Fachbeiträge

Fachtexte zu «ADHS» von unseren Kuratoriumsmitgliedern

Alecs Geschichte [aus The Ritalin Fact Book]

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Übersetzung aus dem Englischen H.-R. Schmidt. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Alecs Reise durch die medikamentenorientierte biologische Psychiatrie wird vielen Eltern, die ihre Kinder bei ähnlichen Erlebnissen begleiteten, unheimlich bekannt vorkommen. Geschichten wie diese werden in der modernen Psychiatrie leider immer alltäglicher. Sie beleuchten lebendig und schmerzhaft die Gefahren psychiatrischer Diagnosen und der medikamentösen Behandlung von Kindern.

 Alec kam in schrecklichem Zustand in meine Praxis. Körperlich und psychisch war er mit seinen 11 Jahren unreif. Er war mager, und die Selbstkontrolle seiner Gefühle war sehr gering. Alec hatte alle seine Freunde verscheucht und sein älterer Bruder wollte nie mehr mit ihm sprechen. Sogar sein Fußballtrainer hatte es mit ihm aufgegeben, und seine Schule machte Druck, ihn in eine Einrichtung für ernsthaft emotional Gestörte zu geben.

Alec wimmerte, jammerte oder bekam bei der geringsten Herausforderung einen heftigen Wutanfall. Aber hinter all seiner gespielten Tapferkeit konnte man leicht das verwundete, verletzte Kind spüren. Wenn er davon sprach "sterben zu wollen" oder dass ihn "alle hassen", fühlte ich bei ihm echte Verzweiflung über sein Leben. Wenn ich echte Anteilnahme an ihm zeigte, hörte er auf zu klagen und war eifrig bemüht, zu hören, was ich zu sagen hatte.

Als Alec mich aufsuchte, hatte er bereits seit mehr als 5 Jahren psychiatrische Medikamente genommen. Sein Psychiater verschrieb ihm gleichzeitig 5 Psychiatrika: das langwirkende Stimulanz Concerta, den milden Stabilisator Depakote (Divalproex), das Sedativum Klonopin (Klonazepam), das beruhigende Antihypertonikum Clonidine und das Erwachsenen- Antipsychotikum Risperdal (Risperidone).

Alec entwickelte daraufhin Gesichtszuckungen und Spasmen und hatte kürzlich erzählt, wie abends vor dem Einschlafen in seinem Zimmer "Geister" erscheinen. Sein voriger Psychiater hatte daraufhin erklärt, Alec habe Halluzinationen. Er warnte, Alec würde Zeichen einer sich entwickelnden kindlichen Schizophrenie zeigen und müsste wahrscheinlich in die Klinik, damit man seine Medikation intensivieren könne.

Was hat solch ein Fall mit ADHS zu tun?

Alecs erste Diagnose im Alter von 6 Jahren war ADHS. Damals bekam er Ritalin. Er hätte aber auch mit einem anderen Stimulanz beginnen können, das Ergebnis wäre wahrscheinlich dasselbe gewesen.

Ich riet Alecs Eltern, die Behandlung erst einmal nur mit den Erwachsenen zu beginnen und Alec erst später zu einem eigenen Termin hinzu zu ziehen. Ich wollte von Anfang an die Bedeutung der Erwachsenen betonen, sich zusammen zu setzen und die Ursachen und Lösungen für Alecs Probleme zu verstehen. Von Beginn an stellte ich klar, dass Alecs Probleme nicht, wie man ihnen bisher erzählt hatte, irgendeiner Hirnstörung entspringen. Ich wusste, wir würden Alec auf den richtigen Weg bringen , wenn wir die Belastungen und Konflikte in seiner Umgebung lösen. Während Alec daran arbeiten würde, seine Einstellung und sein Verhalten zu verändern, würden seine Eltern und Lehrer ihre Bemühungen, ihn zu fördern und zu erziehen, verbessern.

Auf meinen Rat hin brachten Alecs Eltern seine mütterliche Großmutter mit, die täglich mit ihm zusammen war, während die Eltern beide berufstätig waren. In der ersten halben Stunde dieser Sitzung wurde offenkundig, dass die gesamte Familie einen wichtigen Punkt in Alecs Leben vergessen hatte: dass Alec mit 6 Jahren ein normales Kind gewesen war, als der Kinderarzt mit Ritalin anfing.

