Vortrag auf der Tagung Rad(t)schlag AD(H)S vom 16.- 19.5.2012 in Erftstadt
1. ZeitdiagnoseBei 600 000 Kindern wird in Deutschland ADHS diagnostiziert, Tendenz weiter zunehmendend. Landesweit stieg der Verbrauch des Wirkstoffes Methylphenidat laut Bundesopiumstelle zwischen 1993 und 2010 von 34 kg auf 1,8 Tonnen um das 52-fache an (vgl. www.gesundheitlicheaufklaerung.de; www.deutsche-apotheker-zeitung.de). Die Zahl der verordneten Tagesdosen von Methylphenidatpräparaten hat sich seit 1990 auf ca. 50 Millionen Dosen, d.h. um mehr als das 150-fache erhöht (vgl. www.barmer-gek.de).
Man schätzt, dass in Deutschland 250 000 Kinder Medikamente wie Ritalin nehmen, weltweit liegt die Anzahl medikamentös behandelter Kinder mit der Diagnose AD(H)S bei über zehn Millionen. Der Konzern Novartis, der Ritalin herstellt, machte damit im Jahr 2010 einen weltweiten Umsatz von 464 Millionen Dollar. 2006 waren es noch 330 Millionen Dollar gewesen (vgl. Hüther, Bonney 2010, S. 13; Hüther 2011, S. 4; Schiffl 2011; www.faz.net/aktuell; Kunst 2012, S. 17). Ritalin ist das am häufigsten verschriebene Medikament bei Kindern und Jugendlichen der Altersgruppe elf bis vierzehn und rangiert noch vor Mitteln gegen Erkältung oder Schmerzen (vgl. www.aerzteblatt.de; von Lüpke 2009, 31). Nicht zuletzt auf Grund des uneinheitlichen Störungsbildes einer „ADHS“ ist die Wirkungsweise der Methylphenidatpräparate noch nicht erschöpfend erforscht. So bleibt etwa unklar, warum 20 – 30 % der behandelten Heranwachsenden so genannte Nonresponder sind (vgl. Karch 2003, 498; Olde 2011, S. 43). Oftmals wird auch argumentiert, dass sich bei Neuroenhancern wie Ritalin kein Suchtpotenzial nachweisen lasse, wobei unterschlagen wird, dass die moderne Suchtmedizin nicht mehr zwischen seelischen und körperlichen Phänomenen unterscheidet. „Gerade dem dopaminergen Botenstoffsystem kommt in modernen Suchttheorien eine Schlüsselfunktion zu. Denn alle bekannten Substanzen mit Abhängigkeitspotenzial setzen Dopamin im Belohnungssystem frei und verstärken so den weiteren Drogenkonsum“ (vgl. Kipke et al 2010, S. 2384 ff.)
Noch immer wird also eine stetig wachsende Zahl von Kindern medikamentös mit Psychostimulanzien behandelt, ungeachtet eines eng gefassten Beschlusses des Gemeinsamen Bundesausschusses für das Gesundheitswesen aus dem Jahre 2010, wonach die Diagnose ADHS noch umfassender zu stellen sei und die Verordnung nur von Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern und Jugendlichen erfolgen dürfe (vgl. www.g-ba.de). Nach einer aktuellen repräsentativen Befragung von annähernd 500 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten und -psychiatern wird ADHS zu häufig diagnostiziert. Sie erhielten je eine von vier Fallgeschichten und sollten eine Diagnose stellen und eine Therapie vorschlagen. In drei der vier Fälle lag an Hand der geschilderten Symptome und Umstände keine ADHS vor, nur ein Fall war mit Hilfe der geltenden Leitlinien und Kriterien einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung zuzuordnen. Da auch noch das Geschlecht variiert wurde, gab es insgesamt acht Fälle. Es stellte sich heraus, dass in über 20 % falsche Diagnose bzw. eine falsche Verdachtsdiagnose gestellt wurden. Insbesondere bei Jungen wurden mehr Fehldiagnosen gestellt als bei Mädchen. Mit der falsch gestellten Diagnose ging zudem die Empfehlung einer medikamentösen und psychotherapeutischen Behandlung einher. Die Fachvertreter fällen ihr Urteil offensichtlich entlang von Faustregeln, so genannten Heuristiken und neigen zur Überdiagnostizierung (vgl. Bruchmüller, Schneider 2012, S. 77 ff.).
Der Vorstand der Bundesärztekammer wiederum hat 2005 eine Stellungnahme zu ADHS abgegeben, in welcher neben der Medikation psychoedukative und verhaltenstherapeutische Maßnahmen empfohlen werden, mit deren Hilfe die „erzieherische Führung“ des Kindes verbessert bzw. sein Verhalten über eine operante Konditionierung nachreguliert werden sollen. Psychodynamische Verfahren werden dort als ungeeignet eingestuft, weil man ihnen eine ungenügende bzw. nicht erforschte Wirksamkeit unterstellt. Dass die Untersuchung von Neraal und Wildermuth (2008) wie vor allem die bis 2013 angelegte Präventionsstudie des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts (vgl. Leuzinger-Bohleber et al 2006a, 2008, Läzer et al 2010, Staufenberg 2011) inzwischen deutliche Erfolge vorweisen können, bleibt bis heute noch immer unberücksichtigt. Unverkennbar tritt in diesen Forschungen zutage, dass Kinder ihre innere Befindlichkeit in der Regel nicht durch Worte mitteilen, sondern ihre Ängste, depressiven Gefühle und Spannungen durch abgelenkte Aufmerksamkeit, motorische Aktivitäten oder Impulsivität zum Ausdruck bringen.
Zum jetzigen Zeitpunkt haben sich folgende Forschungserkenntnisse herauskristallisiert:
- Bei ADHS liegt kein einheitliches, durch hirnphysiologische und/oder genetische Faktoren verursachtes Krankheitsbild
- Den gesellschaftlichen Erosionsprozessen, in die Kindheit heute eingebettet ist, kommt eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Verhaltensauffälligkeiten
- Diesbezüglich ist das Verhältnis von Umwelteinflüssen, Beziehungserfahrungen und biologischen Vorgängen genauer
- Schließlich ist zu fragen, ob der Störung nicht ein metaphorischer Sinn beigegeben ist und ob darin nicht eine Selbstmitteilung über die eigene Befindlichkeit und das eigene Leiden enthalten Dann wäre diese Störung nichts per se Pathologisches, sondern ein konstruktiver, wenngleich unzureichender, weil häufig nicht symbolisierter Bewältigungsversuch.
Ellesat fasst den Stand der Forschung wie folgt zusammen:
- Im Einzelnen finden sich Belege, dass insgesamt relativ weitläufige Volumenveränderungen, vor allem im rechten präfrontalen Cortex, bei Patienten mit ADHS vorliegen.
- Das EEG von Kindern mit ADHS zeigt Abweichungen im Vergleich zur Kontrollgruppe. Auch finden sich Störungen im Dopaminstoffwechsel.
- Die Bedeutung psychosozialer Einflüsse wird im Vergleich mit genetischen Faktoren als eher gering veranschlagt (vgl. Ellesat 2012, S. 78).
Dagegen wendet Ellesat ein:
- Nach heutigem Verständnis haben Gene eine Transkriptionsfunktion, die für Umwelteinflüsse offen ist. Gene können erfahrungs- und erlebnisabhängig ein- oder ausgeschaltet werden. Lernen bringt Veränderungen in der Genexpression hervor.
- Es ist offen, ob nachweisbare biochemische Anomalien im Gehirn primär angeboren sind oder sich gebrauchsabhängig entwickelt haben.
- Die vorliegenden Studien basieren auf Ergebnissen, die bei Kindern ab einem Alter von zwei bis vier Jahren gewonnen wurden. Vor diesem Alter haben aber bereits entscheidende Entwicklungen im Bereich des Selbst- und Beziehungserlebens stattgefunden, die sich auch hirnorganisch abbilden (vgl. Ellesat 2012, S. 79).
Genetisch bedingt und angeboren ist, dass ungefähr ein Drittel mehr Vernetzungen im Kortex bereit gestellt sind, als später auch benutzt und damit stabilisiert werden. „Die kortikalen Strukturierungsprozesse erfolgen beim Kind nicht durch das, was wir früher Umwelt genannt haben. Sie erfolgen aufgrund seiner subjektiven Bewertungen und die damit einhergehenden subjektiven Erfahrungen, die jedes Kind in seiner jeweiligen Lebenswelt macht“. Diese epigenetischen Faktoren führen bereits vorgeburtlich zu Strukturierungsprozessen und haben einen entscheidenden Einfluss auf die Ausbildung einer ADHS-Symptomatik (vgl. Hüther 2010, S. 8; Mill, Petronis 2008). Liegt eine entsprechende Problematik bereits bei der Mutter vor, stellt dieser Umstand ein erhöhtes Risiko für die Ausbildung von Bindungsstörungen und Probleme bei der Emotionsregulation beim Kind dar (vgl. Edel et al 2010). Vor allem im Phänomen frühkindlicher Spielunlust, verknüpft mit extrem kurzen Aufmerksamkeitsspannen, dysphorischer Unruhe und motorischer Umtriebigkeit, können die frühen emotionalen Abstimmungsstörungen kulminieren. Gerade dem Spiel kommt im Hinblick auf eine frühe Form symbolischer Problem- und Spannungsbewältigung eine starke Resilienzfunktion zu. Fehlt es Kindern dagegen an frühen positiven Spielerfahrungen, hat dies Folgen für ihre Aufmerksamkeitsregulation und Erfahrung von Selbstwirksamkeit (vgl. Papousek 2012, S. 11 ff.).
Selbstredend ist diese Problematik in ein größeres Ganzes eingebunden, wie die naschfolgenden Zitate zeigen. „In einer ‚dauererregten Gesellschaft’, in der ständig um den weckenden und bindenden Reiz konkurriert wird, wachsen auch die störenden Reize“ (Gekeler 2012, S. 5). In einer „Gesellschaft des Spektakels“ (Türcke 2002, S. 10) wird nur noch die Sensation beachtet. Da aber gleichzeitig die Reize nicht mehr genügend Faszination versprechen, sind immer mehr mediale Trommelfeuer vonnöten. Gleichzeitig schwindet der Wert der Aneignung von Wissen und Bildung rapide (vgl. Hopf 2012, S. 39). „Je mehr eine Gesellschaft erregt ist, umso weniger scheint sie aufgeregte Kinder zu vertragen und trotzdem steigert sie selbst die Ursachen ihrer Aufregung“ (Golse 2012, S. 58).
Vor allem die Wahrnehmung von Wirklichkeit und ihre Verarbeitung unterliegt ja einem fundamentalen Wandel, von dem wir noch gar nicht wissen, welche Konsequenzen er langfristig auf das kindliche Werden parat halten wird. „Jedenfalls ist es mehr als auffällig, wie gut sich die hyperaktiven Kinder und Jugendlichen, die in der realen Welt wie verloren wirken, in den Computern zurechtfinden und sich in den Spielen und Online-Kontakten mit einer Sicherheit bewegen, über die sie in der so genannten ‚ersten Realität’, im Alltag ihres Lebens, nicht verfügen“ (Bergmann 2007, S. 54).
Diese Veränderungen mögen auf den ersten Blick harmlos erscheinen, sie sind es wohl sicher nicht. „Eine technisch perfektionierte audiovisuelle Maschinerie läuft rund um die Uhr, wiederholt unablässig die Ausstrahlung ihrer aufmerksamkeitsheischenden Impulse, aber sie wiederholt nicht mehr jene Art von Bewegungsabläufen, die sich zu Ritualen und Gewohnheiten sedimentieren. Im Gegenteil: sie desedimentiert sie. (...) Die technische Errungenschaft besticht dadurch, dass ihre Bilder echt, sinnlich, vorzeigbar sind. (...) Sie nimmt eine der größten Errungenschaften der menschlichen Einbildungskraft zurück: die Differenz von Halluzination und Vorstellung“ (Türcke 2012, S. 14 f.).
Und so müssen wir tatsächlich umfassender hinschauen. „Es liegt auf der Hand, dass jenes diffuse Phänomen, für das ‚ADHS’ mehr eine Verlegenheitsbezeichnung als eine trennscharfe pathologische Diagnose ist, ohne umfassende kulturtheoretische Perspektive gar nicht angemessen begriffen werden kann. ADHS ist ja nicht einfach eine Krankheit in gesunder Umgebung. Umgekehrt: Nur wo schon eine Aufmerksamkeitsdefizitkultur besteht, gibt es ADHS“ (Türcke 2012, S. 13).
