- Herr Hüther, Sie haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Langzeitmedikation mit Methylphenidat bei Kindern mit einem normalen dopaminergen System möglicherweise zu Schäden führen könnte. Ihre Kritiker halten Ihnen nun vor, dass Sie Ihre Untersuchungen bei 5 Ratten unzulässig verallgemeinern und die Öffentlichkeit grundlos verunsichern. Wie sehen Sie das?
- Eine Kernannahme des landläufigen ADHS-Modells behauptet, verkürzt ausgedrückt, einen genetisch bedingten Dopaminmangel als Störungsursache. Sie geben zu bedenken, das stattdessen ein Dopaminüberschuss vorliegen könnte. Wie begründen Sie dies?
- Inzwischen wurde in zahlreichen Studien auch beim Menschen nachgewiesen, dass Vernachlässigung, Missbrauch und emotionale Verunsicherung während der Kindheit nachhaltige Folgen für die weitere Hirnentwicklung haben und an der späteren Ausbildung psychischer Störungen entscheidend beteiligt sind. Was bedeutet dies aus Ihrer Sicht für das "konventionelle" Verständnis von ADHS?
- Ihr entwicklungsbiologisches Modell geht davon aus, dass es Kinder gibt, die bereits als Neugeborene und während ihrer Kleinkindphase erheblich wacher, aufgeweckter, neugieriger und leichter stimulierbar sind als Sehen Sie hierin den Ausdruck normaler menschlicher Variabilität, oder doch auch einer (vielleicht auch genetisch bedingten) "mitgebrachten" Störung?
- Sie schreiben in Ihrem neuen Buch, dass Psychotherapie bei ADHS darauf hinauslaufe, die im Gehirn dieser Menschen durch ihre bisherigen Nutzungsbedingungen verfestigten "Verschaltungen" dadurch zu verändern, dass es dem Betreffenden gelingt, in Zukunft anders als bisher auf all das zu reagieren, was von innen und von außen psychisch auf ihn Lässt sich diese Modellvorstellung auf alle psychischen Störungen gleichermaßen anwenden?
- Die Diagnose ADHS scheint immer mehr zu einem Sammeltopf für alle möglichen Störungsbilder bei Kindern, Jugendlichen und (immer mehr) Erwachsenen geworden zu Wie sehen Sie das?
- Ist das landläufige ADHS-Modell aus Ihrer Sicht bereits überholt? Sollte man es vielleicht verändern oder aufgeben, wie seinerzeit das MCD-Konzept?
Die Antworten
Sehr geehrter Herr Schmidt, danke für die Fragen für das online-Interview. Ich schicke Ihnen beiliegend erst einmal einen Text, der bereits einige dieser Fragen beantwortet. Am Montag oder Dienstag könnte ich mich daranmachen, den Rest, der dann noch übrig ist, auch noch zu beantworten.
Mit freundlichen Grüßen, Gerald Hüther
3.2.2002
Nachbemerkungen
zu meinem Beitrag: G. Hüther, Kritische Anmerkungen zu den bei ADHD-Kindern beobachteten neurobiologischen Veränderungen und den vermuteten Wirkungen von Psychostimulanzien (Ritalin). Analytische Kinder- und Jugendlichen Psychotherapie, Heft 112, XXXII. Jg., 4/2000, 471-486.
Die Erstveröffentlichung dieses Beitrages (Analytische Kinder- und Jugendpsychotherapie, Heft 112) hat bei einigen, von der Richtigkeit der bisherigen Vorstellungen überzeugten Befürwortern des Einsatzes von Psychostimulanzien zur Therapie von ADHD gewisse Irritationen ausgelöst. Dabei sind auch verschiedene Einwände vorgetragen worden, auf die an dieser Stelle noch einmal kurz eingegangen werden soll.
Die Mehrzahl dieser Einwände beginnt mit dem Hinweis auf die mangelnde klinische Kompetenz des Autors. Einem Neurobiologen wird offenbar die Fähigkeit abgesprochen, die Plausibilität einer vorwiegend von Klinikern entwickelten und vertretenen neurobiologischen Modellvorstellung aus neurobiologischer Sicht bewerten zu können. Die in dieser Argumentation offenbarte Haltung ist bemerkenswert. Gerade weil ich als Neurobiologe die Implikation der in diesem Beitrag entwickelten Vorstellungen für die klinische Praxis nicht beurteilen kann, habe ich die Zusammenarbeit mit erfahrenen Kinder- und Jugendpsychiatern und Therapeuten gesucht. Aus einer solchen Zusammenarbeit ist inzwischen auch ein Buch entstanden, in dem nun auch die klinischen Aspekte dieser neuen Modellvorstellungen ausführlich dargestellt sind (G. Hüther und B. Bonney: Neues vom Zappelphilipp, Walter-Verlag 2002).
