Die Vorstellung von der Kontinuität der vor- und nachgeburtlichen Entwicklung findet sich  darüber hinaus quer durch die Zeiten und Kulturen. So schreibt der englische Dichter  Samuel Taylor Coleridge im Jahre 1802: "Die Geschichte des Menschen in den neun Monaten, die seiner Geburt vorausgehen, wäre vermutlich weit interessanter und enthielte Ereignisse von größerer Tragweite als alle drei Lebensalter und Jahrzehnte, die ihr folgen." (zit. nach Macfarlane 1977, 11). Trotzdem wird nicht nur im Alltag, in der standesamtlichen "Erfassung", sondern auch in der Säuglingspsychologie die Geburt als Beginn des Lebens behandelt. Dabei hat der bekannte Kinderneurologe Heinz Prechtl bereits im Jahre 1984 die Erwartung, "daß es zur Anpassung an die Erfordernisse der neuen Umgebung einer umfangreichen Veränderung des funktionellen Profils beim gerade geborenen Organismus bedarf", als "naiv" bezeichnet und darauf hingewiesen, daß "das neurologische Repertoire eine eindrucksvolle Kontinuität im Verlauf des Übergangs vom intrauterinen zum extrauterinen Leben" zeigt und die Veränderungen sich "auf wenige vitale Anpassungen zu beschränken" scheinen (Prechtl 1984, 8). Aus einer ganz anderen Perspektive kommt die Kinderanalytikerin Piontelli zum selben Resultat. Sie beteiligte sich an den routinemäßigen Ultraschalluntersuchungen ab der 20. SSW in der Klinik und verglich die dabei gewonnenen Eindrücke mit ihren Beobachtungen der Kinder und den Berichten der Eltern über einen Zeitraum, der unmittelbar nach der Geburt begann und zum Teil bis ins 5. Lebensjahr  reichte. Zusätzliche Informationen erhielt sie bei einigen Kindern, die zu ihr in  Psychotherapie kamen. Sie schreibt, "dass der Geburtsvorgang selbst bei keinem der von ihr beobachteten oder behandelten Kinder eine grundlegende psychische oder emotionale Veränderung gegenüber dem pränatalen Zustand bewirkt hatte. Vielleicht können wir uns die Geburt als Klimax des pränatalen Zustands vorstellen, eine Art Crescendo, das in den postnatalen Zustand überleitet, ohne die Verbindungen mit pränatalen Mustern zu durchtrennen" (Piontelli 1996, 319). An vielen Beispielen konnte sie zeigen, wie pränatale Verhaltensmuster nach der Geburt weiter bestehen: So bei einem Kind, das während der Ultraschallbeobachtung dadurch auffiel, dass es sich häufig an die Plazenta anzukuscheln schien. In der Kindergartenzeit hatte es die Angewohnheit, sich dadurch zu beruhigen, dass es mit einem Kissen an der Wange herumlief. Über ein anderes Kind schreibt sie: "Solange Gianni im Uterus lebte, hielt er sich nahezu unentwegt an der Nabenlschnur fest. Er war extrem immobil und mußte duch Kaiserschnitt entbunden werden. Der Geburtshelferin fiel seine ‘starre Unbeweglichkeit’ auf. Heute ist Gianni ein ausgesprochen zwanghaftes Kind. Er klammert sich an genau festgelegten Abläufen fest wie früher an der Nabelschnur" (Piontelli 1996,317). Besonders eindrucksvoll war für Piontelli, wie die unterschiedlichen Interaktionsformen zwischen Zwillingen sich nach der Geburt fortsetzten. So nahmen die Zwillinge Luca und Alice schon pränatal durch die sie trennende Membran offensichtlich liebevoll Kontakt miteinander auf. Im Alter von einem Jahr streichelten sie sich durch einen Vorhang hindurch. Später, im Kindergarten, versteckte sich jeder auf einer Seite des Vorhangs, der ihnen als trennende Membran zu dienen schien. "Dann streckte Luca die Hand aus, Alice näherte sich ihr mit dem Kopf, und unter Glucksen und Kichern begannen sie, einander zu streicheln" (Piontelli 1996,194). Die Konsequenzen aus ihren Beobachtungen kommentiert Piontelli folgendermaßen: "Pina war bis zu einer drohenden Fehlgeburt infolge einer Plazentalösung ein abenteuerlustiger, aktiver Fetus gewesen.