Für mich tut sich an dieser Stelle ein erstaunlicher Bruch auf. Während die einströmenden Reize immer vielfältiger werden, verharrt der mainstream der Wissenschaft in schlichten Vorstellungen von Welt und Subjekt. Alles scheint so einfach und widerspruchslos zu sein. Übersehen wird, „dass die evidenzbasierte Forschung häufig Komplexitätsreduktionen vornimmt, die von einem erheblichen Mut zur Vergröberung zeugen. (…) Und auf der Ergebnisebene gibt sich die ‚evidence-based‘ Forschung nicht selten (…) mit schlichten Gewissheiten zufrieden, die allenfalls durch ‚Effektivität‘ imponieren“ (vgl. Ahrbeck 2007, S. 39).
Vor allem die biologische Psychiatrie mit ihrem Alleinvertretungsanspruch in Sachen ADHS ist durch einen umfassenden Reduktionismus gekennzeichnet, in dessen Mittelpunkt Rezeptoren, Transmitter und neuronale Netzwerke stehen, die die Würdigung von biographischen und psychodynamischen Aspekten für die individuelle Krankheitsgenese überflüssig machen. Da hilft auch die vollmundig propagierte Bekenntnis zum ‚bio-psycho- sozialen’ Krankheitsmodell wenig. „Gleiche Wörter haben immer wieder unterschiedliche Bedeutungen, je nachdem, wer sie in welcher Absicht verwendet“ (Finzen 2003, S. 13; zit. n. Ahrbeck 2007, S. 34).
Auffällig sind zudem die zur Anwendung kommenden maschinentechnischen Metaphern innerhalb der ADHS-Modelle. Schon beim Konzept der Minimalen Cerebralen Dysfunktion ging man von einem Hardware-Defekt aus, der mit dem deskriptiven Vokabular der Informatik als eine Art Programmsteuerungsstörung bezeichnet wurde. Auf alle Fälle werden die Ursachen der Störung systemimmanent – im Kind liegend – verortet. Mögliche äußere Momente werden als hinzukommende Risikofaktoren geführt. Das Problem daran ist, dass die Verinnerlichung dieses Modells systemimmanenter Ursachen wie Gehirnschaden oder Gendefekt bei Eltern und Kindern denkbar ungünstige Voraussetzungen für Entwicklungs- und Änderungsprozesse abgibt (vgl. Brandl 2007, S. 110).
Welche anderen als regressive psychologische Motive, selbst von Reizüberflutung verschont zu werden, mögen für diesen Hang zur Vereinfachung in Anschlag gebracht werden? „Man kann vermuten, dass die Annahme plastisch darstellbarer, physiologisch messbarer, scheinbar klar erwiesener, ausschließlich genetischer, hirnorganischer Ursachen der Symptome von der Suche nach komplexen, schwer zugänglichen und schwer überschaubaren Beziehungszusammenhängen entlasten soll“ (Ellesat 2012, S. 79).
Dass wir eben von diesen maschinentechnischen Metaphern überrollt werden, ist übrigens kein Zufall. Bis zum 17. Jahrhundert galt Aufmerksamkeit lediglich als spontanes, sinnliches Erfassen, als ein fluktuierendes, interessengeleitetes Herumschweifen. Erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts trat die willkürlich gerichtete Aufmerksamkeit in den Mittelpunkt des Interesses (vgl. Mattner 2004, S. 29). Crary spricht hier von der Tendenz zur Disziplinierung des Sehens und macht deutlich, wie die Aufmerksamkeit unter dem Einfluss einer naturwissenschaftlich gewirkten Psychologie als eine jetzt quantifizierte Kategorie menschlicher Wahrnehmungsvorgänge aufscheint (vgl. Crary 2002, S. 25 ff.). Die Kehrseite dieser willentlich-disziplinierten Form der Wahrnehmung bildet fortan die Un-Aufmerksamkeit, die sich „im genormten maschinellen Produktionsprozess als äußerst hinderlich und gefährlich erwies. Das heißt: Erst im 19. Jahrhundert wird die willkürliche Aufmerksamkeit zur Notwendigkeit und damit gleichzeitig zum Problem“. Mit der dann zunehmenden Pathologisierung und Etikettierung von Kindern mit sogenannten Aufmerksamkeitsstörungen entlarvt sich die erfundene Kategorie der Aufmerksamkeit bis heute als normative Kraft institutionalisierter Macht (vgl. Mattner 2004, S. 30).
Die Aufmerksamkeit bzw. deren Verlust wurde ab da zu einem psychologischen Thema, als es im aufblühenden Industriezeitalter unter dem Einfluss von Profitinteressen darum ging, Maschinen so sorgfältig zu bedienen, dass möglichst wenig Ausschuss produziert wurde. In der dieser Epoche korrespondierenden Wissenschaftsgeschichte wurde diesem Aspekt mit Descartes’ Unterscheidung in spontane und willentliche Aufmerksamkeit Rechnung getragen. Bei spontaner Aufmerksamkeit wendet man sich ungerichtet interessanten Reizen zu, was naturgemäß ein gewisses Maß an Ablenkbarkeit mit sich bringt. Freuds Methode der gleichschwebenden Aufmerksamkeit könnte man darunter zählen.
Bei willentlicher Aufmerksamkeit fokussiert man sich auf eine einzige Sache und blendet alle anderen Reize aus. Die „willentliche, dem Willen unterworfene Aufmerksamkeit erhält den Rang einer Tugend“. Sie ist Ausweis der Selbstbeherrschung. Gilt das Aufmerksamkeitsdefizit aber als Symptom einer Krankheit, kann es keine Frage des Willens sein, wenn sich diese Kinder nicht konzentrieren können (vgl. Haubl 2012, S. 22 ff.).
Um dem Phänomen ADHS auf die Spur zu kommen, müssen wir aber von solchen eindimensionalen Vorstellungen Abstand nehmen und neue Denkmodelle generieren. „Das Gehirn funktioniert nicht wie eine Maschine, deren Defekte sinnvollerweise durch ‚Tricks’ oder durch ein Medikament funktional auszugleichen sind. Vielmehr ist das Gehirn ein lebendiges, biologisches System, das sich nur in ständiger Auseinandersetzung mit der Umwelt weiterentwickelt und (...) ohne interagierende, sensomotorisch-affektive Koordination nicht dazu in der Lage ist, Kategorien zu entwickeln, d.h. sich selbst und die Umwelt inmitten aller Veränderungen zu verstehen. In diesem Sinne gibt es auch kein vom Körper losgelöstes Denken: Alle seelischen und geistigen Prozesse sind ‚embodied’, d.h. an Informationsaufnahme und -verarbeitung des gesamten Körpers gebunden“ (Leuzinger- Bohleber 2009, S. 165).
Durch die Medikamentengabe wird dem Kind keine Möglichkeit der Entwicklung innerer Selbststeuerungsprozesse zum Umgang mit seinen Affekten, Impulsen und Konflikten gegeben: „dies kann nur durch einen verstehenden Zugang zum Kind in empathischen, tragfähigen Beziehungen geschehen“ (vgl. Leuzinger-Bohleber 2009, S. 167).
Wenn wir uns also „vom mechanistischen Bild des Gehirns als einer Maschine verabschieden, öffnet sich der Blick dafür, dass das menschliche Gehirn als ein sich selbst organisierendes System zu verstehen ist, das sich in hohem Maße durch Erfahrungen in Interaktionen strukturiert“ (Hüther 2010, S. 8). Deshalb möchte ich jetzt noch einmal den völlig unterschätzten Einfluss der psycho-sozialen Faktoren für die Diagnoseerstellung von ADHS hervorheben.
Je niedriger die soziale Schicht ist, der Kinder und Jugendliche angehören, desto höher ist die Anzahl der gestellten ADHS-Diagnosen. Die von ADHS am stärksten betroffene Gruppe sind Jungen zwischen 11 und 13 Jahren. In einer hohen sozialen Schicht liegt die Prävalenz bei 4,2%, in einer mittleren bei 7,4% und in einer niedrigen bereits bei 9,4%. Dass soziale Benachteiligung offenkundig ein Risikofaktor für ADHS darstellt, wird allerdings kaum diskutiert (vgl. Schlack et al 2007; Staufenberg 2011, S. 41 ff.; Schiffl 2011, S. 10).
Eine Forschergruppe untersuchte 2005 im Auftrag des Büros für Nationale Statistik an Hand von 8000 Interviews die Prävalenz von psychischen Störungen von 5- bis 16j-Jährigen in Groß-Britannien. 36 % der Eltern der diagnostizierten Kinder hatte keine berufliche Qualifikation (versus 12 % der nicht-diagnostizierten), 23 % der diagnostizierten Kinder lebten bei einem verwitweten, getrennt lebenden oder geschiedenen Elternteil (versus 16 %), in 31 % der Haushalte arbeitete kein Elternteil (versus 14 %). 47 % der diagnostizierten Kinder hatten laut Selbstauskunft der Eltern zwei oder mehr belastende Lebensereignisse erlebt (versus 26 %). Beinahe die Hälfte hatte eine Trennung der Eltern, ein Viertel einen Krankenhausaufenthalt und ein Fünftel eine große finanzielle Krise der Eltern erlebt (vgl. Green et al 2005, S. 155ff.).
Eine schwedische Studie verglich 8000 Kinder, die im Jahr 2006 Psychostimulanzien erhielten, mit einer nationalen Kohorte von 1,1 Millionen Kindern. Danach waren sozioökonomische und psychosoziale Faktoren wie Sozialhilfeempfänger, alleinerziehender Elternteil, niedriger Bildungsstatus der Mutter für 60 % der Verordnungen verantwortlich (vgl. Hjern et al 2010).
In Kanada wurden aktuell annähernd eine Million Schüler im Alter von 6 bis 12 Jahren wurden daraufhin untersucht, wie groß ihr Risiko in Abhängigkeit vom Alter war, die Diagnose ADHS zu erhalten. In Kanada geht ein Schuljahr von Januar bis Dezember. Diejenigen Jungen, die im Dezember eines Jahres geboren wurden und also zu den Jüngsten ihrer Klasse gehörten, wiesen im Vergleich mit den im Januar geborenen zu 30 % eine größere Wahrscheinlichkeit auf, das Etikett ADHS zu bekommen. Bei den Mädchen waren es gar 70 % (vgl. Morrow et al 2012).
Vor allem die beiden letztgenannten Studien belegen an einer großen Zahl von Kindern, die die Diagnose ADHS erhalten, die Sozialgebundenheit dieser Zuschreibungspraxis. Insofern ist die Existentberechtigung des Begriffes selbst zunehmend zur Disposition gestellt. Allerdings gilt es vielen als scheinbar vollkommen unstrittig – und auch die diagnostische Handhabung wirft offenbar keine Fragen mehr auf –, vom unabweisbaren Vorhandensein von ADHS auszugehen (siehe paradigmatisch Linderkamp 2011; Gerspach 2012a). Die Kritiker dieses Konzepts wie von Lüpke, Neraal und Wildermuth, Panksepp, Schmidt, Leuzinger- Bohleber, Staufenberg, Bauer oder Hüther, um nur die namhaftesten herauszugreifen, werden im Fachdiskurs des mainstreams konsequent ausgespart. Diese nehmen die Ergebnisse der empirischen, neurobiologischen und psychiatrischen Forschung sehr wohl zur Kenntnis bzw. generieren solche selbst – was aber eben auch jene Forschung einschließt, die, beginnend bei methodologischen Einwänden bis hin zu den Belegen für die Nutzungsabhängigkeit des Gehirns, zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen für Theorie wie Praxis kommt. Die Mehrheit der scientific community hat sich auf den Konsens geeinigt, dass es sich bei ADHS um eine hirnfunktionelle Krankheit handelt, die man medikamentös behandeln muss oder allerhöchstens psychoedukativ kompensieren kann.
Weitgehend unbeachtet bleibt, dass wir keine einheitliche Gruppe Betroffener vorfinden und sich im gezeigten Verhalten womöglich eine von Konflikten getragene subjektive Befindlichkeit sinnhaft artikuliert. Unaufhaltsam sickert dennoch ein kritisches Wissen in den Fachdiskurs ein. In ihrer phänomenologisch ausgerichteten Schrift „‚ADHS’ verstehen“ führt Valeska Olde ein biologistisches Menschenbild, das in ein Credo für die medikamentöse Behandlungsnotwendigkeit beinahe einer ganzen Generation einmündet, ad absurdum. Sehr behutsam formuliert sie ihre Sorge um die Bemächtigung der Erziehungswissenschaften durch ein naturwissenschaftliches Paradigma und warnt vor dem Verzicht auf jegliche Verstehensbemühung. An deren Stelle tritt die pharmakologische Unterwerfung der Andersheit des Anderen. Dieser physiologischen Ausrichtung wäre aber eine leiborientierte Neurowissenschaft entgegenzusetzen, die nach verborgenen Sinndimensionen und unseren impliziten Subjektvorstellungen fragt. Überlegt begründet die Autorin anhand aktueller Studien ihre Zweifel an der Verdachtshypothese einer genetischen Verursachung. Solange wir uns auf nervöse, physikalische Prozesse konzentrieren und lebensgeschichtliche Sinnkontexte, denen ein entscheidender Einfluss auf die cerebralen Prozesse zukommt, aussparen, bleiben wir auf halber Strecke stehen. „Die Feststellung einer Dissoziation von Erkennen und Handeln bei einer ‚ADHS’ aufgrund der Beobachtung des Gehirns allein belässt Entscheidungen und Handlungen auf der Ebene nervöser, physikalischer Gehirnabläufe (...). Sinn und Bedeutungskontexte bleiben aus dieser Konzeption des Verhaltens ausgespart. Dabei ist hinlänglich bekannt, dass soziale Phänomene wie die Beeinflussung von Massen ein Auseinandertreten von Einsicht und Tun provozieren können“ (Olde 2011, S. 39).
