Fachbeiträge

Fachtexte zu «ADHS» von unseren Kuratoriumsmitgliedern

Erziehung und Ritalin - oder: Pädagogik als Human Enhancement?

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I. Krumme Hölzer gerade machen

Im Jahre 1784, also drei Jahre vor seiner letzten Pädagogik-Vorlesung, erscheint Immanuel Kants Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. Im sechsten Satz können wir Folgendes nachlesen: „[A]us so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden. Nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt.“ (Kant [1784] 1838, 325). Von welcher Idee ist hier die Rede? Was Kant so treffend als „ganz Gerades“ bezeichnet, können wir als das Gegenteil dessen verstehen, was wir selbst sind. Und was sind wir? Krummes Holz, aus dem nichts ganz Gerades gemacht werden kann. Das ganz Gerade ist das Perfekte, das, was voll und ganz ist, was zur Fülle gelangt ist. Als zur Fülle Gekommenes, als Vollkommenes also, ist es das, was keiner Veränderung mehr bedarf und damit jenseits des Werdens zu verorten ist. Was nichts mehr wird, ist abgeschlossen, und so ergibt es freilich Sinn, unter Perfekt die grammatikalische Form der Vergangenheit zu verstehen. Das Vergangene, Abgeschlossene ist jenseits des Werdens, denn Werden bedeutet Veränderung, wobei das Werden des „krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist“ ein besonderes ist. Als bearbeitbares Objekt, als Holz, das gezimmert werden muss, ist es ein Gegenstand, mit dem etwas gemacht wird. Werden erfährt das Holz von außen, es wird zugerichtet, aber es wird nicht aus sich selbst heraus. Und eben an dieser Stelle gelangt das Bild, dessen sich Kant bedient, an seine Grenze. Im Gegensatz zum bloßen Objekt ist das Werden des Menschen (zumindest auch) eine Bewegung aus sich selbst heraus zu sich selbst. Der Begriff Bewegung ist dabei mit Vorsicht zu genießen. Er bezeichnet einerseits eine Kraft, die im Menschen währt, die insofern seine Wahrheit ist, die aber zugleich nach außen drängt. Es handelt sich also um eine Kraft mit der ein Gerichtetsein auf Welt, ein aggredi, einhergeht. Zu sich selbst kann diese Kraft nur über die Welt gelangen. Anders formuliert: Sie muss wirklich werden, auf die Welt wirken und durch dieses Wirken sich selbst in Erfahrung bringen.

Wilhelm von Humboldt hat 1793 in seiner Theorie der Bildung des Menschen die dem Menschen eigene Bewegung sehr klar herausgearbeitet:

„Im Mittelpunkt aller besonderen Arten der Thätigkeit nemlich steht der Mensch, der ohne alle, auf irgend etwas Einzelnes gerichtete Absicht, nur die Kräfte seiner Natur stärken und erhöhen, seinem Wesen Werth und Dauer verschaffen will. Da jedoch die blosse Kraft einen Gegenstand braucht, an dem sie sich üben, und die blosse Form, der reine Gedanke, einen Stoff, in dem sie, sich darin ausprägend, fortdauern könne, so bedarf auch der Mensch einer Welt außer sich.“ (Humboldt [1793] 2006, 214).

Den Menschen zeichnet nach Humboldt eine Kraft aus, die sich stärken und erhöhen will. Diese Kraft bewegt sich auf die Welt zu. Damit begegnet die Kraft nicht nur der Welt, sondern über das Gegen der Gegenständlichkeit zugleich sich selbst. Die Kraft wird eine sich selbst erfahrende, womit ihr zugleich eine doppelte Fremdbestimmung widerfährt. Einerseits ist die Kraft und die damit einhergehende Bewegung auf die Welt nichts, was selbst wiederum Ergebnis der Kraft ist. Der Mensch als diese Kraft ist nicht Subjekt der Kraft, zugleich ist die Welt in ihrer Widerständigkeit und ihren Anforderungen etwas, was sich jenseits der Macht des Menschen befindet. Von beiden Seiten her rührt das Fremde, doch im Zurückbeugen und Sich-bewusst-werden scheint die Möglichkeit auf, dieser Kraft eine Richtung zu geben. Und damit gelangen wir wieder zur Idee. Für Humboldt handelt es sich dabei um die Idee der Menschheit, die zugleich das Wesentliche der Kraft ist und überdies nach Wert und Dauerhaftigkeit strebt. Darin zeigt sich

„[d]ie letzte Aufgabe unseres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“ (Humboldt [1793] 2006, 214).

Die Formulierung „den Begriff der Menschheit [...] einen [..] Inhalt [...] zu verschaffen“ verweist ganz eindrücklich darauf, dass etwas erfüllt, voll(ge)bracht, vollkommen gemacht werden soll und zwar soweit dies eben möglich ist. Ziel ist es offenbar nicht, dass am Ende die erreichte Vollkommenheit steht. Folgen wir Kants Worten, so bleibt das ganz Gerade sowieso für den Menschen unerreichbar. Aber näher an diese Idee zu gelangen, darum soll sich der Mensch bemühen.