Danach hörte sie auf, sich zu bewegen. Sie ist ein aktives und unternehmungslustiges Kind, leidet allerdings unter recht schweren klaustrophobischen Ängsten, ist beinahe anorektisch und fürchtet sich davor, ‘weggeschwemmt’ zu werden (S. 317) .... Ich vermute, dass ich die langfristigen Folgen des intrauterinen Traumas vor dieser Forschung auch bei einem Kind wie Pina eher bagatellisiert hätte. Da an der unterstützenden Haltung der Mutter nicht zu zweifeln war, hätte ich Pinas Klaustrophobie und Anorexie vermutlich auf irgendeinen angeborenen Faktor zurückzuführen versucht" (S. 325-326).

Säuglingsforschung und die Geburt als "Stunde Null"

Die weitreichende Bedeutung dieser Beobachtungen für das Verständnis von Verhaltensweisen bei Säuglingen findet ihre indirekte Bestätigung in einer Säuglingsforschung, die den vorgeburtlichen Entwicklungsabschnitt ausklammert und mit der Geburt als "der Stunde Null" beginnt. Der Säuglingsforscher Dornes berichtet über ein Experiment, "in dem acht Wochen alte Säuglinge die Gelegenheit hatten, an einer Schnur zu ziehen, die um ihren Arm gewickelt war. Dadurch wurde ein interessantes Ereignis  ausgelöst, z.B. das Bild eines lächelnden Kindes, das von einer Melodie aus der Sesamstraße begleitet war. Säuglinge entdecken den Zusammenhang sehr schnell. Sie ziehen daraufhin vermehrt und mit Freude an der Schnur. Dann wird das Experiment verändert. Das Schnurziehen löst plötzlich nicht mehr das erwartete Ereignis aus" (Dornes, 1998, 21). 80 Prozent der Säuglinge reagierten mit Zeichen von Ärger und 20 Prozent mit offensichtlicher Trauer. Dornes kommentiert dies mit den Worten: "Warum das so ist, ist unklar. Vielleicht hängt es mit angeborenen oder früh erworbenen Temperamentsunterschieden zusammen" (Dornes 1998, 21). Deutlich wird hier die Hilflosigkeit bei der Interpretation von postnatalen Verhaltensweisen, wenn die vorgeburtliche Phase aus der Betrachtung ausgeschlossen bleibt. Dies ist vor allem für die neuere Säuglingsforschung konsequenzenreich: Geht es hier doch um einen Säugling, der nicht mehr als autistisch mit sich selbst beschäftigt oder symbiotisch mit der Mutter verschmolzen vorgestellt wird, sondern als "kompetent" und fähig, ab der Geburt als selbständig, begrenzt und aktiv mit der Umwelt in Beziehung zu treten (Dornes 1993). Die Schwierigkeit, sich einen in dieser Weise kompetenten Säugling von Geburt an vorzustellen, ohne eine darauf hinzielende Entwicklungsphase einzubeziehen, führt bei Stern zu widersprüchlichen Formulierungen. So nimmt er an, dass dem "Empfinden eines Kernselbst" ( "Sense of a Core Self") ab dem Alter von zwei Monaten eine Phase des "Empfindens eines auftauchenden Selbst" ("Sense of an emergent Self") vorangeht. Nach seinen Worten ist in dieser Zeit "die Bezugsorganisation für das Selbstempfinden noch im Entstehen begriffen, anders ausgedrückt, sie taucht auf" (Stern 1992, 73). Bedeutet "auftauchen" nicht das Sichtbar- werden von etwas vorher bereits Vorhandenem, das lediglich vorborgen war? Ist ein Schwimmer im Augenblick des Auftauchens "im Entstehen begriffen"?