Dass Unruhe als Ausdruck angespannter Lebenssituationen zu lesen ist, ist meist das Undenkbare. Die Autorin legt den Finger in die Wunde einer Begründungskette, die unabgesicherter und in sich widersprüchlicher kaum sein könnte. Die Verkürzung menschlicher Wahrnehmung auf physiologische Reizverarbeitung reduziert menschliche Daseinsweisen und ihre Störanfälligkeit auf ein unbeseelt Lebloses. Dagegen wäre eine Haltung zu setzen, die die Unsicherheit als konstitutiv ansieht. Erst das wissende Nichtwissen motiviert zu Suchen und Fragen und akzeptiert die Grenzen menschlichen Verstehens (vgl. Olde 2010; Gerspach 2012b, S. 60 f.)
2. Psychodynamische Überlegungen zum Entstehen von ADHS
Ein traumatisch wirkender frühkindlicher Aufmerksamkeitsentzug entsteht auf unspektakuläre Weise und ist mit empirischer Forschung kaum zu belegen. Was Mütter, die beim Stillen telefonieren oder SMS verschicken oder Eltern, die beim Spielen ständig ihre E-mails checken, ihren Kindern wirklich damit antun, weiß man nicht. Sie misshandeln sie nicht, sie fügen ihnen beileibe keine manifesten Verletzungen zu, offenbaren keine unterlassene Fürsorge, empfinden sie selbst wohl nicht einmal als lieblos. Und dennoch: „Irgendeine Art vitalen Entzugs muss stattfinden, sonst gäbe es nicht die motorische Dauerunruhe, die unablässige Suche nach etwas, was die Gestalt eines verlorenen Objekts noch gar nicht angenommen hat“ (Türcke 2012, S. 12).
Hüther hat dem Moment des Zugewandtseins dagegen ein großes Gewicht eingeräumt. „Ein Faktor, der meiner Meinung nach von entscheidender Bedeutung für diese Kinder ist, ist die Erfahrung des ‚shared attention’. Diese Fähigkeit zu geteilter Aufmerksamkeit entsteht nicht von allein. Dazu muss ein Kind die Erfahrung machen, dass es wunderbar ist, sich mit jemand anderem auf etwas zu freuen, etwas gemeinsam zu gestalten. Das geschieht beim gemeinsamen Anschauen eines Kinderbuchs etwa, oder wenn die Mama das Kind auf dem Arm hält und beide beobachten, wie die Katze im Hof spielt. (...) Shared Attention heißt, sich gemeinsam in etwas Drittem zu finden, dort gleichzeitig frei und verbunden zu sein“ (Hüther 2010, S. 8). Ähnlich befindet Türcke: „Kleinkinder wissen zwar nicht, was ein Aufmerksamkeitsregime ist, aber sie haben überaus feine Antennen für Aufmerksamkeitsverhältnisse“ (Türcke 2012, S. 12).
Von Lüpke (2004) hat darauf hingewiesen, dass die Annahme biochemischer Ursachen für die Entstehung von ADHS im Prinzip auf zwei Forschungsdesigns zurückgeht. Zum einen wurde an Hand von PET-Ergebnissen von 25 Erwachsenen, die seit ihrer frühen Kindheit hyperkinetisches Verhalten aufgewiesen hatten, ein verminderter Glukoseverbrauch im Stirnhirn beobachtet. Die nachfolgende breite Rezeption dieser Befunde unterschlug, dass sich dieser verminderte Sauerstoffumsatz nur bei Frauen fand, während im Verhalten keine geschlechtsbezogenen Unterschiede zu bemerken waren. Und nur bei 2 von 60 Versuchspersonen ließ sich nach sechswöchiger Behandlung mit Psychostimulanzien eine Veränderung der Stoffwechselparameter nachweisen, während das Verhalten aller verändert war. Die Annahme eines erniedrigten Glukoseumsatzes im Bereich des Frontalkortex konnte übrigens für Heranwachsende nicht bestätigt werden, was allerdings meist unerwähnt bleibt. Ein weiterer wichtiger Einwand lautet wie folgt: „Der Schluss, es liege eine Auffälligkeit im Sinne einer ‚ADHS’ vor, beruht auf der Annahme, dass die Durchblutungsstärke oder Neuronendichte in der präfrontalen Hirnregion etwas über die Qualität kognitiver Vorgänge aussagt. Ihr haftet etwas Spekulatives an, nicht zuletzt, weil neuronale Funktionen in andere Hirnregionen verlagert werden können“ (vgl. Olde 2011, S. 41).
Zum andern wurde die familiäre Häufung von ADHS als Argument für den Einfluss genetischer Faktoren genommen. So fand man Anomalien von Genen, die für den Transport und die Bindung von Dopaminmolekülen verantwortlich gemacht wurden. In Verbindung mit Zwillingsstudien, deren methodische Problematik nicht thematisiert wurde, entstand so die Dopaminmangelhypothese, die in ihrer monokausalen Schlichtheit inzwischen zurückzuweisen ist. Wenn mit bildgebenden Verfahren die Aktivitätsanreicherung im Striatum als Folge der vermehrten Präsenz von Dopamineiweißtransportern gedeutet wird, so bleibt hier vollkommen unberücksichtigt, ob die Konzentration dieser Transporter oder die Dichte des dopaminergen Systems gemessen wird (vgl. Bonney 2008, S. 119).
Vor dem Hintergrund einer nie identifizierten Hirnschädigung ist der begriffliche Übergang von der Schädigung über die Störung hin zum Syndrom äußerst zweifelhaft zu nennen. Vor allem die inzwischen gut erforschte Abhängigkeit der Genexpression von Sozialisations- und Bindungsbedingungen wird noch immer eher konsequent verleugnet (vgl. von Lüpke 2004; Brandl 2007, S. 111 f.; Bauer 2005).
In Tierversuchen konnte die Abhängigkeit der Entwicklung und Ausprägung des dopaminergen Systems von den jeweiligen Aufzuchtbedingungen belegt werden (vgl. Bonney 2008, S. 118). Besonders das Argument genetischer Vormacht wird unzulässigerweise mit Ergebnissen aus Zwillings- und Adoptionsstudien zu belegen gesucht. Dabei wird die Tatsache der jeweiligen Beziehungserfahrungen von Zwillingen oder adoptierten Kindern, die erst zur Aktivierung der Gene führt, vollkommen geleugnet (vgl. von Lüpke 2008a, S. 102 ff.). Beispielsweise fand man bereits in den 1960er Jahren bei 50 % eineiiger Zwillinge ein konkordantes Blutdruckverhalten. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass die Ausbildung einer essentiellen Hypertonie ausschließlich genetisch bedingt sei. Dass bei der anderen Hälfte ein diskordantes Blutdruckverhalten vorliegt, verweist auf die Rolle, die dem intrauterinen Milieu bei der Entwicklung eines bestimmten Blutdruckverhaltens zukommt (vgl. Zepf 2000, S. 659 f.).
„Seit Jahrzehnten werden sowohl in der psychoanalytisch orientierten wie auch in der systemischen Familienforschung die vielfältigen psychodynamischen Verflechtungen zwischen den Generationen beschrieben, so dass es heute mehr als naiv erscheint, Familienähnlichkeiten – vor allem im Hinblick auf Verhaltensauffälligkeiten – als Beleg für Erblichkeit zu interpretieren. Adoptions- wie Zwillingsstudien gehen von der stillschweigenden Voraussetzung aus, dass Erfahrungen vor der Geburt oder aus der frühen Säuglingszeit für die weitere Entwicklung vernachlässigt werden können“ (von Lüpke 2008b, S.46). Insbesondere Joseph hat diesbezüglich bemängelt, dass der Glaube an die biologisch- genetische Basis von ADHS die Erforschung der viel wesentlicheren Bedeutung von Umwelteinflüssen behindert Gerade Zwillingsstudien gehen von der falschen These einer gleichen Umwelt aus, Adoptionsstudie weisen blinde Diagnosen auf und vernachlässigen die Erforschung der biologischen Verwandten (vgl. Joseph 2000, S. 539 ff.).
Wenn etwa bei Schmidt et al unumwunden davon die Rede ist, dass eine genetische Disposition den grundlegenden Faktor von ADHS bilde, was über Zwillingsstudien belegt sei, und dass ein Mangel an Dopamin bestehe, so ist das folglich in dieser Form schlichtweg falsch (vgl. Schmidt et al 2011, S. 25 ff.) So konnte die Bindungsforschung belegen, dass Geschwisterkinder zu 50 – 65 % denselben Bindungstyp an die Mutter aufzeigen, Zwillinge dagegen nur 30 – 50 %. „Neuronale Verschaltungsmuster des Gehirns sind auch bei eineiigen Zwillingen nach der Geburt keineswegs identisch. Auch sind sie nie wirklich 100 % genetisch identisch, der Zufall spielt auch hier eine Rolle“ (vgl. Schmidt 2010, S. 90). Der Faktor, dass eineiige Zwillinge z.B. an Schizophrenie erkranken, liegt nur bei 0,31 (vgl. Blech 2010, S. 95).
Erste Ergebnisse der epigenetischen Forschung deuten an, dass Umweltsignale, wie etwa frühe Bindungserfahrungen, stark genug sein können, „um eine bleibende epigenetische Signatur über mehrere Generationen hinweg zu erzeugen“. Das Bindungsbedürfnis teilt der Mensch übrigens mit anderen sozial lebenden Tieren. „Wachsen junge Rhesusaffen dauerhaft isoliert auf, so sind sie später unfähig zur Interaktion mit anderen Tieren“. Und trennt man junge Ratten während der ersten drei Lebenswochen täglich eine Viertelstunde von ihren Müttern, führt dies zu verzögerter Gehirnreifung und Störung der Kortisolregulation. Später treten in fremder Umgebung motorische Unruhe und völlige Desorientiertheit hinzu. Auch beim Menschen kann es zu erfahrungsabhängigen epigenetischen Veränderungen kommen. So sind die ersten Lebensjahre entscheidend für die Stressresistenz bis ins höhere Alter. Frühe Traumatisierungen können hier zu einer vermehrten Methylierung von DNA-Sequenzen führen, so dass der Gentext in wichtigen Bereichen nicht mehr ablesbar oder abgeschaltet wird. In der Folge wird die Anzahl von stressprotektiven Rezeptoren reduziert – ein Risikofaktor für suizidale Neigungen (vgl. Wettig 2010, S. 224 ff.).
Es sind übrigens nicht nur zufällige Mutationen der DNA-Sequenz, also des Gentextes, die neue Merkmale in nachfolgenden Generationen hervorzubringen vermögen. Gerade die Epigenetik beschäftigt sich mit den molekularen Schaltern, die Muster aktiver und inaktiver Gene in den Zellen des gesunden, erwachsenen Organismus erhalten oder modifizieren. So können krankmachende Gene durch Methylierung der DNA ausgeschaltet werden. Sie ist der wichtigste epigenetische Mechanismus. „Hervorgerufen durch Umweltfaktoren, werden durch sie Gene abgeschaltet, wird Phänotyp, Organfunktion und/oder Verhalten eines Individuums verändert“ (vgl. Wettig 2010, S. 226).
Derlei Befunde werden beharrlich ignoriert. Vor allem der Behauptung, dass ein defektes Dopaminrezeptor-Gen für die ADHS-Symptomatik verantwortlich sei (vgl. Schmidt et al 2011, S. 26), muss man die von Staufenberg zitierte Stellungnahme der Bundesärztekammer entgegenhalten, wonach solche genetischen Polymorphismen in der Bevölkerung weit verbreitet sind, sie das Risiko für ADHS nur gering erhöhen und jeweils weniger als 5 % der Verhaltensvarianz erklären (vgl. Staufenberg 2011, S. 63). Die weltweite Verbreitung des D4- Dopaminrezeptors weist im Übrigen eine große Streuung auf (vgl. Harpeding, Cochran 2002, S. 10).