Ein weiterer, ebenso häufig vorgetragener Kritikpunkt bezieht sich auf die Art der Zeitschrift, in der dieser Aufsatz veröffentlicht worden ist. Deren Leserschaft, so heißt es, sei nicht in der Lage, die hier beschriebenen neurobiologischen Zusammenhänge hinreichend kritisch zu bewerten. Vorausgesetzt, diese Unterstellung sei zutreffend, gilt das Gleiche dann nicht auch für die anderen, bisher vertretenen und an diese Leserschaft herangetragenen Vorstellungen? Wer ihnen das Recht oder die Kompetenz absprechen will, zwei alternative Modellvorstellungen auf der Grundlage ihrer bisherigen praktischen Erfahrungen miteinander vergleichen zu können, sollte so mutig sein, das auch zu begründen.
Der dritte Vorwurf zielt auf eine durch das Bekanntwerden dieses Beitrages ausgelöste Verunsicherung der ohnehin schon schwer belasteten Eltern von "ADHD- Kindern". Der Hinweis auf mögliche unerwünschte und nicht genau absehbare Spätfolgen der Verabreichung von Psychostimulantien während der Phase der Hirnentwicklung unterminiere in verantwortungsloser Weise die Kooperationsbereitschaft und den Behandlungserfolg. Wo die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung beginnt und wo sie endet, habe ich an anderer Stelle ausführlich herauszuarbeiten versucht (G. Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Vandenhoeck & Ruprecht, 2001).
Auch wenn es unbequem ist und bisweilen sogar Angst macht, ohne immer neue Verunsicherungen, ohne die kritische Hinterfragung bisher für richtig gehaltener Vorstellungen, ohne die Erschütterung einmal entwickelter Überzeugungen kann sich nichts weiterentwickeln. Das gilt auch für unsere Vorstellungen über die Ursachen bestimmter Erkrankungen. Auch sie müssen offen sein, müssen sich durch neues Wissen und neue Erkenntnisse erweitern und – wenn sie allzu starr geworden sind – gelegentlich sogar erschüttern lassen. Kritische Anmerkungen zu den bisher scheinbar bewährten Vorstellungen über die neurobiologischen Ursachen von ADHD und zu den bisher bekannten Auswirkungen der Verabreichung von Psychostimulantien sollten daher nicht nur erlaubt, sondern erwünscht sein. Sie sind die Voraussetzung für das Zustandekommen eines konstruktiven Dialogs. Je offener und je sachlicher dieser Dialog geführt wird, um so besser läßt sich entscheiden, ob die bisherigen Vorstellungen ausreichen, um die beobachteten Phänomene zu erklären oder ob sie allmählich durch ein neues, ebenso vorläufiges aber passenderes Modell ersetzt werden müssen.
Im Fall unserer Modellvorstellungen über ADHD hängt der Ausgang dieses Dialogs ganz entscheidend davon ab, ob sich die Ausbildung einer ADHD-Symptomatik durch gezielte präventive Maßnahmen verhindern läßt und – wenn das prinzipiell möglich ist – wie besonders gefährdete Kinder früher als bisher erkannt und vor fatalen Fehlentwicklungen bewahrt werden können. Das hier vorgestellte neue Modell beschreibt die Ausformung einer ADHD-Symptomatik als zwangsläufige Folge ungünstiger Entwicklungsbedingungen von Kindern, die mit einer besonderen (genetisch bedingten oder erworbenen) Vulnerabilität ausgestattet sind. Die Möglichkeiten zur Früherkennung derartiger Prädispositionen und das Spektrum präventiver Maßnahmen zur Vermeidung entsprechender Fehlentwicklungen sind an anderer Stelle ausführlich beschrieben (Hüther und Bonney: Neues vom Zappelphilipp, Walter-Verlag 2002).
Im Gegensatz dazu bietet das bisher für die Erklärung der Ausbildung einer ADHD- Symptomatik zugrunde gelegte Modell nur wenig Anhaltspunkte für präventive Interventionen. Es beschränkt sich im wesentlichen auf die Begründung kurativer Maßnahmen. Dieser Umstand erklärt nicht nur die o.g. Reaktionen, sondern auch die Art und Richtung der Einwände und Fragen, die von den Anhängern dieses Modells vorgebracht (oder bezeichnenderweise auch nicht vorgebracht) werden.