Neurophysiologische Grundlagen: die amodale Wahrnehmung

In der Literatur zur Bedeutung pränataler Erfahrungen für die spätere Entwicklung findet sich eine Fülle von Hinweisen darauf, dass diese Erfahrungen Spuren hinterlassen (siehe die Übersichtsarbeiten von Chamberlain (1997) und Janus (2000), die Erfahrungen von Dowling (1988) über die therapeutische Wirkung von Höhlen- und Tunnelspielen sowie die Neuinterpretation des Konzepts von Melanie Klein durch Janus (1989) und die Konsequenzen pränataler Befunde für Konzepte der Säuglingsforschung bei von Lüpke (1995, 1997). Im Folgenden sei auf ein neurophysiologisches Phänomen hingewiesen, das - ursprünglich von Säuglingsforschern entdeckt ( Meltzoff et al. 1979) - heute in der Hirnforschung als wichtige Voraussetzung für Lernprozesse eingeschätzt wird (Freeman 1995, Thelen & Smith 1998). Es geht dabei um das Phänomen, dass der Input über die Sinnesorgane nicht nur in den jeweils zuständigen Assoziationszentren verarbeitet, sondern auch in die von anderen Sinnesorganen abgezweigt wird. Man spricht in diesem Zusammenhang von amodaler Wahrnehmung. Damit ist gemeint, daß die Wahrnehmung über die einzelnen Sinnesorgane nicht getrennt als Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken etc., sondern als Einheit empfunden wird. Das bedeutet, daß Erfahrungen über einen Sinneskanal auch im Erfahrungsbereich anderer Sinnesqualitäten (Modalitäten) verfügbar sind. Meltzoff  et al. zeigten, dass Säuglinge schon wenige Wochen nach der Geburt die unterschiedliche Konfiguration von Schnullern, die sie zunächst nur im Mund gespürt hatten, auch optisch differenzieren konnten - was sie nach der klassischen und heute noch allgemein akzeptierten Entwicklungspsychologie von Piaget erst ab 18 Monaten können "dürften". Es ist anzunehmen, dass dieser Art der Wahrnehmung eine besondere Bedeutung für Erinnerungen zukommt, vor allem bei Übergängen zwischen Phasen mit unterschiedlicher Umwelterfahrung. So können offensichtlich die kontinuierlichen Beziehungserfahrungen während der Schwangerschaft, vermittelt über hormonale, akustische, vestibuläre, olfaktorische und taktile Signale im Uterus später auch der bis dahin kaum aktivierten Sinnesmodalität des Sehens zugänglich werden. Nur so ist es zu verstehen, dass Neugeborene unmittelbar nach der Geburt konzentriert das Gesicht der Mutter fixieren.

Eigentlich wäre anzunehmen, dass dieses Gesicht wie die gesamte übrige Umwelt dem neugeborenen Kind völlig unbekannt ist und dass es zunächst orientierungslos mit den Augen herumirrt. Jenes immer wieder beobachtete konzentrierte Fixieren der Mutter spricht also dafür, dass das Kind im Gesicht der Mutter etwas wiedererkennt, dem aus einer vorangegangenen Erfahrung heraus für dieses Kind bereits Bedeutung zukommt. In Sprache übersetzt könnte das heißen: "Nun kenne ich dich neun Monate, so siehst du also aus". Die Bedeutung dieser amodalen Wahrnehmung ist kaum zu überschätzen: Bietet sie doch die Vorausetzung dafür, dass frühe Erfahrungen auch in späteren Entwicklungsphasen wirksam werden können - unabhängig davon, welche Sinnesorgane zur Zeit dieser frühen Erfahrungen bereits ausgereift waren. Thelen & Smith (1998) sprechen von einem "Multisensory Space". Eine Revision der Entwicklungspsychologie des jungen Säuglings steht an. Sie kann nicht mehr gesehen werden unter dem Aspekt eines Neubeginns, sondern unter dem einer Fortsetzung, eines ständigen Vergleichs zwischen bereits Bekanntem und neu Erlebtem. So sind die ersten beobachtbaren Handbewegungen des jungen Säuglings nicht mehr im Sinne von Piaget als Reflexbewegungen zu verstehen, über die sich langsam ein Schema der Umwelt zusammensetzt, sondern als Ausdruck eines Vergleichs mit bereits bekannten Berührungsqualitäten, vermittelt über Plazenta, Nabelschnur, Uteruswand im Sinne von Umwelterfahrung und Berührung des eigenen Körpers (z.B. mit dem Daumen in der Mundhöhle) als Wahrnehmung der eigenen Person. Aber nicht nur um sensorische Erinnerungen geht es hier, sondern vor allem auch darum, dass die vorangegangenen Erfahrungen kontinuierlich eingefärbt sind durch die Beziehung zur Mutter und - über sie -  zur übrigen Umwelt. Das Berühren der Uteruswand vermittelt nicht nur taktile Erfahrungen, sondern geht einher mit hormonalen, akustischen und vermutlich einer Vielzahl anderer Signalen, die mit den heute verfügbaren Methoden nicht darstellbar sind. Über die amodalen Verflechtungen ergibt sich daraus eine zusammenhängende einheitliche Wahrnehmung.