Aristoteles verdanken wir den Gedanken der Entelechie, der sich im Stoff verwirklichenden Form. Der Mensch, der die Menschheit zu verwirklichen sucht, der aus sich selbst heraus zu sich selbst gelangen will, strebt danach, seinen Telos zu erfüllen. Er ist der sich vollendende Mensch, der die Vollendung selbst nicht erreicht und daher notwendig scheitern muss. Insofern wir den Entelechie-Gedanken etwas weiter fassen und das Sich-Vollenden als den zu erreichenden Zweck sehen, ist der nach Verwirklichung seiner Selbst strebende Mensch derjenige, der seinen Zweck, indem er ihn erfüllt, immer schon erfüllt hat. Damit hätten wir es mit einer dynamischen Vorstellung von Vollkommenheit zu tun, einer Vollkommenheit, die kein stillgestelltes Sein, sondern eine fortschreitende Bewegung ist, aber nicht irgend eine Bewegung, sondern eine, die ein bestimmtes Ziel verfolgt. Dieses Ziel gilt es für jeden einzelnen Menschen zu entdecken, dies ist gewissermaßen der erste Schritt zur Verwirklichung dessen, was er ist. Der zweite Schritt besteht darin, den Menschen dazu befähigen, dieses Ziel verfolgen zu können. Eben darin sehe ich die Aufgabe der Pädagogik, namentlich der Erziehung. Ich bin hier ganz nahe bei Kant, der das Erreichen, man könnte auch sagen: das Verwirklichen der Idee der Vollkommenheit selbst nie als Ziel formuliert. Die Vernunft, zu deren Befähigung Erziehung hinwirken soll, versteht er als regulative Idee. An anderer Stelle warnt er, der die Idee der Aufklärung so maßgeblich vorangetrieben hat, vor der negativen Utopie eines aufgeklärten Zeitalters, um für ein Zeitalter der Aufklärung zu plädieren (vgl. Benner; Brüggen 2004, 192f.).

Wie aber kann es dem Menschen gelingen, sich zu vervollkommnen? Wenn wir bei Kant bleiben, so geschieht dies allein über den Weg der Erziehung. Nur durch Erziehung kann der Mensch zum Menschen werden, und er ist nichts als das, was die Erziehung aus ihm macht (vgl. Kant [1803] 1983, 699). Das Wörtchen „werden“ ist hier ganz entscheidend, wir können es als „wirklich werden“ verstehen, denn auch für den unerzogenen Menschen verwendet Kant die Bezeichnung Mensch. Es handelt sich beim Unerzogenen allerdings nur um den möglichen Menschen, der in der großen Gefahr steht, sein Menschsein zu verfehlen. Kants Erziehungskonzept sieht neben Disziplinierung, Kultivierung und Zivilisierung die Moralisierung vor, die Befähigung, das subjektive Wollensprinzip nach dem Vernunftgesetz auszurichten. Dabei handelt es sich um die freiwillige Unterwerfung unter eine Idee, die über den einzelnen und dessen Interessen weit hinausreicht und die gesamte Menschheit im Blick behält. Der Begriff Unterwerfung deutet auf eine – wenngleich freiwillig vollzogene – Einschränkung der eigenen  Freiheit  hin.  Derjenige,  der  sich  freiwillig  unterwirft,  mag  seine  Freiheit behalten, und dennoch scheint mir der Begriff Unterwerfung nicht das zu fassen, um was es bei der Verwirklichung der Idee der Menschheit, um was es also beim Aus-sich- selbst-heraus-zu-sich-selbst-kommen tatsächlich geht.

II.   Erblicken und erblickt werden

Warum schreibt Kant: „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung“ (ebd.)? Diese Frage können wir leicht anhand eines Ereignisses verdeutlichen, das uns Johann Amos Comenius einige Jahre vor Kant in seiner Großen Didaktik nachzeichnet:

„Um das Jahr 1540 ereignete es sich in Hessen in einem mitten im Walde gelegenen Dorfe, daß ein dreijähriger Junge, auf den die Eltern nicht aufpaßten, verloren ging. Einige Jahre später bemerkten die Bauern, daß unter den Wölfen ein Lebewesen mitlief, das seiner Gestalt nach von ihnen verschieden war, zwar vierfüßig, aber dem Gesichte nach dem Menschen ähnlich. Als sich das nun herumgesprochen hatte, da ordnete der Bürgermeister des Ortes an, man solle doch versuchen, es auf irgend eine Weise lebendig zu fangen. Wirklich wurde es ergriffen und dem Bürgermeister, später dann dem Landgrafen von Kassel zurückgeführt. Als man es in den Hof des Fürsten brachte, riß es sich los, entfloh, verbarg sich unter eine Bank, mit gräßlichem Blick und unter abscheulichem Geheul. Der Fürst befahl, es unter anderen Menschen aufzuziehen. Das geschah, und das wilde Tier begann allmählich zahm zu werden, sich auf den Hinterbeinen aufzurichten, zweifüßig zu gehen und endlich vollständig zu sprechen und ein Mensch zu werden.“ (Comenius [1657] 2007, 42f.).