Die Medikation hatte, wie in so vielen Fällen, mit einer Empfehlung der Schule, ihn untersuchen zu lassen, begonnen. Mit Beginn der zweiten Klasse hatte die Lehrerin festgestellt, dass Alec in der Schule nicht aufpasse, tagträume und leicht ablenkbar sei, dass er manchmal "ADHS-Verhaltensweisen" zeige, wie Dazwischenrufen und "ohne Erlaubnis vom Stuhl Aufstehen". Sie empfahl den Eltern eine Untersuchung auf ADHS und gab ihnen ein Blatt mit der Überschrift "Connor-Skala" mit, auf dem sie schon mal angekreuzt hatte, welche besonderen Verhaltensweisen Alec zeige.

Die Connor-Skala ist, wie die offiziellen diagnostischen Kriterien für ADHS, nichts anderes als eine Liste von typischen Verhaltensweisen von Kindern, die in einer Schulklasse die besondere Aufmerksamkeit des Lehrers herausfordern. Die Lehrerin hatte aber an einem ADHS-workshop teilgenommen und dort gelernt, dass die Connor-Skala ein zuverlässiges Diagnoseinstrument sei, um ADHS festzustellen.

Bis zu diesem Punkt hatte Alec nie ein Problem zu Hause gehabt. Er war ein niedlicher kleiner Junge, der mit allen gut zurechtkam, sogar mit seinem älteren Bruder. Der Kinderarzt jedoch warf einen Blick auf die Connor-Skala, stimmte zu, dass Alec ADHS habe und verordnete Ritalin.

Die schulischen und medizinischen Berichte, die die Eltern mitgebracht hatten, zeigten, dass Alec sich innerhalb weniger Tage nach dem Ritalin-Start "verbessert" hatte. Die Lehrerin berichtete, dass der kleine Junge nun "viel leichter in der Klasse zu haben" sei und sein "störendes Verhalten" verschwunden sei. Es schien wie ein Wunder.

Aber innerhalb weniger Monate verschlimmerte sich Alecs Verhalten und zum ersten Mal bekam er deshalb ein kleines Problem zu Hause. Der Kinderarzt erhöhte die Ritalin-Dosis, und Alec "verbesserte" sich wieder für eine Weile. Der Kinderarzt versicherte den Eltern, alles sei nur eine Frage der richtigen Einstellung auf das Medikament.

Dieser Kreislauf wiederholte sich mehrere Male. Mit Dosiserhöhungen und dann mit Veränderungen der Stimulanzbehandlung wurde Alec jeweils vorübergehend zu Hause und in der Schule ruhiger und umgänglicher. Und dann wurde sein Verhalten jeweils schlimmer als je zuvor, und die Dosis wurde wieder erhöht oder verändert.

In meiner ersten Sitzung mit den Erwachsenen der Familie wurde deutlich, dass die dauernden Hochs und Tiefs unter dem Einfluss der Medikamente ihre Hoffnung genährt, den Blick auf die Wirklichkeit der krankmachenden Medikamente aber verdunkelt hatten.

Die Großmutter erinnerte sich, dass Alec innerhalb weniger Wochen nach dem Ritalin- Beginn abends zunehmend unruhiger wurde. Er wurde ängstlich und rebellisch und weigerte sich, zu Bett zu gehen. Sein Kinderarzt -anscheinend unwissend, dass man agitierten Kindern kein Stimulans geben darf- erhöhte tatsächlich Alecs Dosis durch die zusätzliche

Gabe einer Nachmittagsdosis. Als Alec weiterhin zunehmend unruhiger wurde, verschrieb er ihm zusätzlich das Beruhigungsmittel Klonopin, um ihn zu beruhigen und schlafen zu lassen.

Als die Eltern einmal vergaßen, die Medikamente auf einen Wochenendausflug mitzunehmen, artete Alecs Verhalten erschreckend aus. Er benahm sich wie ein "Monster", das man mit Gewalt daran hindern musste, sich selbst und seine Familie körperlich zu verletzen.

Alecs Eltern riefen an diesem Wochenende den Notarzt an, aber der Kinderarzt sagte ihnen nichts über mögliche ernsthafte Entzugserscheinungen von Ritalin und Klonopin. Er deutete nicht einmal an, dass Alecs Verschlechterung daher kommen könnte. Stattdessen sagte er nur, Alec dürfe die Medikamenteneinnahme niemals unterbrechen, nicht bis an sein Lebensende. Alec war damals 8 Jahre alt.