Nichts ist dabei lediglich materiell: auch die Berührung der Uteruswand vermittelt über psychosomatische Wege wie Wechsel im Tonus, der Motilität, der Durchblutung etc. persönliche Botschaften. Vieles, was bisher beim Säugling als angeborenes Schema angesehen wird, etwa die Bevorzugung runder harmonischer Gesichtsformen gegenüber bizarren oder die synchroner Lippenbewegungen gegenüber asynchronen sind im Kontext solcher Erfahrungen und ihrer amodalen Verschiebung auf andere, insbesondere optische Sinneskanäle zu verstehen.

Konsequenzen für die Bindungsforschung und andere Forschungsdesigns

Auch die Schlußfolgerungen der Bindungsforschung ändern sich, wenn Bindung nicht als Neuanfang ab der Geburt, sondern als eine Fortsetzung schon vorhandener Bindungserfahrungen verstanden wird. Fornagy et al. (1991) beschreiben die Möglichkeit, aus den phantasierten Bindungsrepräsentationen im letzten Drittel der Schwangerschaft Vorhersagen über die Organisation des Bindungsverhaltens bei Kindern mit einem Jahr zu machen. Wird das Kind als aktiver Mitgestalter der Interaktion schon vor der Geburt  gesehen, so geht es dabei nicht nur um Phanasien, sondern auch um wechselseitige Wahrnehmung. Wie auch später bei Interaktionen ist das Ergebnis nie durch einen der Partner allein bestimmt. So interpretiert die Mutter eine Bewegung ihres Kindes als Mitteilung seiner emotionalen Verfassung jeweils ihren eigenen Voraussetzungen entsprechend. Aus dieser Interpretation entsteht die Antwort an das Kind - auf welchem Weg auch immer. Die bekannte Episode der Begegnung zwischen Maria und der schwangeren Elisabeth im Lukas- Evangelium (Lukas 1, 39-44) beschreibt das Verhalten des Kindes zunächst "neutral": "Als Elisabeth den Gruß Marias hörte, hüpfte das Kind in ihrem Leib." Es folgt - nun in wörtlicher Rede - die Bewertung durch Elisabeth: " In dem Augenblick, als ich deinen Gruß hörte,  hüpfte das Kind vor Freude in meinem Leib". Welche Botschaft wäre es für das Kind gewesen, hätte sie sein "Hüpfen" empfunden als: "Der verdammte Balg - er tritt mich schon wieder - immer will er mir weh tun" ?

Die Vorstellung von der vorgeburtlichern Zeit als eines Erfahrungszeitraums hat weitreichende Konsequenzen auch für Forschungsdesigns wie Zwillingsuntersuchungen oder Studien mit Adoptivkindern. Diesen mit großem finanziellen Aufwand an öffentlichen Geldern betriebenen Forschungen zur Unterscheidung von genetisch angelegtem und durch Umweltbedingungen erworbenem liegt die unreflektiert vorausgesetzte Annahme zugrunde, dass bis zur Geburt keine Erfahrungen gemacht werden. Nicht nur die oben dargestellten Befunde der pränatalen Psychologie und Verhaltensbeobachtung stehen dem entgegen. Edelman (1995; zit. nach Deneke 1999) hat an Tierversuchen demonstriert, dass bei eineiigen Zwillingen nicht einmal die neuronalen Netzwerke übereinstimmen. Zudem geht die neuere Genetik davon aus, dass alle genetisch angelegten Programme zu ihrer Umsetzung von Umwelteinwirkungen einschließlich deren psychischer Bedeutung abhängig sind (Deneke 1999).