Fazit: „Bisher ha ja noch niemand wirklich gemessen, dass in deren (von ADHS-Patienten; M.G.) Gehirn zu wenig Dopamin freigesetzt wird. Das geht auch gar nicht, denn dazu müsste man Verfahren wie die Mikrodialyse einsetzen, bei denen wie bei Versuchtieren, ein semipermeabler Schlauch in das Gehirn eingeführt wird“ (Hüther 2010, S. 8). Folglich gilt Bonneys Urteil: „Da bisher weder neurochemische Befunde für das früheste Alter vorliegen noch bildgebende Verfahren Aufschlüsse liefern, können lediglich die klinischen Beobachtungen und Ergebnisse der Behandlung von Regulationsstörungen Anhaltspunkte dafür liefern, ob und in welcher Form von einer Besonderheit des Dopaminstoffwechsels auszugehen sei“ (Bonney 2008, S. 123). Und mit Blick auf die erkenntnistheoretische Valenz bestimmt das jeweilige implizite Menschenbild über das Schicksal der generierten Datengenerierung. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich von einem „Einweg- Beeinflussungs-Modell“ ausgehen, wonach der lineare und monokausale Einfluss isolierbarer Variablen gemessen werden kann, oder ob ich von einem „bidirektionalen Modell des interaktiven Austauschs“ ausgehe, das sich dem eher zirkulär erzeugten Gleichgewicht von interaktiver Regulierung und Selbstregulierung annimmt (vgl. Beebe et al 2002, S. 67 f.).
Die Untersuchungen von interaktiven Mutter-Kind-Sprechakten von Beebe et al machten z.B. deutlich, dass das höchste Ausmaß der Koordination des sprachlichen Rhythmus bei der Abfolge dieser interaktiven Sequenzen für einen unsicheren Bindungsmodus typisch war, wohingegen ein mittleres Ausmaß an Koordination mit einer sicheren Bindung zusammenfiel. Ihrer Überzeugung nach wird bei einer starken Form der Koordination versucht, einer Störung innerhalb der Interaktion entgegenzuwirken, während ein geringerer Grad an Passung ein offenes, flexibles System charakterisiert. Von diesem Ergebnis abstrahierend lässt sich schlussfolgern, das ein flexibles System dazu befähigt, neue Erfahrungen nicht zwanghaft kontrollieren zu müssen, sondern sie beständig so aufzunehmen und zu verarbeiten, dass wiederum das System selbst verändert wird. „Damit ein Muster geändert wird, muss ein Teil des Systems das – bis zu diesem Zeitpunkt – stabile Muster stören. Es entstehen dann neue Muster als Eigenschaften des Systems. Diese Muster sind nicht-linear: sie können nicht aus dem, was davor geschehen ist, vorhergesagt werden“. Gleiches gilt für das Gehirn, welches inhärent relational ist und seine Wahrnehmungen und „Landkarten“ fortwährend durch Erfahrungen aktualisiert (vgl. Beebe et al 2002, S. 60 ff.).
In einem ähnlichen Kontext weist Katzenbach darauf hin, dass Säuglinge nach drei Monaten ihre Vorliebe für eine perfekte Kontingenz im Hinblick auf die Erfahrung von Affektspiegelung aufgeben und ihr Interesse in Richtung hoher, aber imperfekter Grade an Kontingenz verschieben. Die große, aber nicht perfekte Übereinstimmung des affektiven Zustands der Mutter mit dem des Säuglings führt dazu, dass er „sekundäre Repräsentanzen seiner primären prozeduralen Affektzustände bilden kann. Diese sekundären Repräsentanzen schaffen ihrerseits die kognitive Voraussetzung für den Zugang zu emotionalen Zuständen und der Möglichkeit, über Gefühlszustände nachdenken und sie kontrollieren zu können“ (vgl. Katzenbach 2004, S. 97 ff.; Fonagy et al 2002, S. 175).
Mit rigiden, strukturierenden Interventionen, wie sie in Verhaltenstherapie und Psychedukation oft anempfohlen werden, wird das Kind unter Kontrolle zu bringen gesucht. Sein Interesse für das Unerwartete, das Spontane geht ihm so leicht verloren – und damit seine Neugier. Viel eher wäre es sinnvoll, die Störung nicht zu bekämpfen, um die Verstörung nicht zu unterdrücken. Die Irritation im Dialog zuzulassen wäre ja nach obiger Erkenntnis die Grundlage, an ihrer Bewältigung zu arbeiten und somit eine neue, nicht traumatisierende Erfahrung zuzulassen. Wir sollten uns bemühen, die Unruhe des Kindes zunächst auszuhalten und zu halten, um ihm allmählich nahe zu bringen, einen mittleren Spannungszustand zu ertragen, der die optimale Voraussetzung für neue Lernprozesse abgibt.
Daher darf die Kritik an entseelten Funktionstrainingsprogrammen für den Umgang mit als gestört geltenden Kindern und Jugendlichen nicht abebben. Nicht von ungefähr sprach Milani Comparetti von Reparaturtherapie, wenn es darum geht, für jeden Defekt eine Behandlung vorzunehmen, „auch wenn es gar keine Behandlungsmöglichkeiten gibt“ (vgl. Milani Comparetti 1987, S. 229). Insgeheim wird damit eine heimliche wie offene Aggression gegen das Übel der Störung sichtbar, die für die Ablehnung der Andersartigkeit und damit des An- dersartigen steht. Dieses Befremden entsteht aber aus dem „Umgang mit unlustvollem Erleben, das aus dem eigenen Ich ausgelagert wird“ und verweist auf einer unbewussten Ebene auf den „Schutz vor der Wiederkehr des verdrängten Eigenen, das über die Betrachtung des Fremden zu nahe kommt und noch zu bedrohlich ist“ (vgl. Pongratz 2004, S. 108 ff.).
Kurzum: Störungen beflügeln Entwicklung, indem sie die Selbstwirksamkeit des Kindes aktivieren. Sie gewähren dem Kind die Möglichkeit, seine Eigenbeteiligung an der Wiederherstellung des für einen Moment ins Stocken geratenen Dialogs zu erleben. Störungen sind also nicht per se Ausfluss einer Pathologie, sondern geben Anlass zur Neukonzeptionalisierung der Wahrnehmung von und des Umgangs mit Wirklichkeit. Sie vermeiden zu wollen ist pathologisch. So kann es etwa auf Seiten des Kindes infolge einer dauerhaft fehlschlagenden Einigung, ausgelöst durch ein ausgesprochen intrusives Verhalten der Elternfigur, die Interaktion zu kontrollieren, zu einer Beeinträchtigung seiner Selbstregulierung, Selbstwahrnehmung und Erfahrung von Selbstwirksamkeit kommen – alles Indikatoren für die Ausbildung von ADHS-Symptomen (vgl. Papousek 2006, S. 81 f; Gerspach 2009, S. 168).
In den traditionellen organmedizinischen Menschenmodellen finden sich kaum solche Überlegungen. Die Hauptkritik daran richtet sich vor allem gegen den Versuch, gänzlich unterschiedliche ätiologische Hintergründe und Erscheinungsweisen einem einheitlichen ADHS-Konzept zu subsumieren. Von der Familiendynamik her können sich stattdessen folgende Befunde ergeben:
- verstrickte, d.h. unabgegrenzte Familienbeziehungen führen zu depressiven Symptomen beim Kind
- kontrollierende und von Gleichgültigkeit geprägte Interaktionen resultieren in Angstsymptomen und Depressionen beim Kind
- kritische und feindselige innerfamiliäre Interaktionen sind mit ADHS- Symptomen und psychosomatischen Störungen des Kindes verbunden
- Mädchen aus verstrickten Familienbeziehungen neigen zu depressiven Symptomen, Jungen eher zu ADHS-Symptomen (vgl. Neraal 2008, S. 75 ff,; Gerspach 2009, S. 169).
Folgen wir der Einteilung von Leuzinger-Bohleber et al, so gibt es die folgenden Subtypen von ADHS:
- ADHS-Kinder mit einem hirnorganischen Problem ADHS-Kinder mit einer emotionalen Frühverwahrlosung ADHS-Kinder aufgrund frühinfantiler Traumen
- ADHS als Überlebensversuch im Aufwachsen mit einer depressiven Mutter
- ADHS-Kinder als Folge des Zusammenpralls verschiedener Kulturen und deren Anforderungen
- ADHS als Reaktion auf eine problematische Pädagogik bei kreativen Kindern
- ADHS als Ausdruck von akuter Trauer und Depression (vgl. Leuzinger-Bohleber et al 2008, S. 622).
Nach Ellesat lassen sich folgende Bedingungsfaktoren auffinden:
- ADHS als Ergebnis einer frühen Störung der Eltern-Kind-Beziehung ADHS als Ergebnis von Traumatisierungen
- ADHS als Reaktion auf schwere Trennungsprobleme
- ADHS als Reaktion auf schwere psychosoziale Belastungen der Familie
- ADHS als Antwort auf psychische Erkrankungen bei den Eltern (vgl. Ellesat 2012, S. 80 f.).
Staufenberg unterscheidet folgende Elterntypen:
- aufgeklärte Eltern. Sie schwanken zwischen Besorgnis und Erleichterung, dass „es genetisch bedingt“ und keinen Erziehungsproblemen oder Familienkonflikten geschuldet ist.
- sensible/besorgte Eltern. Ihnen ist ihre eigene Beteiligung für das kindliche Verhalten zugänglich.
- überängstliche Eltern. Sie sind unsicher, ob sie den Anforderungen der Elternschaft gerecht werden und verleugnen oftmals aggressive Impulse.
- hilflose/überforderte Eltern. Sie kämpfen meist mit starken Schuldgefühlen. Oft liegen dem Gefühl der Überforderung Ängste zugrunde, die verleugnet oder verdrängt werden müssen.
- verleugnende/verharmlosende und externalisierende Eltern. Sie kommen typischerweise auf Druck gesellschaftlicher Institutionen, deren Vertreter/innen nicht in der Lage sind, das abweichende Verhalten des Kindes zu halten und zu verändern. Zunächst versuchen diese Eltern, den Erzieher/innen und Lehrer/innen die Schuld für die krisenhafte Situation zuzuschreiben.
- ambivalente/innerlich ablehnende Eltern mit deutlich wahrnehmbarer Ambivalenz ihrem Kind gegenüber.
- verwahrlosende und missbrauchende Eltern. Hier sind Eltern gemeint, deren versäumte Fürsorgepflicht unterhalb der Schwelle gesetzlich erfasster Vernachlässigung liegt. Oftmals zeigen ihre Kinder Anzeichen einer emotionalen Frühverwahrlosung.
- manifest psychisch kranke Eltern. In Fällen stationärer Behandlung auf Grund wiederkehrender psychotischer Episoden bedeutet diese Trennung für die Kinder sowohl Entlastung als auch Verlust (vgl. Staufenberg 2011, S. 171 ff.).
Hinzu kommt, dass bestimmte, vor allem leistungsorientierte Eltern, die Angst um die unbehelligte Schulkarriere ihrer Kinder haben, inzwischen zu deren off-label- Medikamentierung neigen, ohne dass eine Diagnose vorliegt. Einer Analyse aus dem Jahre 2009 zufolge werden übrigens nur 87 % der Kindern und Jugendlichen verordneten Arzneimittelpackungen zulassungskonform verordnet (vgl. Mühlbauer et al 2009, S. 25).
Generell sei hier angemerkt, dass diese psychodynamisch ausgerichteten Systematiken keine explizit pathologisierende Statuszuschreibung zum Ziel haben, sondern eher den Rahmen für eine Beziehungsarbeit vorgeben, in der ein bestimmtes unbewältigtes Thema fokussiert werden kann. Was wir bisher nicht wirklich zustande bringen, ist die Möglichkeit, sich weitgehend angstfrei über konflikthafte Themen zu verständigen, ohne das sie in zerstörerischer Weise von Scham- und Schuldgefühl überlagert würden. Aus sozialisationstheoretischer Sicht wäre anzumerken, dass Frauen für die Ausprägung von Scham- und Schuldgefühlen anfälliger sind, weil ihnen in unserer westeuropäischen Kultur schon früh als Mädchen im Vergleich mit Jungen mehr negative Kommentare entgegenschlagen (vgl. Schalkwijk 2011, S. 153). Insofern sind Mütter in der Regel extrem empfänglich für (Selbst-)Vorwürfe. Dies ist besonders dann belastend, wenn die Väter nicht unterstützend gegenwärtig sind, worauf ich zurückkomme. Wir benötigen einen geschützten Raum, in dem sich der Teufelkreis aus Anklage und Verteidigung nicht ständig erneut schließen muss. Auf alle Fälle möchte ich mich an dieser Stelle auf den Heilpädagogen Paul Moor beziehen, der verlangt, etwas für das Fehlende und nicht gegen den Fehler zu tun (vgl. 1963, 20).