Alecs Verhalten wurde durch die Medikamente immer schlimmer. Gegen Ende der dritten Schulklasse überwies ihn der Kinderarzt zu einem Psychiater, der der Familie als landesweit anerkannter Fachmann für die medikamentöse Behandlung von Kindern beschrieben wurde.

Der Psychiater hörte sich die Geschichte an und erklärte: " Bei Ihrem Sohn entwickelt sich eine bipolare Störung!" Die Behandlung des Kinderarztes sei bisher zwar richtig gewesen, aber nun komme eine grundlegende genetische und biologische "Bipolare Störung" an die Oberfläche. Er erklärte weiter, bipolare Krankheit sei ein anderer Ausdruck für manisch- depressive Krankheit und Alec zeige leichte Wechsel zwischen manie-ähnlicher Störbarkeit zur Depression. Er stimmte dem Kinderarzt darin vollkommen zu, dass Alec für den Rest seines Lebens Medikamente nehmen müsse.

Der Psychiater erwähnte mit keinem Wort, dass Ritalin, wie jedes Stimulans, extremen Kontrollverlust bewirken kann, und dass in Kombination mit Klonopin oder irgendeinem anderen Tranquilizer die Wahrscheinlichkeit für eine "Enthemmung" mit sehr bedrohlichem emotionalem Kontrollverlust steigt. Stattdessen verschrieb er zusätzlich Depakote, um die "bipolare Störung" unter Kontrolle zu bekommen.

Alec war inzwischen neuneinhalb Jahre alt und ging in die vierte Klasse. Als er Schulangst entwickelte und zunehmende Ängste und Unruhe zeigte, verschrieb der Psychiater noch Clonidine, ein Anti-Hypertonikum für Erwachsene. Damit war der Junge unter dem Einfluss von vier Psychopharmaka: Adderall, Klonopin, Depakote und Clonidine.

Der Psychiater versäumte zu erwähnen, dass Clonidine bei keiner einzigen psychiatrischen Krankheit zur Behandlung zugelassen ist. Stattdessen erzählte er den Eltern, es werde als "mildes Stabilisierungsmittel" verwendet. In Wirklichkeit ist Clonidine ein gefährliches Medikament zur Behandlung von Hypertonie bei Erwachsenen, das inzwischen zur bevorzugten Behandlung aufsässiger Kinder verwendet wird, weil es sie stark ruhigstellt. Ich habe erlebt, wie Kinder unter Clonidine mitten in der Sitzung einschlafen. Der Psychiater versäumte auch, den Eltern zu sagen, dass Clonidine in Verbindung mit einem Stimulans die Herzfunktion stören und tötliche Arrhythmien verursachen kann. Jedoch warnte er sie zutreffend davor, dass der Blutdruck steigen könne, wenn sie Clonidine plötzlich absetzen.

Als Alecs Verhalten unter den vier Medikamenten immer heftiger und explosiver wurde, bestätigte der Psychiater, dass Alec eine bipolare Störung habe. Während des Schuljahres veränderte er einige der Dosierungen und experimentierte mit verschiedenen Stimulantien. Inzwischen begann Alec zu erzählen, dass er sich umbringen wolle.

Voller Angst und Enttäuschung brachten die Eltern Alec zu einem weltberühmten Psychiater am Nationalen Institut für Seelische Gesundheit (NIMH) in Bethesda, Maryland. Der neue Arzt bestätigte "alles", was die beiden vorherigen Ärzte gemacht hatten. Aber er bot eine neue Version an. Er erklärte, die entstehende bipolare Störung sei tatsächlich eine entstehende schizo-affektive Erkrankung - eine Mischung aus bipolarer Störung und Schizophrenie. Er verschrieb das Antipsychotikum Risperdal, so dass Alecs Register nun ganze 5 psychiatrische Medikamente umfasste, einige davon in Erwachsenendosen. Alec war nun 10 Jahre alt und wog weniger als 32 Kg.

Der Psychiater erklärte nicht, dass Risperdal von der FDA nur für Erwachsene und nur zur Behandlung der Schizophrenie zugelassen ist. Auch ließ er etwas weg, was er den Eltern bei einem Minimum an ethischem oder medizinischem Standard , das man von ihm verlangen kann, hätte sagen müssen und was die Eltern tragischerweise ganz allein entdecken mussten.