Es ist interessant, welche Bezeichnungen Comenius für den wilden, unerzogenen Menschen findet. Da ist die Rede von einem „Lebewesen“, das „dem Menschen ähnlich“ sei, von einem „wilde[n] Tier“, das erst durch die Aufzucht bei anderen Menschen „Mensch zu werden“ begann. Ausschließlich dieses eine Lebewesen unter den Wölfen konnte erzogen und damit Mensch werden, den Übrigen stand diese Möglichkeit nicht offen, denn sie trugen das Potenzial zur Menschwerdung nicht in sich. Ganz ähnlich verhält es sich mit Kants Überlegungen, in denen der Menschen als ein Vernunftwesen verstanden wird. Ihn zu einem Leben und Handeln gemäß der Vernunft zu führen kann nur gelingen, weil der Mensch die Vernunft als Möglichkeit in sich trägt. Diese Möglichkeit gilt es über Erziehung zu verwirklichen, wobei die Verwirklichung letztlich nicht allein ein Übergang in eine andere Seinsform (aus dem Möglich-Sein ins Wirklich-Sein) meint, sondern aus meiner Sicht eine Form der Vermittlung umfasst. Aus sich selbst heraus zu sich selbst gelangen meint damit gerade auch die Vermittlung dessen, was der Mensch im Zuge der Erziehung als seine Wahrheit vernimmt mit dem, was die Welt an Forderungen stellt und überdies an Möglichkeiten bereithält, um diese Wahrheit umzusetzen. Das Problematische besteht darin, dass der Mensch weder vollständig über seine Wahrheit verfügen kann, noch über das, was die Welt für ihn bereithält bzw. darüber, wie sie ihn anspricht. Eine Erziehung zur Vernunft sieht im Menschen die Möglichkeit der Vernunft. Dies ist die Voraussetzung dafür, dass der Mensch in sich selbst die Vernunft zu sehen in der Lage ist. Lassen Sie mich diese Überlegung an einem Beispiel verdeutlichen.

Der Darmstädter Pädagoge Werner Sesink arbeitet in seiner pädagogischen Einführung in die psychoanalytische Entwicklungstheorie Donald W. Winnicotts zwei Formen der Geburt heraus. Die erste Geburt ist die leibliche, an deren Ende zwei physisch voneinander getrennte Lebewesen stehen: Mutter und Kind. Insbesondere aus Sicht des Kindes ist die Geburt damit noch nicht vollständig vollzogen. Vielmehr besteht über die leibliche Trennung hinaus eine psychische Einheit mit der Mutter. Wir können uns diesen Gedanken mit einem Rückgriff auf Humboldts Bildungstheorie verdeutlichen. Wenn für Humboldt der Mensch eine auf die Welt hin ausgerichtete Kraft darstellt, diese Kraft, genauer: diese Bewegung aber noch nicht auf eine Widerständigkeit der Welt gestoßen ist, so hat die Kraft weder von der Welt noch von sich selbst eine Erfahrung gemacht. Selbsterfahrung kann es ohne die Erfahrung einer Alterität, also etwas, das Nicht-Selbst ist, nicht geben. Erst das Zurückbeugen der Kraft macht die Kraft erfahrbar. Die sich selbst über die Widerständigkeit der Welt nicht reflexiv einholende Kraft ist dennoch nicht Nichts. Aber so etwas wie eine Unterscheidung zwischen Eigenem und Fremden, Innen und Außen, Ich und Nicht-Ich ist (noch) nicht möglich. Für das Kind, das die zweite Geburt noch nicht vollzogen hat, erscheint das, was ist, als Ergebnis seiner Macht. Darin liegt eine gewissermaßen doppelte Paradoxie. Erstens scheint das Kind diese Macht zu sein, ohne weit genug von sich selbst getrennt zu sein, als dass ein reflexives Verhältnis zu dieser Macht möglich werden könnte. Zweitens ist die Macht ja tatsächlich eine höchst scheinbare, da die direkte Umwelt des Kindes – in der Regel verkörpert durch die Mutter – diesen Schein im besten Fall permanent bedient und damit zugleich aufrecht erhält. Sesink schreibt in diesem Zusammenhang:

„Die grenzenlose Macht, die das Kind erlebt, seine ‚Omnipotenz’, ist die Macht des Mutter-Kind-Systems, des von der Mutter gestärkten Ich.“ (Sesink 2002, 42) Konkret kann man sich diese Ich-Stärkung, die ein Aufrechterhalten der Omnipotenzillusion beinhaltet, wie folgt vorstellen: „Er [der Säugling (T.D.)] sucht mit dem Mund, und da ist die Brust. Er streckt die Hand aus, und da ist ein Ding. Dass die Brust, das Ding da waren, bevor er sie fühlte, dass da überhaupt eine Welt ist, die existiert, unabhängig von dem, was er mit ihr tut, ist im subjektiven Erleben nicht präsent.“ (ebd.).