In vielen Fällen steht die motorische Unruhe eines Kindes für eine noch nicht stattgehabte Symbolisierung. Mit Symbolisierungsfähigkeit ist die Kompetenz gemeint, psychische Vorgänge und Inhalte verbalisieren zu können. Sie bildet wiederum die Grundlage zur Ausbildung der Mentalisierungsfähigkeit, mit der dem eigenen Verhalten und dem anderer eine Absicht, ein Sinn zugeschrieben werden kann. Darin eingeschlossen ist das Vermögen zur Affektregulierung und Impulssteuerung. „In ihrer reifen Form beschreibt Mentalisierung die Fähigkeit, die eigenen Gefühlszustände wahrnehmen, ihre subjektive Bedeutung erkennen, die eigenen Gefühle reflektieren, bearbeiten, modulieren und dadurch auch in einer sozial angemessenen Weise ausdrücken zu können“ (vgl. Staufenberg 2011, S. 110 ff.).
Der Aufbau von Symbolisierungs- und Mentalisierungsfähigkeiten ist an die Erfahrung einer befriedigenden Beziehung zu seinen Elternobjekten geknüpft, die das Kind darin unterstützt, nicht von seinen Affekten überflutet zu werden, sondern sie ins eigene Selbst integrieren und also selbsttätig regulieren zu können. Auf diese Weise erlebt sich das Kind mehr und mehr als denkendes Wesen. In der gelungenen Interaktion mit den primären Objekten lernt das Kind, dass ihm seine eigene Befindlichkeit gespiegelt wird. Es entdeckt einen Kontingenzzusammenhang zwischen seinem eigenen unwillkürlichen Emotionsausdruck und der mimischen wie vokalen Antwort der Mutter. Kontingenz heißt dabei, gesetzmäßige Zusammenhänge, Bedingtheiten und Ähnlichkeiten zu entdecken. Das führt dazu, dass das Kind „seine Kontrolle über den Spiegelungsausdruck der Mutter mit der durch ihn bewirkten Verbesserung seines emotionalen Zustandes zu assoziieren“ beginnt. Es nimmt sich selbst als Urheber dieses Prozesses wahr (vgl. Fonagy, Target 2006, S. 366).
Die wiederholte zwischenmenschliche Erfahrung mit einem „selbstregulierenden Anderen“ (vgl. Stern 1998) ist vor allem durch das mütterliche Spiegeln gekennzeichnet. Auf Grund der mentalisierenden Zuschreibung erlebt das Kind die Mutter so, als wäre es ihre wohlwollende Absicht, seinen negativen Affektzustand so zu verändern, dass er zu einer angenehmen Erfahrung wird. Diese Erfahrungen von Affektregulierung machen das Kind sicher und setzen bei ihm das Vermögen zur Reflexion frei. Das ist vor allem für die Spiegelung negativer Affekte wichtig, wenn das Kind merkt, dass die markierte Wut der Mutter nicht echt ist, sie ist nicht wirklich böse (vgl. Gergely 2002, S. 820 ff.). Auf diese Weise erlebt sich das Kind bei der Regulierung seiner schlimmen Gefühlszustände als aktiver kausaler Akteur.
Sind die Mentalisierungsfunktionen der Eltern aber dergestalt eingeschränkt, dass diese zu keinen angemessenen Kommentaren fähig sind, kann beim Kind kein Nachdenken über seine Gefühle und Gedanken bzw. die der Eltern einsetzen. So kann beim Kind keine reflektierte Distanz zu seinen eigenen Empfindungen oder denen der Mutter oder des Vaters entstehen. Somit wird der Aufbau der Mentalisierungsfähigkeit beim Kind selbst beeinträchtigt (vgl. Fonagy, Target 2002a, S. 856 f.; Gerspach 2009, S. 93 ff.).
Bedingt durch äußere Ereignisse und damit verbundene Traumatisierungen z.B. im Zusammenhang mit Krieg, Unfällen oder Krankheiten oder aber, weil die primären Objektbeziehungen nicht ausreichend die basale Erfahrung des Zusammenseins in einem potentiellen Entwicklungsraum mit einem „genügend guten“ Objekt im Sinne Winnicotts ermöglichten, das ihnen zuverlässig half, Spitzenaffekte zu lindern und milde, angenehme Erfahrungen zu machen, wurde bei diesen Kindern das Erreichen einer reifen Ebene von Symbolisierung und Mentalisierung verhindert. „Dadurch wurde ihnen die Entwicklung sowohl der Trieb- und Affektregulation, eines stabilen, tragenden Kernselbstgefühls als auch sicherer Grenzen zwischen Objekt- und Selbstrepräsentanzen erschwert“ (vgl. Leuzinger- Bohleber 2009, S. 167).
Ein zu wenig entwickelter bzw. instabil etablierter innerpsychischer Raum ist kennzeichnend für viele Kinder mit der Diagnose ADHS. „Ihre stetige Bewegung im äußeren Raum erscheint als kompensatorische Notlösung, mit den unverarbeiteten inneren Spannungen einen Umgang zu finden“ (Staufenberg 2011, S. 127). Die Kinder werden von Reizen überflutet, ohne sie einordnen oder diese Anflutung steuern oder beherrschen zu können, und, angeregt durch die hyperaktive Umwelt, suchen sie beständig wie süchtig nach dieser Erfahrung. „Und so suchen die ‚kleinen Hypies’ gerade bei den Maschinen Ruhe, die sie auf diffuse Weise, noch präobjektal, gewissermaßen spukhaft, und dennoch prägend als Stifter ihrer Unruhe erlebt haben“ (Türcke 2012, S. 12 f.).
Diese Kinder flüchten in die motorische Aktion, wählen eine zeichenhafte bild- und körpersprachliche Ausdrucksform, die sich unterhalb der Symbolebene bewegt: „Das Zeichen bleibt ein unmittelbarer Ausdruck des Körpers: Es unterscheidet sich vom Symptom dahin gehend, dass es nicht der Verdrängung folgt, da ihm kein unbewältigter, im Prinzip aber symbolisierbarer innerer Konflikt zugrunde liegt“ (Ahrbeck 2007, S. 21).
Bei der „Denkstörung“ ADHS handelt es sich offensichtlich um eine „Schwierigkeit der Repräsentation“ (vgl. Günter 2009, S. 388), um die verfehlte Fähigkeit also, Reize und Impulse zu „inneren beharrlichen Gestalten“ zu verbinden, „statt bloß Unruhe stiftend durchs Nervensystem zu vagabundieren“ (vgl. Türcke 2012, S. 13). Auf eine erhöhte narzisstische Verwundbarkeit bei gleichzeitig ausgeprägten narzisstischen Größenphantasien weisen Koch- Hegener et al hin (vgl. 2009, S. 422). Aufmerksamkeitsdefizite hängen häufig sehr eng mit narzisstischen Störungen zusammen. Größenphantasien bestimmen das Handeln, Frustration erheischende Situationen können nicht symbolisiert werden, was allein bleibt, sind Wutausbrüche, um die Kränkung zu beantworten (vgl. Hopf 2012, S. 49).
Bei der Störung der Aufmerksamkeit steht vielfach eine Störung der Steuerungsfunktionen im Vordergrund. Es handelt sich um eine „Fehlsteuerung von Denk- und Affektverarbeitungsprozessen (…). Wahrnehmungsdaten und Affekte (…) können nicht in angemessener Weise zu Gedanken verarbeitet werden. Sie schießen stattdessen unmittelbar in Impulse und damit in eine motorische Unruhe hinein, was Impulsivität und Hyperaktivität hervorruft“ (vgl. Günter 2009, S. 404). Beides erfüllt eine Abwehrfunktion, die Günter wie folgt weiter differenziert:
- eine narzisstisch-maniforme Abwehr, gekoppelt mit antisozialen Größenphantasien
- depressive sozial und ängstliche Züge mit niedrigem Selbstwertgefühl
- ein desorganisiert-dissoziativer Typus mit Fragmentierungserscheinungen bei psychotischen Entwicklungen (vgl. Günter 2009, 406).
Vielfach können bzw. dürfen Gefühle deshalb nicht erlebt werden. Es würde bedeuten, innezuhalten und sich selbst nachzuspüren. Ruhe und Stillstand aber stellen eine zu große Gefahr dar, vor der man beständig ausweichen muss. Hier regiert noch eine nicht integrierbare, nicht aushaltbare Angst, die auf einer ganz frühen Ebene abgewehrt werden muss (vgl. Ahrbeck 2007, S. 22 f.). Dieses Charakteristikum einer unreifen Persönlichkeitsstruktur verweist auf diffus erlebte Beziehungsangebote seitens der Eltern. Gerade Mütter, die auf Grund eigener schwerer depressiver Beeinträchtigungen, oder weil sie andersweitig stark belastet sind, können die Trennung von ihren Kindern nicht zulassen. Differenzierung würde mit Leere assoziiert. Die Kinder müssen daher ständig dafür sorgen, die Mutter psychisch zu beleben. So werden sie auf Dauer stimuliert und motorisch auf Trab gehalten. Es verwundert dann nicht, dass ihr dopaminerges System vergleichsweise dicht ausgebildet ist und zu verstärkter Aktivität neigt (vgl. Ahrbeck 2007, S. 23 ff.). Von daher ist es unstatthaft, von einer veränderten Funktionsweise der Gehirne von ADHS-Kindern zu sprechen, ohne den erfahrungsbasierten Kontext zu berücksichtigen, der über die Nutzungsweise des Gehirns mitbestimmt.
Über die „Konzeption des Dritten“ kommt hier die Bedeutung des Vaters ins Spiel. Der Vater begegnet dem Kind von Anfang an als reale Person, das „Dritte als Abstraktum“ bedarf aber der Symbolisierungsfähigkeit, deren Ausbildung Mitte des zweiten Lebensjahres einsetzt. Der symbolische Vater steht für den Verzicht auf inzestuöse Wünsche gegenüber der Mutter, er repräsentiert das „Gesetz“, das „Nein“. Das temporäre Ausgeschlossensein aus der Beziehung von Vater und Mutter konfrontiert mit Ängsten vor Objektverlust und bedarf einer relativ sicheren Triangulierung. „Um den Entwicklungsschritt von der Dyade in die Triade vollziehen zu können, muss das Kind sich vorstellen können, wie ein Dritter auf die Zweiersituation blickt, in der er sich befindet (...) Das Kind braucht ein psychisches Verständnis des Anderen, den es in Interaktion mit einem Dritten sieht, es muss also mentalisieren können“ (vgl. Staufenberg 2011, S. 123 f.).
Von Klitzing et al. haben in zwei prospektiven Studien die Bedeutung triadischer Beziehungen für die Entwicklung des Kindes von Geburt an untersucht und dabei die entwicklungsfördernde Bedeutung der triadischen Kompetenz der werdenden Eltern herausgestellt (vgl. von Klitzing 2002). Einschränkend sei angemerkt, dass in der „zunehmend entödipalisierten Gesellschaft“ – gekennzeichnet durch die symbolische soziale Entwertung der Vaterrolle wie den statistischen Trend wachsender konkreter Vaterlosigkeit – das klassische familiale Dreieck Mutter-Kind-Vater zunehmend seiner Funktion als konstantem Rahmengeber kindlicher Entwicklung verloren geht (vgl. Dammasch 2001, S. 217). Die heutige Ferne der Väter begründet sich allerdings anders als zur Zeit des Patriarchats. „Sie ist eher ein Resultat der Verunsicherung, die oft einen unverbindlichen Rückzug, ein reales oder symbolisches Verschwinden der Väter zur Folge hat. Dadurch bleibt die Auseinandersetzung mit dem Vater unbestimmter und die Entwicklung triangulärer Strukturen unvollständig“ (Metzger 2008, S. 9; Gerspach 2011, S. 111 ff.).
Vor allem für die allmähliche Loslösung des Kindes von der Mutter wird der Vater bedeutungsvoll. Dennoch konzentriert das ganz junge Kind am Anfang sein noch recht undifferenziertes, wenngleich auch waches Umweltinteresse hauptsächlich auf die haltende (vgl. Winnicott 1990) und containende (vgl. Bion 1992) Mutter. Schon das Kleinkind hat eine Vorstellung von einem Vater als einem Objekt, das von der Mutter getrennt ist. Die Mutter gewährt als primäres Bindungsobjekt Schutz, während der Vater als darüber hinausgehendes Bezugsobjekt eminent wichtig ist. Das Kind benötigt die Kontrastrepräsentanz des Vaters, um sich aus der verschmelzenden Einheit mit der Mutter lösen und allmählich eine eigene Identität aufbauen zu können. Erst die Verinnerlichung eines weiteren Objektes neben der Mutter bewirkt, dass aus diesem Kontrast ein inneres Selbstbild aufgebaut werden kann. Daher ist die Gegenwart des Vaters so wichtig. Zwar verlangt er Frustration, weil er die Trennung vom geliebten mütterlichen Objekt repräsentiert, aber er hebt sie im doppelten Sinne wieder auf, indem er dem Kind eine triadische Perspektive eröffnet und so neue Frustrationen vermeiden und alte bewältigen hilft.