Keine Stellungnahmen oder Einwände gibt es beispielsweise zum Konzept der nutzungsbedingten Plastizität, also zur Formbarkeit (und Verformbarkeit) der Ausreifung neuronaler Netzwerke, insbesondere im frontalen Kortex, durch Erziehung und Sozialisation. Auch die Modulation der Ausformung dopaminerger mesolimbischer und mesokortikaler Projektionen durch die jeweils vorgefundenen Entwicklungsbedingungen – und damit auch durch psychopharmakologische Behandlungen während der Phase der Hirnentwicklung – wird widerspruchslos akzeptiert. Bedenken werden erst an Stellen laut, wo bisherige Begründungen für den erfolgreichen Einsatz der Methylphenidat-Behandlung infrage gestellt werden:
- Es wird bestritten, dass es durch derartige Behandlungen zu einer Unterdrückung des Auswachsens nigrostriataler dopaminerger Projektionen kommen kann, und dass bei Kindern mit einer bis dahin normal ausgereiften nigrostriatalen dopaminergen Innervation ein Defizit der Dichte dopaminerger Afferenzen im Striatum erzeugt wird, das die spätere Manifestation eines Morbus Parkinson begünstigen kann. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass bisher noch keine derartigen Fälle aufgetreten seien. Das ist richtig, aber wie groß ist die Gruppe der heute über 50jährigen, die während ihrer frühen Kindheit mit Methylphenidat behandelt worden ist und in der eine solche Symptomatik als Frühmanifestation eines Morbus Parkinson statistisch häufiger als in einer nicht medikamentös behandelten Vergleichsgruppe beobachtet werden könnte? Bis hier ausreichende Fallzahlen erreicht sind, müssen wir uns wohl noch einige Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte gedulden. Sehr nachdrücklich wird auch immer wieder darauf hingewiesen, dass die all diesen Befürchtungen zugrundeliegenden tierexperimentellen Untersuchungen nur an sehr wenigen Tieren durchgeführt worden sind. Wenn sich bereits bei einer Gruppengröße von N = 5 statistisch signifikante Effekte nachweisen lassen, so ist das genau genommen bedenklicher, als wenn der gleiche P-Wert erst bei N = 50 erreicht würde. Der Effekt bei diesen Versuchstieren muss also sehr robust sein, wenn die Behandlung bereits bei so kleinen Fallzahlen zu einer signifikanten Verringerung der Dopamin- Transporterdichte im Striatum führt.
- Es wird intensiv nach Argumenten gesucht, die belegen sollen, dass im Gehirn von "ADHD-Kindern" doch ein Defizit dopaminerger Aktivität (und nicht eine zu starke Ausformung dopaminerger Projektionen) Die aussagekräftigsten Hinweise auf Veränderungen der dopaminergen Innervationsdichte sind vom Einsatz bildgebender Verfahren zu erwarten. Neben der mit diesen Verfahren bei ADHD-Patienten beobachteten verstärkten Dichte von Dopamintransportern im Striatum wurde inzwischen auch eine verstärkte Akkumulation von [18 F]-DOPA im Striatum von ADHD- Patienten festgestellt (Ernst M. et al., 1999). Die damit nachgewiesene Erhöhung der Dichte von nun schon zwei verschiedenen, unabhängigen Makern dopaminerger Präsynapsen kann eigentlich noch als Ausdruck einer verstärkten dopaminergen Innervationsdichte im Striatum von ADHD- Patienten interpretiert werden. Ob es in anderen Hirnregionen, insbesondere in limbischen und kortikalen Bereichen ebenfalls zu einer Verstärkung oder aber zu einer Verminderung der dopaminergen Innervationsdichte bei "ADHD- Kindern" gekommen ist, bleibt nach wie vor unklar.