Über die spezifisch entwicklungspsychologischen Aspekte hinaus ändert sich auch das Menschenbild: Es gibt keinen Zeitpunkt, zu dem eine Verhaltensweise lediglich Ausdruck eines isolierten "monadischen" Menschen ist, der zunächst als Einzelner gedacht wird und mit anderen (also der Mutter) erst eine Kommunikation entwickeln muß. Der Mensch lebt nie außerhalb einer Beziehung und jede Bewertung ergibt sich erst im Kontext von Beziehungen. Einem von Geburt an lebhaften Kind kann dieses Verhalten nicht einfach als Temperament zugeschrieben werden. Es stellt sich die Frage nach der Bedeutung dieses Verhaltens möglicherweise schon für die intrauterine Kommunikation: Hat das Kind durch lebhafte Bewegungen unbewußte oder bewußte Reaktionen bei der Mutter hervorgerufen, etwa Streicheln durch die Bauchdecke hindurch? Oder fühlte sich das Kind verunsichert und versuchte, durch Bewegungsaktivität sich selbst intensiver wahrzunehmen? Ist ein ruhiges Kind zufrieden oder verhält es sich ruhig, weil es schon vor der Geburt die Erfahrung gemacht hat, dass lebhaftere Bewegungen ablehnende Reaktionen hervorgerufen haben? Verhalten sich Kinder bei lange verleugneten Schwangerschaften besonders ruhig, weil sie spüren, dass lebhaftere Bewegungen ihre Existenz bedrohen könnten?

Neue Schuldproblematik ?

Zwei Probleme ergeben sich daraus: Zum einen die Ungewissheit darüber, welche Vorerfahrungen ein Kind in der Schwangerschaft tatsächlich gemacht hat. Zum anderen könnte das Bewusstsein, schon während der Schwangerschaft ständig mit den eigenen Gefühlen auf das Kind einzuwirken, zu Schuldgefühlen führen, vor allem dann, wenn ein  Kind sich auffällig zeigt und die Mutter in der Schwangerschaft Gefühle von Angst, Trauer, zeitweiliger Ablehnung und Hass gespürt hat. Vielleicht hilft das erste Problem bei der Bewältigung des zweiten. Abgesehen von extremen und dauerhaften Belastungen können wir nicht beurteilen, welche Faktoren in ihrem Zusammenspiel mit unendlich vielen anderen zur Schädigung oder zur Stärkung eigener Bewältigungsstrategien führen (nicht-lineare Beziehung). Die Vorstellung vom "kompetenten Säugling", der schon vor der Geburt alle Erfahrungen in einer spezifisch eigenen Weise verarbeitet, kann genau durch diese Unklarheit, dieses nie ganz aufklärbare Geheimnis entlastend wirken. Er ist nie  ausschließlich das "Produkt" der Eltern, nie sind sie allein verantwortlich. Die traditionelle Vorstellung einer psychischen Entwicklung erst ab der Geburt kann in diesem Zusammenhang viel eher Schuldgefühle auslösen: verführt sie doch zu der Omnipotenzphantasie, das Kind sei zunächst "amorph" und werde erst durch die Erziehung "geformt", was den Erziehern die alleinige Verantwortung für die Entwicklung und alle dabei auftauchenden Probleme zuschreibt. Wird pränatale Entwicklung unter dem Aspekt der Beziehung gesehen, so ist das Kind immer schon ein Gegenüber, ein anderer Mensch, der seinen Anteil am Zusammenspiel und damit an Chancen oder Risiken für die weitere Entwicklung beisteuert. Diese Andersartigkeit als eine Bereicherung wahrzunehmen, dem Geheimnis mit Respekt, Staunen und Neugier zu begegnen: dies könnte zur Grundlage werden für einen Umgang mit Kindern, bei dem Abweichungen vom Erwarteten nicht als Defizit, sondern als Gewinn gesehen werden (Milani Comparetti 1996). In jedem Fall wird die Bewertung von Verhaltensweisen differenzierter: es bleibt nicht bei der Feststellung, dass ein Säugling "ruhig" oder "lebhaft" ist. Die Vielzahl der oben angedeuteten Fragen erlaubt eine Vielfalt der Gesichtspunkte bei der weiteren Beobachtung und Suche nach Informationen.