Wie aber gelangt das gestärkte (oder scheinbare) Ich zur Eigenständigkeit? Wie löst sich die Omnipotenzillusion auf, wie tritt der bzw. das Andere in die Welt des Kindes? Im Grunde geschieht das durch ein Versagen der Ich-stärkenden Umwelt. Die Mutter, die mit der Zeit auf das Schreien des Kindes nicht mehr unmittelbar reagiert, löst beim Kind die Erfahrung der Ohnmacht aus. Das Begehren des Kindes lässt die Brust nicht länger erscheinen. Es erfährt eine Enttäuschung, und mit der Enttäuschung taucht sukzessive das auf, was die Täuschung nicht länger aufrecht erhalten will: die Mutter als das Andere, vom kindlichen Willen Unabhängige. Diese Erfahrung ist die Voraussetzung dafür, dass eine zweite Geburt möglich wird, in der Mutter und Kind als jeweils eigenständige Wesen hervorgehen. Zugleich ist die ausgehaltene Enttäuschung die Bedingung dafür, dass eine Beziehung zwischen Mutter und Kind möglich werden kann. Das Kind, das die Mutter zunehmend als eigenständig, von ihm selbst unterschieden wahrnimmt, macht überdies die Erfahrung, dass die Mutter auf das Kind reagiert. Sie reagiert dabei nicht nur auf das, was tatsächlich vorhanden ist, sondern ebenso darauf, was sie an Potenzialen im Kind sieht oder zu sehen glaubt. So gesehen weist der Mutterblick über das Gegebene hinaus – er erscheint als ein transzendentaler. Ebenso wie die  Kantische Erziehung  die noch  nicht wirklich  gewordene Vernunft anspricht, spricht der transzendentale Blick das im Kind an, was lediglich als Möglichkeit in ihm zu sein scheint. Das Gesehenwerden lässt dabei aus Sicht des Kindes etwas aufscheinen, was es selbst ausschließlich vermittels des Anderen zu erblicken in der Lage ist. Martin Heidegger betont in seinem Satz vom Grunde die Differenz von sehen und erblicken:

„Etwas sehen und das Gesehene eigens er-blicken, ist nicht das gleiche. Erblicken meint hier: ein-blicken in das, was uns aus dem Gesehenen her eigentlich, d. h. als dessen Eigenstes an-blickt.“ (Heidegger 1957, 85).

Aus sich selbst heraus zu sich selbst gelangen braucht das Erblickt-werden, braucht also den transzendentalen Blick, durch den das Kind seine Möglichkeiten gespiegelt bekommt. In dieser Reflexionsbewegung wird das Eigene des Kindes erfahrbar. Was der Mensch ist, genauer: was an Möglichkeiten in ihm steckt dem Menschen aufzuzeigen, damit er sein Bild, seine Idee der Menschheit entdecken kann, ist, wie weiter oben angeführt wurde, der erste Schritt der Erziehung. Der zweite Schritt – dies zur Erinnerung – besteht darin, dem Menschen zu ermöglichen, seine Idee zu verfolgen, sie lebend und handelnd umzusetzen.

III.   Menschen verbessern

Es mag dem einen Menschen besser gelingen, sich zu verwirklichen, als dem anderen. Man könnte nun dazu geneigt sein, eine Verbindung zwischen dem Maß der Selbstverwirklichung und der Verbesserung des Menschen zu ziehen. Deutlicher und in Form einer Frage formuliert: Ist Erziehung, die auf eine Verwirklichung der Idee des Menschen, auf eine Selbstverwirklichung im Sinne eines Zur-Fülle-bringens dieser Idee abzielt, eine Form der Verbesserung des Menschen? Kann derjenige, die im stärkeren Maße zu sich selbst gelangt ist, als der bessere Mensch bezeichnet werden? Ist Erziehung also letztlich Human Enhancement?

Nehmen wir Human Enhancement genauer in den Blick. Der Ausdruck to enhance meint im Deutschen soviel wie aufwerten, verbessern oder steigern. Möglichkeiten der Aufwertung und Verbesserung des Menschen scheint es auf den ersten Blick viele zu geben. Nehmen wir einen professionellen Radsportler, der seine Leistungen durch gezieltes Training verbessert und auf diesem Weg mehr Erfolge erzielt. Training hat den Radsportler zu einem besseren und für potenzielle Sponsoren zu einem wertvolleren gemacht. Stellen wir uns vor, der Radsportler greift auf Dopingmittel zurück, um noch erfolgreicher zu sein. Unabhängig von der Frage nach der Legalität oder Illegalität von Doping haben wir es – sofern der Gedopte tatsächlich mehr Erfolge erzielt – mit einem noch besseren Radsportler zu tun. Training und Doping begegnen uns so gesehen als Formen des Enhancements.

Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (F.A.S.) berichtet in ihrer Ausgabe vom 12.02.2012 in einem Artikel über Ritalin von einem Schüler namens Paul. Nach der dritten Klasse erhält Paul, der als unruhiges und anstrengendes Kind beschrieben wird, eine Empfehlung für die Sonderschule. Pauls Mutter interveniert, bringt Paul zum Arzt und erhält die Diagnose ADHS (Aufmerksamheitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung). Paul erhält das Medikament Ritalin (Wirkstoff: Methylphenidat) und verändert sich nach den Worten seiner Mutter innerhalb kürzester Zeit. Mittlerweile ist Paul 16, besucht das Gymnasium, strebt das Abitur an und will Ingenieur werden:

„Seit Paul die Pille nimmt, kommt er ohne Probleme mit, Vokalbellernen und Rechtschreibung haben sich verbessert, die Leseschwäche ist verschwunden. [...] Im vergangenen Jahr wollte Paul das Ritalin absetzen doch seine Lehrerin fand, so kurz vor dem Abitur sei das nicht der richtige Zeitpunkt, Pauls Mutter glaubt, dass er auch für das Studium Ritalin brauchen wird. ‚Wir leben in einer Leistungsgesellschaft’, sagt sie ‚und ich möchte, dass meine Kinder ganz vorne mitschwimmen.’“ (F.A.S. v. 12.02.2012, 3).