- Der letzte Einwand gegen das hier vorgestellte Konzept bezieht sich auf den Vorschlag, die therapeutische Wirkung von Psychostimulantien als Folge der durch diese Substanzen induzierten, partiellen Entspeicherung dopaminerger Präsynapsen zu erklären. Hier wird geltend gemacht, Methylphenidat sei lediglich ein Wiederaufnahmehemmer und kein echter Releaser (Entspeicherer) oder die Wirkung auf die dopaminergen Präsynapsen hänge von der Höhe der Dosierung und der Art der Anflutung ab (orale intravenöse Gabe). Auch von einer durch die initiale Dopaminfreisetzung verursachten Stimulation sei bei den Kindern nach der Einnahme der Tabletten nichts zu bemerken. Was auch immer hier für Argumente angeführt werden, sie ändern nichts an der Tatsache, dass Methylphenidat – in den USA von Jugendlichen inzwischen häufig in Wasser aufgelöst und intravenös injiziert – eine ähnliche Wirkung hervorruft wie Kokain, und dass die orale Verabreichung von D-Amphetamin, einem anerkannten Dopamin-Releaser, ebenso gut wie oral eingenommenes Methylphenidat die ADHD-Symptomatik unterdrückt. Aus diesen Gründen ist davon auszugehen, dass Methylphenidat zumindest prinzipiell ähnliche Veränderungen der Dopaminfreisetzung bewirkt wie Kokain und D-Amphetamin. In allen drei Fällen läßt sich der Wirkungsmechanismus vielleicht am besten verstehen, indem man ihn mit dem vergleicht, was passiert, wenn bei einer Toilettenspülung die Auslaufdichtung nicht mehr richtig schließt: Alle drei Psychostimulantien binden an die präsynaptisch lokalisierten Dopamintransporter, blockieren die Wiederaufnahme von extrazellulärem Dopamin und bewirken einen sog. "reversed-transport", d.h. intrazellulär gespeichertes Dopamin wird anstatt von außen nach innen nun von innen nach außen transportiert. Der dadurch erzeugte "Abfluss" des präsynaptisch bereitgehaltenen Dopamins führt zwangsläufig dazu, dass die "Bedienung der Toilettenspülung" (Impuls- getriggerte Stimulation der Dopaminausschüttung durch neuartige aufregende Reize) nicht mehr den gewohnten Effekt (Antriebssteigerung) hervorrufen kann. Der durch diese Substanzen ausgelöste kontinuierliche "Abfluss" von präsynaptischem Dopamin wird nach oraler Einnahme möglicherweise tatsächlich nicht verhaltensrelevant wirksam, wohl aber die fortan unzureichende Fähigkeit zur Dopaminfreisetzung durch neue, aufregende externe Stimuli. Nach intravenöser Injektion dieser Substanzen kommt es jedoch zu einer so massiven und plötzlichen Steigerung der Impuls- unabhängigen Dopaminfreisetzung, dass diese dann tatsächlich als Kick empfunden wird. Besonders interessant sind die Vorhersagen, die sich auf der Grundlage dieses "WC-Wasserspülungsmodells" für die Wirkungen der chronischen Verabreichung von Methylphenidat (Depot- und Retard- Präparate) machen lassen: Die Präsynapsen werden die "Wasserzufuhr" (die präsynaptische Maschinerie zur Dopaminproduktion) allmählich so weit verstärken, bis der "Vorratsbehälter" (die präsynaptischen Dopaminspeicher) trotz des ständig "undichten Abflusses" (die in ihrer Effizienz veränderten Dopamintransporter) wieder voll läuft. Retard- und Depot-Präparate, so wäre zu vermuten, müßten ihre therapeutische Wirksamkeit also nach einigen Tagen verlieren. Das wäre ärgerlich für die Hersteller, aber sehr unterstützend für die hier vorgetragenen Modellvorstellungen. Der Ausgang dieses gegenwärtig laufenden Großversuches (klinische Testung derartiger Präparate) ist daher spannend. Höchst fragwürdig ist nur, dass es sich auch in diesem Fall bei den "Versuchskaninchen" wieder um Kinder handelt.
Lieber Herr Schmidt,
als Hirnforscher habe ich mich mehr als 20 Jahre intensiv mit dem Einfluss früher Entwicklungsbedingungen auf die Ausreifung einzelner Transmittersysteme (auch des dopaminergen Systems) und neuronaler Verschaltungsmuster im Gehirn befasst. Auf diesem Gebiet sind in den letzten 10 Jahren entscheidende, neue Erkenntnisse gewonnen worden, insbesondere über die Bedeutung sicherer emotionaler Bindungen, über die Auswirkungen von Angst und Streß, über die strukturelle Verankerung früher Erfahrungen sowie über die Ausformung und die Funktion monoaminerger Systeme.
Im Licht dieser neuen Erkenntnisse erscheinen die bisher vertretenen Auffassungen über die neurobiologischen Ursachen von ADHS, über die akuten Wirkungen und die langfristigen Folgen der psychopharmakologischen Behandlung von "ADHS-Kindern" mit Methylphenidat als veraltete und mit dem gegenwärtigen Erkenntnisstand nicht vereinbare Modellvorstellungen.