Aus der klinischen Arbeit mit den sogenannten ADHS-Kindern, aber natürlich auch aus dem Gruppenalltag einer Schulklasse, wissen wir, dass sie in der Zweiersituation oft konzentriert und ruhig sein können. In dieser „‚verhältnismäßig’ einfachen Struktur der dyadischen Beziehung“ können sie sich leichter regulieren uns strukturieren, als sich selbst in der „Position des Dritten“, der potentiell ausgeschlossen ist, wiederzufinden, was sie in unerträglicher Weise bedroht (vgl. Staufenberg 2011, S. 124 f.). So befindet Günter: „Die klinische Erfahrung zeigt deutlich, wie schwierig es für Familien mit einem Kind mit ADHS ist, die triangulierende väterliche Position stabil zu besetzen und in den Interaktionen wirksam werden zu lassen“ (Günter 2009, S. 393).
Nicht zuletzt die emotionale Nichtverfügbarkeit der Väter, sei es, weil sie sich nicht einlassen oder – von der Mutter – nicht eingelassen werden, ist für diese Misere verantwortlich.„Die Väter schienen, wenn sie bei den Untersuchungen überhaupt zugegen waren, wenig am affektiven Geschehen der Familie beteiligt zu sein. (…) Eine wohlwollend-grenzsetzende Vaterrepräsentanz schien weder bei den Eltern noch infolgedessen bei den Kindern vorhanden“ (Koch-Hegener et al 2009, S. 423).
Mutter und Vater gelingt es nicht immer ohne Weiteres, responsiv auf ihr Kind einzugehen, besonders wenn es sich auffällig zeigt (vgl. Hackenberg 2003, S. 5 f.). Gerade die Mütter stehen mehr im öffentlichen Fokus und reagieren dann oft mit Kummer, Depression, versteckter oder auch offener Ablehnung oder Feindseligkeit. Hier ist der Vater ist in seiner haltenden Funktion gefragt, mit der er die Mutter darin unterstützt, ihre schädlichen Projektionen zu verdauen und zu entgiften (vgl. Pedrina 1992, S. 58 ff.). Leider tragen viele Väter mehr zur weiteren Belastung der Situation bei.
Oft überwiegt eine generell zu beobachtende Empathiesperre der Eltern, so wie es Koch- Hegener et al beschreiben: „Die Eltern zeigten zu Beginn der Untersuchung einen sehr geringen Grad an Identifikation mit ihrem ADHS-Kind. Dies veränderte sich auch unter der offensichtlich eingetretenen besseren Anpassungsleistung des Kindes (im Zuge der Medikation) nicht“ (Koch-Hegener et al 2009, S. 434).
Koch-Hegener et al sehen „eine hohe Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung der Kinder und derjenigen der Eltern“. Die Kinder wollen idealerweise den Eltern sehr ähnlich sein, die Eltern ihrerseits erleben sich als ihrem Kind sehr unähnlich. Die von ihnen untersuchten Kinder strebten an, „so zu sein, wie es ‚die Anderen‘, hier in der Repräsentanz von Mutter und Vater, von ihnen zu wollen und zu wünschen scheinen“ (vgl. Koch-Hegener et al 2009, S. 436 ff.). Nach Erkenntnissen von Danckaerts et al schätzen sich Kinder mit der Diagnose ADHS weniger negativ ein, als dies ihre Eltern tun (vgl. 2009). Auch schätzen Eltern den Nutzen des verordneten Medikaments höher als ihre Kinder ein (vgl. Haubl, Liebsch 2009, S. 140). Hier zeigt sich ein Verlust der elterlichen Mentalisierungsfunktion, der bewirkt, dass die Aktivität beim Kind unterbunden und kaum Raum mehr gelassen wird für neue, eigenständige Lernprozesse (vgl. Gerspach 2011, S. 123 f.).
3. Störung als unbewusster Ausdruck von Befindlichkeit
Eine Berufspraktikantin der Sozialen Arbeit leistet ihr Anerkennungsjahr in einer Vorklasse ab. Vor einigen Wochen, mitten im Schuljahr, wurde ein neues Kind aufgenommen. Es handelt sich um einen sechsjährigen, großgewachsenen Jungen, der mit seiner Mutter aus Osteuropa nach Deutschland kam. Beide sprechen kein gutes Deutsch. Die Mutter arbeitet jetzt in einem Altenheim. Beide Eltern waren zu Hause arbeitslos, der Vater, der dort geblieben ist, ist es noch immer und bemüht sich um eine Anstellung in Skandinavien. Wie das Verhältnis der Eltern zueinander ist und ob sie gemeinsam nach Skandinavien gehen wollen, bleibt offen. Alle Erklärungen der Mutter zur augenblicklichen Situation sind sehr vage. Gleichzeitig versucht sie die Vorklassenlehrerinnen unter Druck zu setzen, den Jungen „ordentlich“ zu erziehen und zeigt sich wenig aufgeschlossen für die Sorgen, Nöte und Themen ihres Kindes.
Der Junge war für kurze Zeit in eine reguläre erste Klasse eingeschult worden, auf Grund seiner schlechten Sprachkenntnisse wie seines auffälligen Verhaltens wurde er, nach einem erneuten Umzug, nicht in die erste Klasse der jetzt zuständigen Schule, sondern in die dortige Vorklasse aufgenommen. Auch jetzt zeigt sich, dass der Junge trotz seiner Sprachbarrieren sehr schnell mit den an ihn gestellten Aufgaben fertig ist und dann nicht an seinem Platz sitzen bleiben will. Nun stört er die anderen bei der Arbeit. Außerdem boykottiert er den Sportunterricht. Nach dem Ende des Unterrichts muss er alleine mit dem Bus nach Hause fahren und wird am Nachmittag von Freundinnen der Mutter im Wechsel betreut oder ist ganz allein zu Hause.
Der Berufspraktikantin ist ihr Ärger anzumerken, und sie möchte den Jungen härter anpacken, ihm deutliche Grenzen setzen und ihn aus dem Sportunterricht ausschließen. Hier entspannt sich unbemerkt ein Gespinst aus Übertragungs- und Gegenübertragungsneigungen.
Unter Übertragung werden in der Psychoanalyse alle Phänomene der subjektiven Bedeutungszuschreibung innerhalb einer Begegnung von mindestens zwei Personen verstanden (vgl. Herold, Weiß 2000; Gerspach 2009, S. 86 ff.). Im Rahmen der Psychoanalytiker-Patienten-Beziehung wird eine unbewusste Objektbeziehung in Szene gesetzt, wobei zwei Kriterien für die Definition von Übertragung maßgeblich sind: die Wiederholung der Vergangenheit und die Verzerrung der Realität. Der Beitrag des Patienten zur Übertragung fußt auf seinem neurotischen Wiederholungszwang, welcher ihn veranlasst, seine Konflikte auf einer Bühne interpersoneller Beziehungen zu inszenieren. Der Beitrag des Analytikers zur Übertragung fußt auf einer Behandlungstechnik, die durch seine implizite Theorie gesteuert wird, auf seiner Individualität und seinem latenten Menschenbild, was ihm erlaubt, die Übertragung zu erkennen und zu deuten.
Das Konzept der Gegenübertragung betont ebenfalls den unbewussten Anteil der Interaktionen zwischen dem Analytiker und seinem Analysanden und markiert die korrespondierenden Prozesse im Analytiker, mit denen er auf die Übertragungen reagiert (vgl. Ermann 2000). Die Gegenübertragung manifestiert sich in Phantasien, Stimmungen, Impulsen und Verhaltensweisen, die sich analog zu den Übertragungen verhalten können und so Rückschlüsse auf den Inhalt der Übertragungen zulassen.
Insbesondere Racker hat das Konzept der Gegenübertragung noch weiter ausdifferenziert und eine wichtige Unterscheidung eingeführt (vgl. Racker 1993, 157 ff). Bei den konkordanten Identifizierungen kommt es zu einer Resonanz des Äußeren im Inneren, auf die Anerkennung des zum Anderen gehörigen Fremden als zum Eigenen gehörend („Ich bin dies, bin Du“) und zur Gleichstellung des Eigenem mit dem, was zum andern gehört („Du bist dies, bist ich“). Komplementäre Identifizierungen entstehen dadurch, dass der Patient den Analytiker wie ein inneres Objekt behandelt. Folglich fühlt sich der Analytiker auch so behandelt, d.h. er identifiziert sich mit diesem Objekt. Man kann vereinfacht sagen, dass ich mich in der konkordanten Gegenübertragung mit den schmerzlichen Selbstanteilen eines traumatisierten Kindes identifiziere, während ich in der komplementären Identifizierung unbewusst die Rolle des traumatisierenden Objekts einnehme. Gerade Pädagog/innen neigen aus unreflektiertem Selbstschutz gegen die belastenden Gefühlen von Ohmmacht und Verzweiflung in einem oft unübersichtlichen Praxisfeld eher zur zweiten Wahl und tragen damit unbemerkt zur Reproduktion des alten Dilemmas bei.
Für den klinischen Umgang mit der Gegenübertragung ist mittlerweile das Konzept einer nicht-pathologischen Form der projektiven Identifizierung maßgeblich, bei der sich der innere mit dem äußeren Bereich verbindet:
- Unerwünschte Selbstanteile werden in eine andere Person
- Über die konkrete Interaktion wird Druck auf diese Person ausgeübt, so zu fühlen und zu handeln, wie es der Projektion
- Die projizierten Phantasien und Gefühle werden durch die andere Person gehalten und verarbeitet, was zu einer Reintrojektion in modifizierter Form führt (vgl. Stemmer-Lück 2004, 101 ff.).
In der Gegenübertragung erlebt der Analytiker jene Regungen, die im Analysanden noch nicht verarbeitet werden können. Ähnlich der Mutter erhält er dadurch eine Container-Funktion. Containing bedeutet, dass sich die Mutter zur Verfügung stellt, um „alle die noch nicht bewussten und (noch) unintegrierbaren Affekte und Empfindungen des Säuglings (zum Beispiel Wut und Angst) eine Zeitlang in sich zu bewahren, in sich stellvertretend zu verarbeiten, um so das Kind vor einem Überflutetwerden von seinen Affekten zu schützen und ihm ein Gefühl der Kontinuität seiner Existenz in Beziehung zu seiner Umwelt zu ermöglichen“ (vgl. Trescher, Finger-Trescher 1992, S. 94).
Das Denken der Mutter ist in dieser Situation „überwiegend unbewusst-intuitiv, geschieht in einem Zustand, den Bion als ‚Rêverie’, als das träumerische Ahnungsvermögen bezeichnet hat“. Die Mutter selbst wird durch die Aufnahme des zu containenden Materials verändert. Deshalb kommt es auch zu einem „Wechsel von Misslingen und Wiederherstellung von Containment“. Die vom Kind ausgeschiedenen Empfindungen, Affekte und Wahrnehmungen, die vom mütterlichen Behälter aufgefangen werden sollen, können also auch „daneben fallen“ und bleiben dann ohne Bearbeitung im Kind liegen. Nach einer immer möglichen gescheiterten Abstimmung muss der Dialog wiederhergestellt werden (vgl. Bovensiepen 2008, S. 15 ff.). Nicht im permanenten Glücken, sondern in der Wiederherstellung der missglückten Abstimmung liegt der Kern einer guten Beziehung. Indem die unbewussten Ängste und Zustände des Anderen wahrgenommen, miterlebt und ausgehalten werden, kommt ein Moment des Nachdenkens ins Spiel, eine negative Kapazität, ohne dass wir diese Zustände sogleich beurteilen oder nach schnellen Lösungen suchen müssten (vgl. Hirschmüller 2000, S. 421; Gerspach 2009, S. 91).).