Unabhängig von der Frage, ob es sich im Falle von ADHS tatsächlich um eine Krankheit im Sinne einer biologischen Dysfunktionalität handelt oder ob die „Störung“ (lediglich) Ergebnis einer sozialen Konstruktion ist, können wir es als gegeben hinnehmen, dass Paul durch Ritalin sehr wahrscheinlich einen höherwertigen Schulabschluss erlangen wird. Das Medikament hat maßgeblich dafür gesorgt, dass sich Pauls Leistungen und die Leistungen zahlreicher weitere „Ritalin-Kinder“ verbessert haben. Ist die gezielte Verhaltensanpassung und Leistungsoptimierung durch Ritalin Human Enhancement? Nehmen wir an, Pauls Mutter hätte damals auf den Arztbesuch verzichtet und stattdessen nach alternativen Möglichkeiten gesucht, Paul zu besseren schulischen Leistungen zu verhelfen. Nehmen wir also an, sie hätte Nachhilfelehrer engagiert, für Paul eine andere Schule gesucht, mehr Zeit mit ihm verbracht usw. Möglicherweise hätte der Junge auch auf diesem Weg bessere Erfolge erziehen können. Ist das nicht auch eine Form der Verbesserung?

Der amerikanische Professor für Bioethik, Eric T. Juengst, charakterisiert Enhancement als Eingriff mit dem Ziel, die Gestalt oder Funktionsweise eines Menschen zu verbessern, ohne dabei anerkannte therapeutische Bedürfnisse zu befriedigen (vgl. Juengst 2009, 28). Ganz ähnlich fällt die Beschreibung bei Thomas Runkel aus. In seiner 2010 erschienenen Dissertation über Enhancement und Identität bezeichnet er Enhancement als biomedizinischen Eingriff, der sowohl über Krankheitsprävention, als auch über die Wiederherstellung von Gesundheit hinausgeht (vgl. Runkel 2010, 7). Legen wird Runkels Charakterisierung zugrunde, dann handelt es sich weder beim Training des Profiradlers, noch im Falle der pädagogischen Förderung um Enhancement. In beiden Fällen haben wir es nicht mit einem biomedizinischen Eingriff zu tun, der über Erhalt oder Wiederherstellung von Gesundheit hinausgeht. Im Falle der Behandlung mit Ritalin scheint es sich ebenfalls nicht um Enhancement zu handeln, vorausgesetzt, wir haben es bei der ADHS tatsächlich mit einer Krankheit zu tun.*

* Die Schwierigkeit, ADHS eindeutig als Krankheit im Sinne eine biologischen Dysfunktionalität zu bestimmen, arbeitete ich im meiner 2012 erscheinenden Arbeit „Menschen verbessern! Zur Symptomatik einer Pädagogik der ontologischen Heimatlosigkeit“ heraus.

Doping hingegen ist Enhancement. Schwieriger wird es, wenn wir uns an Juengst orientieren. Enhancement wird hier lediglich als Eingriff (und nicht  als biomedizinischer Eingriff) beschrieben, der die Gestalt oder Funktionsweise eines Menschen jenseits anerkannter therapeutischer Bedürfnisse zu verbessern versucht. Wenn wir davon ausgehen, dass ein Kind nicht unter ADHS leidet, wir dem Kind aber dennoch Ritalin verabreichen, um seine Konzentrationsfähigkeit über das normale Maß hinaus zu steigern, haben wir es nach Juengst mit Enhancement zu tun. Das dürfte allerdings auch dann gelten, wenn wir auf Ritalin verzichten und – ein transitives Bildungsverständnis vorausgesetzt – mit ausschließlich pädagogischen Maßnahmen auf das Kind einwirken. Wenn es uns also nicht um eine Vermittlung der Anforderungen, die wir an das Kind stellen, mit den Potenzialen, die im Kind währen und nach Ausdruck suchen, geht, sondern um ein Begradigen des krummen Holzes, so verändern wir durchaus die „Funktionsweise“ des Kindes. Das wäre, gemäß Juengst, Enhancement.

Ein gewisses Gespür für den Unterschied von Erziehung und Enhancement schwingt bei Andreas Woyke mit, wenn er schreibt:

„Das Festhalten an diesem Anglizismus (Human Enhancement, Anm. v. T.D.) ist [...] sachlich begründet, weil es eben nicht um schlichte ‚Verbesserung’ oder ‚Steigerung’ bestimmter Fähigkeiten durch Erziehung, Training oder verschiedene Lernprozesse geht, sondern um gezielte und basale technische Eingriffe zu einer grundlegenden Optimierung der menschlichen Konstitution über etablierte Maßstäbe und Grenzen hinaus. Gerade weil über die nähere Bestimmung und Bewertung von Human Enhancement kein Konsens besteht, ist es entscheidend, die Besonderheit der mit diesem Begriff verbundenen Technik und Zielsetzung zu betonen: Es geht weder um eine Therapie bestehender Krankheiten noch um eine Kompensation mehr oder weniger stark ausgeprägter körperlicher oder psychischer Defizite, sondern um eine technologische Veränderung im Sinne einer Verbesserung oder Erweitung der physischen und psychischen Leistungen eines gesunden Menschen“ (Woyke 2010, 22; Hervorh. im Original).