Drei Monate nach Risperdal-Beginn fing Alec an, seltsame Bewegungen zu machen, als ob er mit einem riesigen Kaugummi im Mund kämpfte. Seine über sein Verhalten ohnedies frustrierten Eltern versuchten mit Gewalt, seinen Mund zu öffnen, um zu sehen, auf was er da herumkaute. Dann dachten sie, er schneide ihnen, oder schlimmer: einer nur eingebildeten Person, Grimassen. Bald begann er auch mit den Augen zu blinzeln, als sähe er Ausbrüche glitzernden Lichts.

Als die Eltern Alecs Zustand dem NIMH-Experten berichteten, erklärte er, Alec zeige Zeichen von Tourette, eine Erkrankung unklarer Ursache, die eine Mischung aus Tics und Vokalisierungen umfasse. Er sagte ihnen nicht, dass Antipsychotika wie Risperdal üblicherweise andauernde Zuckungen, wie Alec sie zeigte, verursachen.

Der Psychiater entschied, dass Alecs zunehmende Berichte über abendliche "Geister" und "seltsame Schatten" von seiner schizophrenie-ähnlichen Krankheit ausgelöste Halluzinationen sein könnten. Er wollte Alecs Risperdal-Dosierung erhöhen, in der Hoffnung, damit sowohl die Tics als auch die Halluzinationen unter Kontrolle zu bekommen.

Tatsächlich kann Risperdal -wie andere Antipsychotika auch- genau die Tics und unnormalen Bewegungen kurzzeitig unterdrücken, die es selbst verursacht; aber damit verursacht es möglicherweise erst besonders starke Entstellungen und sogar körperliche Behinderungen.

In meiner Praxis habe ich Kinder untersucht, deren Genick durch Risperdal-induzierte Spasmen des Genicks und der Schulter schmerzhaft in seiner Form verdreht war. Ich habe Kinder gesehen, deren Augen sich zeitweise in die Augenhöhlen verdrehten. Ich habe ein Kind untersucht, dessen Atmung durch Zwerchfellkrämpfe gestört war.

Kinder mit solchen medikamenten-verursachten Tics und Krämpfen gehören zu den tragischsten Fällen, die ich in meiner Praxis als Psychiater untersuchen musste. Für ihre Störungen gibt es keine erfolgversprechende Therapie, und nur wenige dieser Kinder mit solch deutlichen Tics und Krämpfen wurden wieder gesund - trotz Monaten und Jahren ohne Medikamente. Wenn die Störungen erst einmal einige Wochen und Monate angedauert haben, werden sie meist irreversibel.

Alecs Großmutter rettet ihn vor dem Psychiater

Als Alec diese seltsamen Symptome zu zeigen begann, bekam seine Großmutter den Verdacht, dass die Medikamente etwas mit seinem schlimmen Zustand zu tun haben könnten. In Büchereien, Buchläden und im Internet machte sie sich über die Medikamente sachkundig. Sie entdeckte eines meiner Bücher: "Ihr Medikament ist vielleicht Ihr Problem - Wie und Warum man mit psychiatrischen Medikamenten aufhören sollte" (1999), Coauthor Dr. David Cohen. Sie erfuhr, dass Alecs Tics und Krämpfe eine Tardive Dyskinesia sind, eine neurologische Erkrankung, die gewöhnlich von Antipsychotika wie Risperdal, Mellaril, Navane, Prolixin, Thorazine und Haldol verursacht wird. Die FDA verlangt, dass alle Antipsychotika (auch Neuroleptika genannt) einen Warnhinweis auf Tardive Dyskinesia anführen müssen, inklusive der neuesten Medikamente wie Zyprexa und Seroquel.

Antipsychotika produzieren in jedem Jahr ihrer Anwendung bei erstaunlichen 5-8 Prozent der Patienten Tardive Dyskinesia; bei vierjähriger Anwendung kumulativ also bei 20-32 Prozent der Patienten. Ohne wissenschaftliche Belege kamen einige Ärzte auf die Idee, Risperdal verursache nicht so stark wie andere Antipsychotika Tardive Dyskinesia. Dies ermöglichte  die weitverbreitete Verschreibung bei Kindern. Ich habe viele Risperdal-verursachte Fälle  von Tardive Dyskinesia gesehen, und andere Fälle werden in der Literatur dargestellt.

Nachdem die Großmutter mein Buch gelesen hatte, drängte sie Alecs Eltern, mich aufzusuchen. Meine Praxis war damals voll, aber als meine Frau die tragische Familiensituation erfuhr, die Alecs Mutter auf unserem Anrufbeantworter wiederholte, sorgte sie für einen Notfalltermin bei mir. Alec war nun 11 Jahre alt und in der 5. Klasse.