An unserem Beispiel können wir ablesen, dass sich auch hier ein solches Beziehungsszenario entfaltet hat. Ähnlich dem Verhältnis des Analytikers zu seinem Patienten wird die Sozialpädagogin mit einem affektiven Lasso in die innere Objektwelt des Kindes gezerrt und kann dabei gar nicht anders, als in der Gegenübertragung partiell mitzuagieren (vgl. Treurniet 1996, S. 17). In der komplementären Identifikation ihrer Gegenübertragung übernimmt sie unbewusst die Rolle des traumatisierenden, zumindest nicht zureichend empathischen Objekts und ist geneigt, ihre Gegenaggression gegen dieses „böse“ Kind, verkleidet als pädagogisch angemessenes „konsequentes“ Verhalten auszuagieren. Das löst nicht nur bei mir, sondern auch bei den anderen Berufspraktikant/innen, die tagtäglich mit ähnlichen Situationen konfrontiert sind, einen gewissen Ärger aus, allerdings glücklicherweise auch Verständnis für die leidgeplagte junge Frau. Im übrigen berichtet sie davon, wie ihre Klassenlehrerin beim Versuch, besagten Jungen auf dem Schulhof einzufangen, als er nach einem Konflikt mit einem anderen Schüler weglief, sich einen Bänderriss zuzog und drei Wochen ausfiel. Nun musste die Berufspraktikantin allein mit der Klasse zurecht kommen, sie war unsicher und verletzbar und konnte somit die Eskapaden des Jungen kaum ertragen.
In der nun aufkeimenden Diskussion in unserer kleinen Runde kommen wir auf die unklare Lebenssituation des Jungen zu sprechen, auf den plötzlichen Verlust seiner Heimat und seines Vaters, von dem er nicht einmal sicher weiß, ob oder wann er ihn wieder sehen wird. Abrupt ist er unter Fremde gefallen, deren Sprache er kaum beherrscht. Er hat keine Freunde, wird im Gegenteil gerne zum Sündenbock gemacht und ständig beschuldigt, andere gehauen zu haben, selbst wenn das nicht der Wahrheit entspricht. Zudem ist er von seiner Intelligenz her völlig unterfordert und langweilt sich schnell. Zusätzlich erschwerend kommt hinzu, dass er nachmittags nur von Erwachsenen umgeben ist und von einer Bekannten der Mutter zur anderen weitergereicht wird.
Da ist es doch nicht verwunderlich, dass er stört und seiner Verstörung Ausdruck verleiht. An dieser Stelle erscheint es mir sinnvoll, das Konzept des szenischen Verstehens einzuführen, das sich wie folgt umreißen lässt:
- Das szenische Verstehen offenbart uns im Sinne der „Inszenierung der Interaktionsmuster“ (vgl. Lorenzer 1973, 142) die unbewusste Wiederbelebung eines unbewältigten Lebensthemas im aktuellen Beziehungsarrangement, wie es sich als Störung darstellt. Wir selbst werden in diese Szene hineingezogen.
- Das unbewältigte Thema wird uns vor allem in Form sprachlosen Agierens präsentiert. Es existiert keine andere Form der In diesem Mangel liegt die Belastung der Sozialpädagog/innen.
- Auftrag der Sozialpädagogik ist es, ein Klima zu schaffen, in dem sich der Störer angenommen fühlt. Über das Wachsen einer stabilen Beziehung kann allmählich Sprache in den Dialog eingebaut Erst wenn eine erlebensnahe Sprache zur Verfügung steht, wird sich das störende Verhalten in soziale wie kognitive Kompetenz transformieren lassen (vgl. Gerspach 1998, S. 148).
Auf meine direkte Frage an die Berufspraktikantin hin, was sie dem Jungen gegenüber eigentlich empfindet, gibt sie spontan zur Antwort, dass sie ihn eigentlich sehr mag – wenn er sie nicht so zu ärgern beginnt – und sie auch bemerkt, dass er beständig ihre Nähe sucht und sich im Stuhlkreis immer sogleich neben sie setzt. Auf einmal wirkt sie entspannter und kann freundliche Gefühle zulassen. Aus der negativen Gegenübertragung erwächst eine positive Gegenübertragung. Die Berufspraktikantin vermag sich in der konkordanten Identifizierung in die Situation des Kindes hineinzuversetzen und seine Selbstanteile von Irritation, Verzweiflung, Ohnmacht in sich nachklingen zu lassen. Wir können jetzt die ganze Sache viel differenzierter beurteilen. Ich gebe ihr den Rat, dem Jungen gegenüber deutlich zu äußern, dass sie ihn mag, aber sich schlecht fühlt, wenn er aus der Rolle fällt, und dass sie deshalb möchte, dass er das ihr zuliebe unterlässt. Die positive Gegenübertragung wird nämlich zum Träger von Entwicklung in einer sich stabilisierenden Beziehung, die das Verhältnis von
„Halten und Zumuten“ gelingend auszutarieren weiß. Es gilt, sich mit den gesunden Anteilen zu verbünden, und da kann ein bisschen Erpressung nicht schaden. So werden wir in die Lage versetzt, „an der Szene teilzunehmen und doch innere Distanz dazu zu gewinnen“ (vgl. Leber 1985, S. 158).
Aus dem empathischen Verstehen der Reinszenierung desolater Lebenssituationen können wir solchen Kindern helfen, mit ihren missglückten Beziehungen und deren Folgen besser fertig zu werden. Indem wir ihnen selbst eine haltende Beziehung anbieten, kann wir ihnen zudem in einer angemessenen Dosierung zumuten, sich mit der belastenden Vergangenheit so auseinander zu setzen, dass neue Lebensperspektiven gewonnen werden. Dies ist oft gleichbedeutend mit der nachträglichen Einführung von Sprache sowie dem Erwerb von moralischen und kognitiven Grundkompetenzen und kann eine gesellschaftliche Eingliede- rung anbahnen (vgl. Leber, Gerspach 1996, S. 514).
In der Gruppe wird die Idee geboren, dem Jungen ein kindgemäßes Betreuungsangebot am Nachmittag zur Verfügung zu stellen. Auch müsste der Vorfall mit der Lehrerin thematisiert werden. Den Jungen quälen mit Sicherheit sehr archaische, feindliche Schuldgefühle, die er nicht bewusst zulassen noch verarbeiten kann. Daraus resultiert meist eine dumpfe Angst vor Rache und Vergeltung. Ein zerstörerisch-feindseliges Über-Ich, welches diese destruktive Form des Schuldgefühls auslöst, beeinträchtigt das Selbstgefühl und muss – z.B. auf dem Wege heftigen Ausagierens – abgewehrt werden.
Unter günstigen Bedingungen des Aufwachsens in einer freundlich-kindgerechten Umgebung wird dieses archaisch-feindliche Über-Ich von einer wohlwollenderen, reifen Lesart überschrieben. Auf diese Weise gelingt es einem Kind allmählich, die Ambivalenz von aggressiven und liebevollen Gefühlen gegenüber seinen Eltern auszuhalten und zu legieren. Um die geliebten Elternfiguren, auf die sich sein Hass richtet, zu schützen, entsteht der Wunsch nach Widergutmachung, welcher sich mit dem Schuldgefühl verbindet. Die Annahme, durch eigene aggressive Regungen dem geliebten Objekt Schaden zugefügt zu haben, löst ein Schuldgefühl aus, das die Fähigkeit zur Wiedergutmachung bzw. im Winnicottschen Sinne zur „Besorgnis“ bewirkt. Auch ein Schuldgefühl zu empfinden wird von Winnicott als Fähigkeit verstanden (vgl. Winnicott 1990, S. 93 ff., 1976, S. 113 ff.; Gerspach 2010, S. 184).
Damit dieser Prozess in Gang kommen kann, bedarf es der Fähigkeit der Mutter, die Wiedergutmachungsgeste entgegenzunehmen. Wenn das Kind merkt, dass die Mutter unbeschadet bleibt und diese Wiedergutmachungsgeste annimmt, wird es allmählich in die Lage versetzt, seine Impulse als nicht per se bedrohlich einzuschätzen und für sie die Verantwortung zu übernehmen. Fortan müssen sie nicht mehr projektiv nach außen verlagert werden.
Dabei muss die Mutter behutsam vorgehen und deutlich signalisieren, dass sie sich weder von der Wut des Kindes zerstören lässt, noch als Reaktion darauf das Kind zu zerstören sucht. Wie ein Container stellt sie sich ihrem Kind zur Verfügung, um es vor einer affektiven Überflutung zu schützen. Unter dem nachhaltigen Einfluss des Bildes einer guten Mutter wird ihm ein Weg gezeigt, die Wut auf die böse Mutter in sein Selbst zu integrieren. Damit lassen sich fortan gut und böse, Liebe und Hass in all ihrer Ambivalenz versöhnen. Eine Mutter, die nicht versucht, sich und dem Kind Frustrationen zu ersparen, sondern sie auszuhalten vermag, unterstützt ihr Kind in seinen Versuchen, die Frustrationen selbst zu bewältigen, ohne von übermächtigen Ängsten befallen zu werden (vgl. Gerspach 2009, S. 131).
Dieses Wissen kann uns in der Pädagogik viel helfen. Auch unser kleiner Übeltäter muss sich entschuldigen dürfen, sofern die Lehrerin diese Entschuldigung tatsächlich annehmen kann. Und was ist mit den Kindern der Klasse? Der Unfall hat einen abrupten Beziehungsabbruch zur geliebten Lehrerin bewirkt. Das macht Angst und zugleich Wut auf den Jungen. Aber mit dieser Tat hat er, gruppendynamisch gesehen, vielleicht auch etwas für die Gruppe erledigt. Denn das Verhältnis zur Lehrerin ist niemals ungetrübt. Sie verlangt Leistung und Benehmen, verteilt Lob und Tadel. Das löst auch Wut aus, die aber, weil zu konflikthaft erlebt, nicht sein darf. Insofern werden solche Impulse und Affekte gerne unbewusst an jene delegiert, die von ihrer Persönlichkeitsstruktur her eine Bereitschaft zum Agieren aufbringen. Damit ist man (scheinbar) von den eigenen Affekten befreit.
Selbstredend ist es sinnvoll, sich dem „schwierigen“ Kind mit aller gebotenen Empathie zuzuwenden. Schließlich hat alles, was es tut, Sinn, sonst würde es dies nicht tun (vgl. Walthes 1993, S. 151). Dazu ist es sicher nötig, im Sinne des szenischen Verstehens seinem Erleben und der Dramatik seiner Lebensgeschichte wie -umstände die gebührende Aufmerksamkeit zu schenken. Aber es ist ebenso notwendig, sich der in der Gruppe waltenden Interaktionsdynamik eingehender zuzuwenden. „Ein pädagogisch angemessener Umgang kann zumeist nur unter Einbezug des Gruppenprozesses entwickelt werden. Erst durch den Wechsel der Perspektive vom individuellen zum Gruppenkonflikt kann die Bedeutung der Situation im Gesamt erfasst und eine Integration des vom ‚auffälligen’ Einzelnen repräsentierten Konflikts pädagogisch relevant gehandhabt werden (Finger- Trescher 2012, S. 25).
Um einem belasteten Kind ein guter Dialogpartner zu sein, müssen wir in uns selbst seine emotionale Tragödie zulassen. Ohne dass eine innere Resonanz entstünde, könnten wir keine Vorstellung seiner ungelösten Konfliktlage entwickeln. Einen solche Begriff benötigen wir aber, um für diese Situation eine Sprache zu finden, die das Kind versteht und übernehmen kann. Das heißt, wir müssen in der Gegenübertragung eine konkordante Identifizierung herstellen, mittels der wir die affektive Misere des Kindes nachzuempfinden vermögen. Gleichzeitig müssen wir in der komplementären Identifikation die unzureichende Beziehungssituation mit den primären Elternobjekten am eigenen Leibe spüren. Meist mangelt es auf der Seite des Kindes an einer genügend erfahrenen Affektspiegelung, was wiederum zu einer nicht geglückten Affektregulierung geführt hat und in aktuellen realen oder vermeintlichen Gefahrensituationen zur Anflutung von Spitzenaffekten mit den bekannten dramatischen Ausgängen führt. Das Kind hat noch keinen Weg gefunden, sein Wahrnehmen und Handeln symbolisch zu regeln, sondern bleibt in einem unmittelbaren, sich beständig wiederholenden Handlungszwang gefangen.
Aber wir müssen auch erkennen, welche – auch unbewusste – Bedeutung wir für die gesamte Gruppe haben. Individuelle Kinder sind vor allem als Teil der Gruppe zu sehen. „Das heißt, alles, was sie tun oder auch nicht tun, muss im Hinblick auf die Gruppe und als Ausdruck des Gruppengeschehens (...) betrachtet werden“ (Finger-Trescher 2012, S. 26). Und in dieser Hinsicht ist auch zu überdenken, wie wir womöglich selbst zum Agieren einzelner Kinder und zu ihrer Etikettierung beitragen
In Fortführung dieses Gedanken lässt sich jetzt formulieren: Wenn es uns gelingt, die in der Begegnung mit einem „schwierigen“ Kind in uns aufkommenden Gefühle zuzulassen, auszuhalten, ihren Anlass und ihre Bedeutung zu reflektieren, leisten wir einen originären Beitrag zu Symbolbildung und Mentalisierung auf Seiten des Kindes. Wenn wir also dazu beitragen, die bislang unverdauten Affekte in uns zu halten, sie in verstehbare Gefühle zu transformieren und sie somit in dosierter Form zurückgeben können, kann der Symbolbildungs- und Mentalisierungsprozess auf Seiten des Kindes einsetzen. Wir bieten dem Kind so die Möglichkeit, sich in der Identifikation mir uns nicht wie bisher bedroht und von massiven Ängsten und fundamentaler Verzweiflung überflutet zu sehen, die im Umkehrschluss zu einem Aufkommen starker Aggressionen führt, sondern diese Situation neu bewerten zu können. Und eines dürfen wir nicht vergessen: So wie wir dem als schwierig identifizierten Kind in der Gruppe begegnen, entscheiden wir mit darüber, wie die Gruppe selbst damit umgeht. Müssen „die anderen“ Kinder befürchten, selbst sanktioniert zu werden, wenn sie nicht gehorchen? Oder erleben sie eine affektfreundliche Haltung der Störung gegenüber, die es erst ermöglicht, sich davon zu emanzipieren?