Ich würde den Unterschied zwischen Enhancement und Erziehung (oder weiter gefasst: pädagogischer Einflussnahme) noch deutlicher betonen: Sowohl Pädagogik als auch Enhancement können als technische Einflussnahme auf den Menschen verstanden werden. Im Falle von Enhancement geht es um die Bearbeitung bzw. um das Zurichten des Anderen, und dieses Andere begegnet in letzter Konsequenz immer als Gegenstand, als bloßes Ding. Es handelt sich daher genau genommen nie um den Anderen, sondern um das Andere. Pädagogik, so wie ich sie verstehe, zielt hingegen auch bei allen Techniken, derer sie sich bedient, auf den Anderen und dessen freien Willen ab. Sie braucht dessen Mithilfe, dessen Subjektivität. Ihre Einflussnahme ist ein stetiger Appell, ein Versuch, den Anderen zu erreichen. Einfach ausgedrückt: Pädagogik geht es um den Anderen. Wir können das in zweifacher Weise verstehen: Dieses Um-den-Anderen meint zum einen, dass derjenige Mensch, auf den pädagogisches Handeln abzielt, weder für eigene Interessen instrumentalisiert, noch funktionalisiert wird. Das zweite Verständnis besteht darin, eine gewisse Distanz zum Anderen zu wahren. Es geht um den Anderen ist in diesem Verständnis tatsächlich wörtlich zu nehmen. Dieses Abstand- wahren ist aus meiner Sicht eine der großen Herausforderungen pädagogisch tätiger Menschen. In ihrem Gelingen oder Scheitern zeigt sich, ob der Andere tatsächlich als der Andere oder als das Andere verstanden wird. Lassen Sie mich diesen Gedanken im Folgenden um einen Aspekt erweitern.

IV.   (Gute) Fürsorge und (schlechte) Fürsorge

Der Name Martin Heidegger ist bereits weiter oben gefallen. In seinem 1927 erschienenen Hauptwerk Sein und Zeit charakterisiert er das menschliche Sein als Dasein. Im Gegensatz zu anderen Dingen, die in der Welt sind, ist der Mensch nicht bloß vorhanden, sondern das Dasein als eine spezifisch menschliche Seinsweise ist als ein geöffnetes Sein offen für das Sein, in dem es steht. Anders formuliert: Das Dasein ist nicht einflach bloß da, sondern es geht ihm in seinem Sein um sein Sein. Einen bloßen Gegenstand können wir im Unterschied dazu als geschlossenes Sein bestimmen, das lediglich vorhanden ist. Wenn es nun dem Menschen als Dasein in seinem Sein um sein Sein geht, heißt das, dass der Mensch vom Sein seines Daseins getrennt ist, denn sonst könnte es ihm nicht um dieses Sein gehen, da er dieses Sein bereits voll und ganz wäre. Der Mensch wäre in diesem Falle vollkommen. Ein Gegenstand, der nicht in der Weise des Daseins sondern in der des Vorhanden-Seins ist, besitzt kein seinsmäßiges Getrenntsein. Das Vorhandene ist, was es ist, und weil es ist, was es ist, ist es zugleich unmöglich. Dem Dasein in seinem Getrenntsein als Bedingung seiner Offenheit geht es in seinem Sein um etwas. Heidegger verwendet hierfür den Begriff Sorge (vgl. Heidegger [1927] 2001, 192). Das Dasein befindet sich ständig in Sorge, die Sorge ist eine Grundstruktur des Daseins, ein sogenanntes Existenzial. Heidegger arbeitet zwei Modi der Sorge heraus. Richtet sich die Sorge auf bloß vorhandene Dinge, handelt es sich um ein Besorgen; richtet sich hingegen die Sorge auf ein anderes Dasein, haben wir es mit der Fürsorge zu tun. Nun gibt es ganz unterschiedliche Formen der Fürsorge, von denen zwei unterschiedlicher kaum sein können. Es handelt sich dabei um die einspringend-beherrschende und um die vorausspringend-befreiende Fürsorge (vgl. ebd., 122).

Beginnen wir mit der einspringend-beherrschenden Variante. Stellen Sie sich eine aufmerksame Pädagogin vor, die recht schnell bemerkt, dass der von ihr betreute Jugendliche vielerlei Probleme in Sachen Schule, aber auch allgemein in Sachen Lebensbewältigung aufweist. Unsere Pädagogin ist ausgesprochen engagiert und investiert daher viel Zeit, die verschiedenen „Baustellen“ für den Jugendlichen Stück für Stück aus dem Weg zu räumen. Auf den ersten Blick scheint das eine gute Sache zu sein, tatsächlich ist es aus pädagogischer Sicht eine Katastrophe. Einerseits verbleibt der Jugendliche, dessen Probleme für ihn scheinbar gelöst werden, in einer Abhängigkeit. Er braucht die Person, die für ihn das Beseitigen seiner Probleme besorgt, er selbst ist hierzu nicht in der Lage und wird eben auch nicht in diese Lage versetzt. Insofern ist diese Form der Fürsorge in der Tat eine beherrschende. Zum Anderen wissen wir mittlerweile, dass nach Heidegger die Weise des Daseins in der Welt eine sorgende ist. Als Dasein hat der Mensch sein Sein zu sein. Wird ihm diese Sorge abgenommen, wird ihm zugleich die Möglichkeit, sein Sein sein zu können, versperrt. Jemand anderes springt für den Jugendlichen dort ein, wo er selbst sorgend tätig sein müsste. Mit der einspringend-beherrschenden Fürsorge endet freilich nicht das Sein dieses Menschen, wohl aber steht er in der Gefahr, bei der Suche nach seiner Wahrheit, seiner Idee vom Menschsein und der Möglichkeit, diese zu leben, zu scheitern. In Anlehnung an Heidegger ausgedrückt: Der Mensch steht in der Gefahr, in einer uneigentlichen Seinsweise zu verbleiben, mithin das zu verfehlen, was er eigentlich ist.