Dabei kann dem jeweiligen Verhalten ein spezifischer Stellenwert zukommen, der für jede Situation und jeden der Beteiligten unterschiedlich ausfallen wird.

Konsequenzen für die Praxis

Hier wird die Bedeutung der pränatalen biographischen Dimension für die Arbeit mit auffälligen Kindern deutlich. Viele Verhaltensweisen lassen sich neu zuordnen, wenn das Konzept vom Episoden-Gedächtnis (Stern 1992) auch auf die vorgeburtliche Zeit angewendet wird. Einige Beispiele wurden schon zu Beginn im Zusammenhang mit den Forschungen von Piontelli erwähnt. Spiele mit Höhlen, Tunneln, aber auch Schlafrituale lassen daran denken, dass Erfahrungen von passivem Ausgeliefert-Sein vor oder während der Geburt durch aktives Handeln verarbeitet werden. Manche aus dem aktuellen Erleben heraus nicht erklärbare Panikreaktionen ("Ausflippen") durch Berührungen, Einengung, Gerüche, Töne etc. können als Teil einer "Episode" Ausdruck von reaktivierten traumatischen Erfahrungen sein, die bis in die vorgeburtliche Zeit reichen und mit dem Gefühl von Lebensbedrohung verbunden sind. Der ganz unterschiedliche Bezug zum Wasser kann in diesem Kontext mit Erfahrungen in Beziehung gebracht und damit einer Interpretation zugänglich gemacht werden: von der "Wasserratte", die überhaupt nicht mehr aus dem Wasser heraus will bis zu Kindern, die schon von frühester Säuglingszeit an panisch auf die Berührung mit Wasser reagieren. Entscheidend ist dabei nicht die "Wahrheit" solcher Bezüge, sondern die Tatsache, dass sie Hypothesen bieten, die dem zunächst sinnlos erscheinenden Verhalten einen Bedeutungszusammenhang geben. Der dabei gewonnene diagnostische und therapeutische Handlungsspielraum wirkt auf das Kind und damit auf die Resultate der Arbeit zurück.