Das alte Modell macht für die ADHD-Symptomatik ein genetisch bedingtes "Dopamindefizit" (unzureichende Ausbildung oder Aktivität des dopaminergen Systems) verantwortlich. Methylphenidat (RitalinÒ ) stimuliert die Dopaminfreisetzung. Durch diese "Normalisierung" der Aktivität des dopaminergen Systems kommt es bei der Mehrzahl der betroffenen Kinder auch zu einer Besserung der Symptomatik (verbesserte Impulskontrolle und Aufmerksamkeit, verminderte Unruhe, besser kontrollierbare Aktivität). Diese bisher zugrundegelegten Vorstellungen müssen meiner Ansicht nach durch ein anderes, besser mit dem inzwischen erreichten Erkenntnisstand vereinbares Modell ersetzt werden.
Dieses Modell unterscheidet sich von dem alten Modell in folgenden Kernpunkten:
- Es gibt Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen und T. schon unmittelbar nach der Geburt besonders empfindlich sind und auf Störungen ihres inneren Gleichgewichtes besonders intensiv reagieren (unruhige, reizoffene, schwer zu beruhigende Kinder).
- Durch die überdurchschnittlich häufige Stimulation ihres antriebssteuernden dopaminergen Systems kommt es bei diesen Kindern zu einer Stimulation des Wachstums dieses Es wird dadurch stärker und intensiver ausgebildet, als das normalerweise der Fall ist (dopaminerge Hyperinnervation).
- Die Ausformung komplexer neuronaler Verschaltungen insbesondere im Frontalhirn wird durch die "Überstimulation" und die damit einhergehende vermehrte Dopaminausschüttung behindert ("Frontalhirndefizit").
- Das daraus resultierende Nutzungsmuster (unzureichende Aufmerksamkeitsfokussierung, mangelnde Impulskontrolle, Hyperaktivität) wird durch ungünstige weitere Entwicklungsbedingungen stabilisiert (frühe Bindungsstörungen, mangelnde Selbstwirksamkeitserfahrungen, Überforderung, Angst, Stress, psychosoziale Konflikte etc.). Dadurch kommt es zu weiteren, sekundären Veränderungen der Hirnreifung (nutzungsabhängige Plastizität).
- Methylphenidat hemmt die Wiederaufnahme von Dopamin und erzeugt einen kontinuierlichen "Ausfluss" des in den dopaminergen Nervenenden gespeicherten Dopamins. Die Stimulation dieses Systems durch neuartige, aufregende Reize bleibt nun "ohne Effekt" (durch neue Stimuli ist nun keine verstärkte Dopaminausschüttung mehr auslösbar). Das Kind kann sich besser konzentrieren, ist weniger durch äußere Reize ablenkbar und durch innere Impulse "angetrieben"). Im Frontalhirn können neue Nutzungsmuster ausgebildet und stabilisiert
- Durch die Methylphenidatbehandlung während der Phase der Hirnentwicklung (vor der Pubertät) wird die weitere Ausreifung und Ausformung der dopaminergen Innervation unterdrückt. Wenn Kinder ein zu stark ausgebildetes dopaminerges System besitzen, würde es auf diese Weise "zurückgestutzt". Bei Kindern mit einem normal entwickelten dopaminergen System jedoch, würde eine unzureichende weitere Ausformung dieses Systems Als Spätfolge dieses Defizits kann es zu einer erhöhten Gefahr der Ausbildung eines Parkinson-Syndroms im höheren Lebensalter kommen.
Auf der Grundlage dieses Modells lassen sich folgende Schlussfolgerungen ableiten:
- Durch Früherkennung besonders gefährdeter Kinder und die Einleitung geeigneter präventiver Maßnahmen muß sich die Ausbildung einer ADHS- Symptomatik verhindern lassen.
- Die Verabreichung von Methylphenidat ist eine sorgfältig abzuwägende Notlösung, die erst dann eingesetzt werden sollte, wenn alle anderen
Therapieansätze ausgeschöpft und unwirksam geblieben sind. Das Medikament sollte auch nur dann verordnet werden, wenn mit ausreichender Sicherheit von einer überstarken Ausformung des dopaminergen Systems im Gehirn dieser Kinder ausgegangen werden kann.
Mit freundlichem Gruß, Ihr
Prof. Dr. Gerald Hüther, Göttingen 13.2.2002