Die zweite Form der Fürsorge ist die vorausspringend-befreiende. Hier geht es gerade nicht darum, die Sorge für den Anderen zu übernehmen, vielmehr geht es in dieser Fürsorge um den Anderen. Der in dieser Weise Fürsorgende bringt seine (größere) Erfahrung, sein (umfangreicheres) Wissen etc. ins Spiel, um mit Blick auf das Werden und Entfalten dieses anderen Menschen ihm seine Möglichkeiten,  aber auch seine Baustellen aufzuzeigen. In einem wohlbekannten Slogan zusammengefasst handelt es sich bei der vorausspringend-befreienden Fürsorge um Hilfe zur Selbsthilfe, ferner ein Aufmerksam-machen, ein Aufzeigen, ein Spiegeln und Ermutigen. Diese Fürsorge setzt den weiter oben erwähnten transzendentalen Blick voraus, und sie verlangt darüber hinaus den Mut und die Kraft, den Anderen auch in seinen dunklen Stunden „nur“ zu begleiten, ja sogar in seinem selbstgewählten und selbstgewollten Scheitern nicht auf ihn zuzugreifen, ihn also im wahrsten Sinne des Wortes seinzulassen.

V.   Optimierung zur Unwirklichkeit

Erinnern wir uns an Pauls Mutter, die ihrem Sohn Ritalin verabreicht, damit der Junge in der Leistungsgesellschaft ganz vorne mitschwimmt. Um was geht es der Mutter? Sicherlich (auch) darum, ihren Schützling die bestmöglichen Voraussetzungen zu geben, um erfolgreich in einer Welt zu sein, in der hohe Anforderungen an und für den Erfolg gestellt werden. Damit erfüllt die Mutter eine nicht unwesentliche Aufgabe von Erziehung, nämlich „Vorbereitung auf das, was die Gesellschaft für ihn bestimmt hat“ (Heydorn 1970, 9). Aber es geht eben gerade auch darum, was die Gesellschaft für ihn, d.h. diesen besonderen Menschen, bestimmt hat. Ich denke nicht, dass die Mutter in der Leistungsverbesserung mithilfe von Ritalin ihren Jungen als ein zurichtbares Ding wahrnimmt. Wohl aber handelt es sich um eine Form der einspringend-beherrschenden Fürsorge. Schwierigkeiten werden für den Sohn mit Unterstützung eines bestimmtes Wirkstoffes scheinbar aus dem Weg geräumt. Was bleibt ist die Abhängigkeit des Sohnes von der Pille, die kurz vor dem Abitur besser nicht abgesetzt werden soll, und die es während des Studiums wohl auch weiterhin einzunehmen gilt. Offen bleibt die Frage, was sich für Paul als diesen bestimmten Menschen mit Blick auf die Verwirklichung dessen, was er ist, als das Richtige erweist. Ritalin ist keine Antwort auf diese Frage. Die Verbesserung der Leistungsfähigkeit hat mit der Frage, was Paul für ein Mensch ist und wie er das, was er ist, entdecken und verwirklichen kann, wenig zu tun. Gerade darin liegt aber die Aufgabe von Erziehung.

Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem wir die medikamentöse Einflussnahme auf den Organismus des Kindes einerseits und die erzieherische Einflussnahme andererseits klar voneinander trennen müssen. Allerdings besteht die Frage, ob eine solch klare Trennung überhaupt möglich ist. Es macht Sinn, sich das bereits angeführte Zitat von Andreas Woyke noch einmal vor Augen zu führen. Woyke schreibt, es gehe bei Human Enhancement „um gezielte und basale technische Eingriffe zu einer grundlegenden Optimierung der menschlichen Konstitution über etablierte Maßstäbe und Grenzen hinaus.“ (Woyke 2010, 22). Das setzt voraus, dass es derlei etablierte Maßstäbe und Grenzen gibt. Ich möchte das gar nicht in Abrede stellen, denn wir arbeiten vermutlich alle mehr oder weniger mit solchen etablierten Maßstäben und Grenzen. Ein Mensch mit einer Körpergröße von 350cm wäre jenseits dieser Grenzen. Etablierte Maßstäbe und Grenzen bezeichnen die Normalität. Aus pädagogische Sicht ist es jedoch überaus problematisch die (zumindest alleinige) Orientierung an der Normalität zu üben. Mit seinem unruhigen Verhalten und der Empfehlung für die Sonderschule mag Paul gemessen am Normalen als unterdurchschnittlich (lapidar ausgedrückt: etwas weniger gut als normal) gelten. Geht es bei der Erziehung aber, um es mit Sesink zu formulieren, um den „fremdbestimmten Anteil an der Entwicklung eines Menschen aus seinem eigenen Sinn“ (Sesink 2001, 52, Hervorh. v. T.D.), dann besteht die Aufgabe darin, den Blick auf diesen Menschen zu richten, auf das, was er ist und sein kann, also nicht auf das, was er sein sollte, sondern auf das, was er(!) sein könnte. Die Verabreichung von Ritalin ist für sich genommen keine pädagogische Handlung, aber sie geschieht im Rahmen einer Erziehung, die den Blick nicht auf das Sein-können des jeweils bestimmten Menschen, nicht auf dessen eigenen Sinn, sondern auf die etablierten Maßstäbe richtet. Der Fokus liegt hier auf dem Normalen, das erreicht bzw. überboten werden soll, und nicht auf dem Besonderen, was nur dieser Mensch in seiner eigentümlichen Weise mitbringt. Ritalin von Erziehung eindeutig zu trennen, scheint mir daher illusorisch. Vielmehr erweist sich die Verabreichung von Ritalin als Folge einer Erziehung, die sich lediglich als fremdbestimmter Anteil an der Entwicklung eines Menschen versteht. Der eigene Sinn dieses Menschen bleibt ungesehen, wird nicht erblickt.