Im Hinblick auf die Entwicklung des Bindungsverhalten wirkt hier das Wechselspiel zwischen frühen, oft schon vorgeburtlichen Bindungserfahrungen und ihrer Weiterentwicklung durch die Art und Weise, wie Spuren dieser frühen Erfahrungen später aufgegriffen, beantwortet oder ignoriert werden. Ein Beispiel dafür, dass die Interpretation anscheinend harmloser Auffälligkeiten schon kurz nach der Geburt die Beziehung und damit die weitere Entwicklung der Bindung beeinflussen können, sei im folgenden dargestellt. Rauch-Straßburger & Stork berichten und dikutieren über einen Säugling, der bereits in der 2. Lebenswoche ein Verhalten zeigt, "welches ich nur teilweise mit meinem erlernten Wissen über das Verhalten von Säuglingen zusammenbringen kann", wie Rauch-Straßburger zur Falldarstellung bemerkt. Nach anhaltendem Schreien, das sich erst durch Anlegen an die Brust beenden läßt, zeigt sich "das Erstaunliche und mir erst einmal Unverständliche ... darin, dass die Beendigung seines Schreiens nicht mit dem Trinken zusammenfällt. In der Situation mit der Möglichkeit, sofort seinen Hunger zu stillen, kümmert er sich nicht um die Brustwarze, sondern beginnt beruhigt, in aller Seelenruhe nacheinender an einzelnen Fingern seiner Hand zu saugen. Dabei scheint er die Brust kaum zu beachten. Seine Mutter fühlt sich dabei 'wie bestellt und nicht abgeholt'. ... Nach ein paar Minuten läßt Mario dann seine Finger aus dem Mund gleiten und sucht die Brustwarze, wobei ihm die Mutter behilflich ist. Erst dann beginnt er, ruhig zu saugen" (Rauch-Straßburger & Stork 1994, 419). Stork spricht in der Diskussion von einer "halluzinatorischen Wunscherfüllung" und sieht im Verhalten des jungen Säuglings "die frühesten Bewegungen menschlicher Individuation". Dabei unterstellt er dem Säugling Aussagen wie: "Mutter, schau, obwohl ich Hunger habe, möchte ich dir zeigen, dass ich nicht von meinem Hunger überwältigt bin, mich kein sadistisches Verschlingen beherrscht ... , sondern dass ich eine Art Distanz vor dem Hunger und vor der Anziehung, die die Brust auf mich ausübt, aufrichten kann und der Anziehung sowie dem Wunsch nach Vereinnahmung nicht mit Haut und Haaren erlegen bin" (Rauch-Straßburger & Stork 1994, 420). Ohne an dieser Stelle die von Dornes (1993) geführte Diskussion um das vielschichtige Thema der Säuglingsphantasien aufgreifen zu wollen, läßt sich doch fragen, ob der Blick auf fetale Verhaltensweisen nicht eine einfachere Erklärung bietet. Jeder kennt das Bild vom Fetus, der an seinem Daumen saugt. Die damit verbundene Befriedigung fällt noch nicht mit dem Gefühl der Sättigung zusammen. Vielleicht verschaffte sich der hier geschilderte Säugling zunächst die befriedigende und entspannende Erfahrung aus der (noch sehr nahen) Fetalzeit, um erst in der dabei erreichten Beruhigung zu trinken. Viele Säuglinge sind nicht in der Lage, unmittelbar aus einem Zustand großer Erregung heraus zu trinken. Dieses Erklärungsmodell könnte manche Trinkprobleme erklären, besonders bei frühgeborenen Säuglingen, denen von ihrer Entwicklung her jene Trennung von Saugen und Sättigung noch entspricht. Das Beispiel soll deutlich machen, dass die pränatale Perspektive Deutungsmöglichkeiten bietet, die nicht grundsätzlich besser oder schlechter sind als andere. Es kommt darauf an, wer mit welcher Deutung am besten arbeiten kann. Für die Frage der Bindung ist jedoch von Bedeutung, welches Bild sich aus der Interpretation für die Rolle der Mutter ergibt, die sich "wie bestellt und nicht abgeholt" fühlt. Wird sie als eine Mutter gesehen, deren "unbewußte Ablehung" sich im Verhalten des Kindes ausdrückt oder bietet ihr die Interpretation ein Bild, bei dem sie sich als Mutter akzeptiert sieht ? In dieser Hinsicht stehen die pränatale und die Interpretation von Stork auf einer Stufe.

Allgemeine Konsequenzen

Es liegt auf der Hand, dass die hier vorgelegte Sicht von Kontinuität zwischen vor- und nachgeburtlicher Entwicklung auch gesellschaftspolitische Konsequenzen hat. Der Umgang mit Unterschiedlichkeit und Abweichungen vom Erwarteten berührt die Wurzeln der Problematik von Intoleranz mit allen Konsequenzen wie Diskriminierung von Minderheiten, Geschlechtsdifferenzen, Rassen, Sprachen und Religionen. Die Erwartung an den anderen bestimmt auch die Gefühle ihm gegenüber: wird Übereinstimmung mit den eigenen Erwartungen vorausgesetzt, dann führt jede Abweichung letztlich zu Ablehnung, Hass und Gewalt. "Ich verstehe dich nicht" bedeutet Verurteilung. Neugier auf Unterschiedlichkeit und Freude am Unbekannten wird damit zur Voraussetzung für Wärme im gegenseitigen Umgang und für Konfliktlösungen ohne Gewalt. Entscheidend ist dabei, dass dem Verhalten des anderen - vor allem des Kindes in jedem Lebensabschnitt - ein Sinn unterstellt wird, auch wenn dieser nicht unmittelbar erkennbar und verständlich wird. Die Relevanz von körperlicher wie geistiger "Behinderung" erscheint in einem anderen Licht: wird das daraus resultierende Verhalten als bloßes Defizit gesehen oder als Ausdruck von Bewältigungsstrategien - als ungewöhnliches sinnvolles Verhalten unter ungewöhnlichen Bedingungen?