Vom ersten Kontakt mit den Eltern an war klar, dass die psychiatrischen Medikamente Alec zerstörten. Wenn der Prozess anhielte, würde Alec wahrscheinlich als geistig behinderter Erwachsener mit entstellenden und sogar behindernden Tics und Krämpfen im Gesicht und am Körper, die ihn für jedermann als Verrückten erscheinen lassen, enden. Ich erklärte den Eltern, dass Stimulantien Tics verursachen oder zu ihrer Entstehung beitragen können, aber seltener und weniger schwerwiegend als Antipsychotika. Ich bat die Eltern, Alec als Notfall noch diesen Abend zu mir zu bringen.

Als ich Alec das erste Mal sah, zeigte er eindeutige Symptome von Tardiver Dyskinesia. Obwohl ich so etwas oft genug erlebt habe, machte mich das, was ich vorfand, doch sehr traurig. Ich war wieder bestürzt, dass einer meiner Kollegen einem Kind Risperdal verschreiben konnte und dann die zerstörerischen Folgen andauernd übersah. Alecs Kaubewegungen und Gesichtstics waren schon so ausgeprägt, dass ihn seine Mitschüler deshalb hänselten. Wenn seine Tics nicht nachließen oder verschwanden, würden sie seine weitere psychosoziale Entwicklung als Teen ernsthaft gefährden. Weil der Kautic seinen Kiefer beeinträchtigte, waren auch sein Essverhalten und seine Zähne gefährdet. Wenn die Medikamente nicht abgesetzt würden, könnte das Voranschreiten der Störung jeden Körpermuskel erfassen, von den Armen, den Beinen, dem Torso bis zum Sprechen, Schlucken und Atmen.

Weil Alec das Risperdal nur wenige Monate genommen hatte, und weil seine Eltern bereit waren, in engem Kontakt zu mir zu bleiben, plante ich ein rasches einwöchiges Ausschleichen. Innerhalb einer Woche hatten die Eltern bereits das Gefühl, er sei schon wieder "viel mehr unser Alec". Seine Tics und Krämpfe verschlimmerten sich allerdings vorübergehend, wie man es oft in der Entzugsphase beobachten kann, nachdem die Medikamente reduziert oder abgesetzt wurden.

Die Arbeit mit Alec

Alec war ein begabtes, mutiges Kind, das sich kämpferisch mit aller Macht gegen die Verwirrungen seines Lebens und die Gifte in seinem Gehirn zu behaupten versuchte. Ich konnte leicht den reizenden und freundlichen Jungen sehen, der aufgeblüht war, bis die psychiatrischen Medikamente in sein Leben traten.

Ich erklärte Alec, seine Geschichte zeige mir, dass er an keinerlei psychiatrischer Krankheit leide und dass seine Verhaltensstörungen aus einer Kombination von Medikamenten und der Schwierigkeit seiner Eltern, ihn richtig zu behandeln, herrührten. Ich erklärte weiter, dass es eine Menge Mitarbeit seinerseits erfordern werde, sein Verhalten wieder in Ordnung zu bekommen.

Ich erinnerte ihn daran, dass er, bevor er damals Medikamente bekam, keinerlei Probleme hatte, sein Verhalten zu kontrollieren, wie alle anderen Kinder auch. Er reagierte auf meine Erklärungen, wie hart er daran arbeiten müsse, um sein Verhalten wieder unter Kontrolle zu kriegen, mit überraschendem Eifer.

Daraufin fragte er: "Was ist mit ihnen?", und machte eine heftige Bewegung in Richtung seiner Eltern. Ich erklärte, er solle sich gegenüber seinen Eltern etwas respektvoller verhalten. Er könne davon ausgehen, dass ich dies ernst meinte, und zur Überraschung seiner Eltern akzeptierte er es. Ich sagte weiter zu ihm, dass ich ihm immer versuchen würde zu antworten, wenn er in respektvoller Weise fragen würde. In dieser Hinsicht müssten auch seine Eltern und seine Großmutter ihren Teil dazu beitragen. Sie müssten eine konsistentere und vernünftigere Umgangsart mit ihm entwickeln und mehr Zeit mit ihm verbringen.