Das Kind, dessen Leistungsfähigkeit medikamentös verbessert wird, mag tatsächlich messbar bessere schulische Leistungen vollbringen, es mag durchaus sein, dass es im sozialen Umgang angepasster wirkt und es darf vermutet werden, dass es aufgrund dessen zahlreiche positive Rückmeldungen erhält. Aber auf was beziehen sich diese Rückmeldungen? Etwa auf das, was dieser Mensch ist? Oder doch eher auf das, was dieser Mensch nach außen hin präsentiert, was aber möglicherweise mit dem, was er ist, wenig zu tun hat, weil er das, was er ist, nie wirklich erfahren hat geschweige denn nach außen tragen und damit leben konnte? Wenn die Beeinflussung des Menschen durch Ritalin die mögliche Folge einer Erziehung ist, die den eigenen Sinn des Menschen vernachlässigt, dann ist die Vergabe von Ritalin als Form der Leistungsoptimierung von Erziehung nicht eindeutig zu trennen. Erziehung, die auf Ritalin zurückgreift, sorgt für eine „grundlegende[...] Optimierung der menschlichen Konstitution über etablierte Maßstäbe und Grenzen hinaus“ (Woyke 2010, 22), und zwar für eine grundlegende Optimierung dieses Menschen, seiner geistigen Konstitution, die über die ihm gemäßen und an ihm Orientierung suchenden Maßstäbe und Grenzen hinausgeht. Gemäß einer Erziehung, die den eigenen Sinn und das eigene Möglichsein des Menschen verfehlt, kann sich Pädagogik tatsächlich als eine Form des Human Enhancement herausstellen. Allerdings scheint dabei  die Frage  auf, ob  es sich tatsächlich  auch dann  um eine Verbesserung des Menschen handeln kann, wenn der Mensch in dem, was er seinem Sinn, seiner Idee, seiner Menschlichkeit nach ist, ungesehen und damit unwirklich bleibt.

Literatur

Benner, Dietrich; Brüggen, Friedhelm (2004): Bildsamkeit/ Bildung. In: Benner, Dietrich; Oelkers, Jürgen (Hg.): Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim, Basel: Beltz, 174–215

Comenius, Johann Amos (10. Aufl. 2007): Große Didaktik. Die vollständige Kunst, alle Menschen alles zu lehren. Stuttgart: Klett-Cotta.

Heidegger, Martin (1957): Der Satz vom Grund. Pfullingen: Günther Neske. Heidegger, Martin (18. Aufl. 2001): Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer.

Heydorn, Heinz Joachim (1970): Über den Widerspruch von Bildung und Herrschaft.

Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt.

Hoffmann, Christiane; Schmelcher, Antje: „Wo die wilden Kerle wohnen“ In: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 6 R, 12.02.2012, 2-3

Humboldt, Wilhelm von (2006): Theorie der Bildung des Menschen [1793]. In: ders.: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. New York: Elibron Classics.

Juengst, Eric T. (2009): Was bedeutet Enhancement. In: Schöne-Seifert, Bettina; Talbot, Davinia (Hg.): Enhancement. Die ethische Debatte. Paderborn: Mentis, 25-46.

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Runkel, Thomas (2010): Enhancement und Identität. Die Idee einer biomedizinischen Verbesserung des Menschen als normative Herausforderung. Tübingen: Mohr Siebeck (Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 2008).

Sesink, Werner (2001): Einführung in die Pädagogik. Münster, Hamburg, Berlin: LIT.

Sesink, Werner (2002): Vermittlungen des Selbst. Eine pädagogische Einführung in die psychoanalytische Entwicklungstheorie D. W. Winnicotts. Münster, Hamburg, London: LIT.

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Unsere Arbeit

«Wir sind ein Zusammenschluss von namhaften Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema ADHS einsetzen.»

Unsere Vision

«Unsere Vision ist es, die Öffentlichkeit zu ermächtigen, das gegenwärtige schulmedizinische ADHS-Konstrukt kritisch zu hinterfragen und damit der einseitigen Biologisierung kindlichen Verhaltens entgegenzuwirken».

Governance

Die Konferenz ADHS wird durch den Vorstand geführt und durch das Kuratorium beraten. Der Generalsekretär vertritt die Konferenz ADHS nach aussen.