Hier zeigt sich auch der grundlegende Unterschied zwischen einer Betrachtungsweise, die von "angeborenen oder vermutlich früh erworbenen Temperamentsunterschieden" ausgeht und einer, die jedes Verhalten auf der Grundlage von Beziehungserfahrungen als sinnvoll versteht. Und wieder bedeutet das nicht, dieses Verhalten "verstehen" zu müssen - verbunden mit der Forderung, es durch Erklärungen zu legitimieren. Es bleibt das "Geheimnis" als "Nische der Subjektivität" (Milani Comparetti 1996).

Literatur

Chamberlain, D (1997): Neuere Forschungsergebnisse aus der Beobachtung vorgeburtlichen Verhaltens. In: Haibach, S., Janus, L. (Hrsg.) Seelisches Erleben vor und während der Geburt. Neu Isenburg (Original: Observations of Behavior before Birth: Current Findings. In: Klimek,R.(ed.) A Time to be Born. Mattes, Heidelberg 1995)

Coleridge, S.T. (1802) zit. nach Macfarlane, A.(1977): The Psychology of Childbirth, Glasgow.

Deneke, F.-W. (1999): Psychische Struktur und Gehirn. Die Gestaltung subjektiver Wirklichkeiten. Stuttgart/New York

Dornes, M. (1993): Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt/M.

Dornes, M. (1998): Plädoyer für eine Neubetrachtung des Unbewußten. In: Trautmann-Voigt, S., Voigt, B. (Hrsg.) Bewegung ins Unbewußte. Beiträge zur Säuglingsforschung und analytischen KörperPsychotherapie. Frankfurt/M., 18-42

Dowling, T.W. (1988): Die Bedeutung der prä- und perinatalen Erfahrungen in der Kindertherapie. Kind und Umwelt 57, 20-35

Freeman, W.J. (1995): Societies of Brains. A Study in the Neuroscience of Love and Hate. Hillsdale, New Jersey

Fornagy, P., Steele, H., Steele M. (1991): Maternal representations of attachment during pregnancy predict the organization of infant-mother-attachment at one year of age. Child Development 62, 891-905

Janus, L. (1989): Die verdeckte pränatale Dimension im Konzept Melanie Kleins. Forum der Psychoanalyse 5, 333-341

Janus, L. (2000): Der Seelenraum des Ungeborenen. Pränatale Psychologie und Therapie. Düsseldorf

Lüpke, von, H. (1995): Säuglingsforschung und pränatale Psychologie. Eine Diskussion mit Dr. Joseph D. Lichtenberg. The International Journal of Prenatal and Perinatal Psychology and Medicine, 7, 529-534

Lüpke, von, H. (1997): Das Leben beginnt mit Kommunikation. Wege zum Menschen 49 (Heft 5), 272-281

Meltzoff, A.N., Borton, W. (1979) : Intermodal matching by human neonates. Nature, 282, 403-404

Milani Comparetti, A.: In: Janssen, E., von Lüpke, H.(Hrsg.) (1996): Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit. Entwicklungsförderung im Dialog.

Tagungsdokumentation. Frankfurt/M.

Piontelli, A. (1996): Vom Fetus zum Kind. Stuttgart. (Original: From Fetus to Child. An Observational and Psychoanalytic Study. London, New York 1992)

Prechtl, H.F.R. (1984): Continuity and change in early neural development. In: Prechtl, H.F.R. (ed.): Continuity of neural functions from prenatal to postnatal life. Oxford, 1-15

Rauch-Straßburger, A., Stork, J. (1993): Ein neuer Blick auf die frühesten Erfahrungen eines Babys an der Brust. Kinderanalyse 1 (Heft 4), 418-421

Stern, D.N. (1992): Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart. (Original: The interpersonal world of the infant. A view from psychoanalysis and developmental psychology. New York 1985)

Thelen, E. & Smith, L.B. (1998): A Dynamic Systems Approach to the Development of Cognition and Action. Cambridge (Massachusetts), London (England) In: Finger-Trescher, U. & Krebs, H. (Hg.): Bindungsstörungen und Entwicklungschancen. Psychosozial-Verlag Gießen 2003, S. 133-144

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