Damit zurück zu meinem Beispiel: In der nächsten Woche frage ich die Berufspraktikantin, wie es ihr mit dem Jungen ergangen ist. „Gut“ sagt sie, „es ging schon viel besser, und er hat sogar Kontakt zu anderen Kindern in der Klasse aufgenommen“. Sie berichtet, dass sie ihn ebenso inständig wie deutlich ersucht hat, sie bei der Arbeit mit der Klasse, mit der sie ja alleine zurecht kommen musste, zu unterstützen und dass er deshalb sein ständiges Ausrasten unterlassen solle. Offensichtlich hat er diese Botschaft verstanden.
Ich denke, dass unsere Gruppe sie beim letzten Mal gut contained hat. Wir haben ihren Ärger nicht zensiert, aber ihm auch nicht im Sinne des Mitagierens nachgegeben. Und so haben sich ihr Blick und ihre Haltung entspannt und sie hatte auch keine Angst mehr vor einer drohenden Eskalation. Das hat der Junge bestimmt gespürt, er fühlte sich bei der dringend nötigen Affektregulation unterstützt, und so ist er sicherer geworden. Stern spricht diesbezüglich von Gegenwartsmomenten („now moments“), die geschehen, von kurzer Dauer und dabei unglaublich reichhaltig sind. Es geht um ein subjektives Erleben, das sich „gerade jetzt“, in diesem Augenblick, vollzieht. Diese Momente stellen ein vollständiges Geschehen, eine Gestalt dar, wo die wahrgenommenen Gefühle „Vitalitätsaffekte“ repräsentieren. „Die gefühlte Erfahrung des Gegenwartsmoments ist all das, dessen ich mir jetzt, während ich den Moment lebe, gewahr bin“. Vieles wird implizit verstanden und muss, um seinen Einfluss auszuüben, nie zur Sprache gebracht werden (vgl. Stern 2005, S. 22 ff., Gerspach 2009, S. 173).
Unser aller Haltung hatte sich verändert, wir hatten mehr verstanden und konnten dies unserer Berufspraktikantin wohl ohne Worte sehr gut spiegeln, was sie wiederum vor Ort umzusetzen vermochte.
Ich möchte diese kleine Episode mit dem Hinweis schließen, dass der Junge (noch) keine ADHS-Diagnose erhalten hat, obwohl er präzise in die bestehenden Diagnoseraster passt. Dies spricht durchaus für ein gewisses Zufalls- und Willkürprinzip.
Wir können Lebensgeschichte nicht umschreiben oder Lücken nachträglich füllen. Aber wir können „emotional korrigierende Erfahrungen anbieten (vgl. Alexander 1949), die eine andere Bewertung des Erlebten und Erlittenen zulassen. Insofern müssen wir uns vor der Größenphantasie hüten, das Kind „erretten“ zu wollen. Damit übernehmen wir im Sinne Figdors eine „verantwortete Schuld“. Das ist etwas vollkommen anderes als ein moralisierendes Verdammen.
Das Thema Schuldgefühle der Eltern wird gerne als Totschlagargument angeführt, um die Ritalin-Gegner als deren Verursacher hinzustellen und stattdessen auf dem Wege eines Werbefeldzuges eine medikamentöse Entlastung zu propagieren. Gleichzeitig könnte man aber auch fragen, ob diese harsche Gegnerschaft beim Streit ums Kind nicht ähnlich wie in einer Familie für eine komplementäre Verklebung steht, für eine Art unbewusster Arbeitsteilung der Erwachsenen im Hinblick darauf, was die beste Zukunft fürs Kind verheißt (vgl. Benz 2007, S. 95 f.).
Jenseits einer Delegation der eigenen pädagogischen Unzulänglichkeiten an die heutige Familie, Schule, Scheidung, sozialpolitische Vorgaben sind wir gehalten, die eigenen Grenzen des Machbaren zu erkennen. Kindern geht es bei uns nicht stets gut, noch tun sie das von selbst, was wir uns von ihnen erwarten. Insofern werden wir schuldig, ihnen nicht alle Wünsche und Hoffnungen erfüllen zu können. Aber diese Schuld ist nicht mit einer Schädigung des Kindes zu verwechseln: „Viele dieser das Kind frustrierenden Forderungen und Grenzen sind für die körperliche Gesundheit und Sicherheit unverzichtbar; viele sind für die Entwicklung des Kindes notwendig und sinnvoll, andere sind einem Mindestmaß an Wohlbefinden des Erwachsenen selbst geschuldet, was letzten Endes auch wieder dem Kind zukommen kann, weil dadurch dem Erwachsenen die Freude am (Zusammenleben mit dem) Kind erhalten bleibt“.
Nur wenn ich mir über diese Unterscheidung im klaren bin, vermag ich meine Schuld an Enttäuschung und Missbehagen des Kindes auszuhalten. So erwerbe ich eine emotionale Haltung, die mir nichts anderes übrig lässt, als dem Kind Schmerz zuzufügen, sie bringt es aber mit sich, dass es mir leid tut. Und so werde ich versuchen, das Leid zu verringern und so „meine Schuld wieder gut zu machen“. Bin ich mir dagegen meiner Schuld nicht bewusst, dass das Kind jetzt traurig oder bockig ist, dann halte ich an der Vorstellung fest, alles für das Kind getan zu haben, so dass es gar keinen Grund hat, so zu sein wie es ist. Und so finde ich auch keinen Anlass, irgendetwas gut machen zu wollen und „fühle mich lediglich durch das Kind gestört“ (vgl. Figdor 2006, S. 118 ff.; Gerspach 2010, S. 202).
Nun werde ich von meinen Studierenden oft gefragt, wenn ich solche Fallvignetten vortrage, wie ich dieses szenische Verstehen bewerkstellige, ob es sich hier nicht um Zufall oder gar Zauberei handele und wie ich aus den mir bekannten Informationen auf die Bedeutung für das Kind schließe. Nach Lorenzer schreitet das Verstehen über Evidenzerlebnisse voran, die sich aus dem szenischen Verstehen von affektbeladenen, konflikttypischen Interaktionsmustern ergeben und das Erfassen von Bedeutungskomplexen ermöglichen (vgl. Lorenzer 1973, S. 142 ff.). Lorenzer bezieht diese Erkenntnis aus dem psychotherapeutischen Dialog von Analytiker und Patient. Hier setzt der Analytiker das, was er meint, verstanden zu haben, „probeweise“ ein. Die Differenz zwischen den von ihm erfassten und den „wirklichen“ Bedeutungen soll über ein allmähliches Ausmitteln und Präzisieren verringert werden. „Der Analytiker vergegenwärtigt sich die Situation, die situative Sinnebene der Aussagen des Patienten, bis er seine Wahrnehmungen entsprechend bestimmten Interaktionsstrukturen sammeln kann“. Die verstandene Szene entspricht dabei seinem Erwartungsmuster, welches de „Interaktionsstruktur des Patienten“ gleichkommt. Das sich einstellende Evidenzerlebnis zentriert sich um das Verstehen der engen Verknüpfung der aktuellen Situation heute, der infantile Situation damals und der analytischen Situation (vgl. Lorenzer 1973, S. 147 ff.).
Heute würde man wohl eher so argumentieren, dass die Differenz zwischen Eigen- und Fremdverstehen nie gänzlich überwunden werden kann und dass es für den Patienten hilfreich ist zu erleben, dass und wie ihm sein Analytiker die eigenen Assoziationen, Phantasien und Affekte zur Verfügung stellt. Auch hier kann das mittlere Maß an Koordination offenbar mehr eigenaktive Entwicklung ermöglichen als der Anspruch auf perfekte Übereinstimmung.
„Analytiker und Analysand sind Beobachter, die sich gegenseitig beim Beobachten beobachten und sich fortwährend im Prozess der wechselseitigen Beschreibung verändern“. Die situativ gefundene Interpretation des Analytikers besitzt keinen „objektiv-deterministischen Realitätsgehalt mehr, sondern ist eine Wirklichkeitskonstruktion (...) Sie kann jederzeit zugunsten einer besser passenden Konsens-Wirklichkeit aufgegeben werden“ (vgl. Herold, Weiß 2000, S. 767). Für Psychotherapie wie Pädagogik gilt wohl gleichermaßen, dass ein Feld gemeinsamer Phantasien aufgebaut wird, „in dem es schwer wird, Übertragung und Gegenübertragung genau zu unterscheiden“ (vgl. Küchenhoff 2010, S. 92). Beide stellen eine funktionelle Einheit her und sind „sinn- und bedeutungsvoll aufeinander bezogen“ (vgl. Ermann 2000, S. 229).
Unabhängig davon ist der Verweis auf Evidenz als Erkenntnisinstrument von großem Wert. Auch in der Pädagogik kennen wir solche Aha-Erlebnisse, wo uns etwas wie Schuppen von den Augen fällt. Die wichtigste Informationsquelle ist dabei – neben einem gewiss wichtigen umrisshaften Wissen um die Lebensumstände eines Kindes – das eigene Nacherleben, die eigene innere Resonanz. Dabei geht es dezidiert nicht um eine vorab zu leistende Hypothesenbildung auf der Basis bestimmter Lebensdaten, nach dem Motto: Weil der Vater des Kindes so streng ist, werde ich auch zum strengen Pädagogen gemacht. Vielmehr ergibt sich aus der konkreten Erfahrung, wie sich das Kind in die Interaktion mit mir einbringt und wie es mir gegenüber auftritt, bei mir ein Evidenzerlebnis, welches problematische Interaktionsmuster in der Beziehung zu mir reinszeniert wird.
Mindestens ebenso wichtig wie das kognitive Wissen, wenn nicht gar für einen gelingenden Dialog grundlegender, ist daher die Fähigkeit zum affektiven Mitschwingen. Damit meine ich das Zulassen-Können von bislang aus Scham und Angst abgewehrten Empfindungen. Es gilt, die affektiv gefärbten Signale und Botschaften des Gegenübers als empathische Resonanz zu den eigenen affektiven Kennungen aufzunehmen. Mit Hilfe des kognitiven Verstehens können wir nun dem, was wir aufgenommen haben, eine Bedeutung verleihen. Das Verstehen organisiert die verspürten Empfindungen und bringt sie in eine symbolische Ordnung (vgl. Lichtenberg 1991, S. 156; Stern 1992, S. 207; Gerspach 2012c).
Dennoch sei vor einem dogmatischen Anspruch ans Verstehen gewarnt. Im Wort Ver-stehen ist Stehen enthalten, und da wo jemand bereits steht, vermag ich mich nicht hinzustellen. Verstehen kann also niemals vollständig gelingen. Und genau diese Grenze unseres Verstehens garantiert den Respekt vor dem Anderen: „Verstehen ist antworten“ (vgl. Kastner 2009, S. 30).
Wenn ich hernach falsch liege mit meinen Verstehensbemühungen, verpufft das Interventionsangebot wirkungslos, wenn ich den Nagel auf den Kopf treffe, zeigt sich im Gefühlsleben meines kindlichen Gegenübers ein oft erstaunliches Ausmaß an Entspannung – die Voraussetzung für inneres Wachsen. Auf dieses Wechselspiel dürfen wir ruhig vertrauen.
Leider hat sich die Erziehungswissenschaft von einer seelenlosen Medizin entmündigen lassen. „Seit den ‚Pisa-Olympiaden‘ wird jener Anteil von Aufmerksamkeit (…), der gezieltes Achtgeben bedeutet, geübt, trainiert, dressiert und gedopt“ (vgl. Hopf 2012, S. 54). Es liegt an uns, dies zu ändern.
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MANFRED GERSPACH, Dr. phil., Professor für Behinderten- und Heilpädagogik am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Soziale Arbeit der Hochschule Darmstadt. Schwerpunkte in Lehre und Forschung: Arbeit mit sogenannten verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen, Psychoanalytische Pädagogik, integrative/inklusive Pädagogik, Elementarpädagogik