"Es ist klar, dass deine Eltern und deine Großmutter dich lieben", erklärte ich, "aber ihnen wurde von Ärzten eingeredet, dass du dein Verhalten nicht kontrollieren kannst und dass sie dir dabei auch nicht helfen könnten. Das hat der ganzen Familie sehr geschadet. Wir werden diese Situation rasch ändern können, wenn sich alle darauf einigen, miteinander mit mehr Selbstbeherrschung und Respekt in der Familie umzugehen."

 "Wenn Sie das sagen, Doc," sagte Alec, lachte dann über seinen respektlosen Ton und bewies seine Fähigkeit zur Selbstkontrolle, indem er respektvoller hinzufügte: "Dr. Breggin." Ich musste auch lachen. Ich mochte dieses begabte Kind.

Nach dem sofortigen Absetzen des Risperdals als Notfall setzten wir die anderen Medikamente über die nächsten Monate hin langsam ab. Die Eltern waren zutiefst dankbar, dass ihr Sohn wieder zu ihnen zurückfand. Ich arbeitete mit der ganzen Familie, gelegentlich auch mit seinen Lehrern und dem Schuldirektor, damit sie mit seinem manchmal schwierigen Verhalten umgehen konnten.

Wenn ich mit Alec gelegentlich allein war, betonte ich, dass es nicht, wie er befürchtete, der Plan der Erwachsenen sei, sein Verhalten gegen seinen Willen zu ändern. Ich erklärte ihm, wie es in seinem eigenen Selbstinteresse liege, mehr Selbstdisziplin und Verantwortung zu gewinnen. Kinder reagieren auf eine vernünftige Diskussion viel besser, als viele Professionelle zu glauben scheinen. Sie wollen wissen, wie und warum sie ihr Verhalten ändern sollen. Unglücklicherweise hatte keiner der früheren Ärzte einmal mit ihm über seine eigene Fähigkeit, sein Verhalten zu steuern, gesprochen, warum er es so und so machen sollte und wie er es tun könnte.

Alec wuchs im ersten Jahr meiner Betreuung mehrere Zoll und wurde auch kräftiger. Seine Körperhaltung wechselte von einem wütenden Buckelkerl zu einer aufrechten Lafette, und sein Gesichtsausdruck verwandelte sich von düsterem Trotz in die ganze Bandbreite normaler und oftmals angeregtester Gefühle.

Alecs Schulnoten reichten von Hart-am-Abgrund-vorbei bis meistens C, später eine Mischung aus A und B. Er wurde wieder zu dem hellen Kind, das er gewesen war, bevor er psychiatrische Medikamente bekam.

Nachdem Alec mehrere Monate medikamentenfrei war, gehörte er zu den wenigen glücklichen Kindern, deren Tardive Dyskinesia sich vollständig auflöste. Eine sorgfältige Untersuchung zeigte zwar noch unnormale Zungen- und Kieferbewegungen, besonders bei Müdigkeit oder Anstrengung, die aber, wenn sie überhaupt jemand bemerkte, wie schlechte Angewohnheiten wirkten. Wahrscheinlich wurde Alec deshalb so gesund, weil seine Großmutter sofort misstrauisch geworden war, als die Tics auftauchten, und weil wir die Medikamente rechtzeitig stoppen konnten, bevor er sie Monate und Jahre eingeommen hatte.

Nach zwei Jahren beendeten Alec und seine Eltern die regelmäßige Behandlung bei mir, aber ich höre immer noch gelegentlich von Alec. Er ruft gern mal an, um mir Guten Tag zu sagen. Er macht Fortschritte in einer regulären High-School-Klasse, zeigt weder in der Schule noch zu Hause besondere Verhaltensprobleme. Er möchte aufs College gehen. Ich bin sicher: Nachdem er sich nicht mehr für geistig krank hält und sein Hirn giftfrei ist, wird er weiter blühen und gedeihen.

(Aus: Peter R. Breggin, M.D.: The Ritalin Fact Book. What your doctor won´t tell you about ADHD and stimulant drugs. Perseus Publishing 2002, S. 5-15. Übersetzung aus dem Englischen H.-R. Schmidt. Mit freundlicher Genehmigung des Autors.).

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Unsere Vision

«Unsere Vision ist es, die Öffentlichkeit zu ermächtigen, das gegenwärtige schulmedizinische ADHS-Konstrukt kritisch zu hinterfragen und damit der einseitigen Biologisierung kindlichen Verhaltens entgegenzuwirken».

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