Fachbeiträge

Fachtexte zu «ADHS» von unseren Kuratoriumsmitgliedern

Keine Pillen für den Zappelphilipp [Vorwort zur erweiterten Neuauflage]

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Liebe Leserin, lieber Leser, "Keine Pillen für den Zappelphilipp" war und bleibt unser Appell (der der Mutter und der des Pädagogen) gegen den Medikamentenmißbrauch im Kindesalter. Nicht die Medikation an sich - auch nicht die mit Ritalin - sondern immer nur der Mißbrauch stellt die große Herausforderung an Ärzte und Psychologen, an Lehrer und Erzieher und an betroffene Eltern dar. Der Mißbrauch läßt sich wie folgt beschreiben:

  • Ein in der Lebenswelt bestehendes Problem wird nur auf das Kind
  • Das Kind wird einseitig und zu oft mit Medikamenten
  • Es erhalten zu viele Kinder
  • Persönliche Probleme und Versäumnisse der Helfer, Lehrer und Eltern werden zu selten berücksichtigt.
  • Im Interesse der Helfer, der Lehrer und Eltern soll das bestehende Problem möglichst schnell und einfach beseitigt werden.
  • Es fehlen eindeutige Diagnosen und theoretische Erklärungskonzepte.
  • Alternative Handlungsmöglichkeiten stehen den Helfern und Eltern in weiten Teilen nicht zur Verfügung.
  • Die Unterstützung der Schulen und Familien, im besonderen auch der Alleinerziehenden, über die Familien-, Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik wird nicht hinreichend geleistet.

Die Bedeutung, die Medikamente für bestimmte Familien mit auffälligen Kindern in bestimmten Situationen haben, bleibt unbestritten da oft nur so über diesen Weg ein Einstieg in andere Formen der Unterstützung gefunden werden kann.

Dies geschieht in einer Zeit, in der die Familie tiefgreifend erschüttert wird. Den Hintergrund bilden die Auswirkungen einer "epochalen Strukturkrise" (Oskar Negt) , die oft verharmlosend mit den Begriffen Individualisierung und Globalisierung bezeichnet wird. Die Konsequenzen werden gegenwärtig in den Erfahrungen und den Verhaltensweisen aller Familienmitglieder offensichtlich. Ein deutlicher Strukturwandel in der Arbeitswelt, in den Medien, in den sozialen Bindungen und der handlungsleitenden Werte schafft enorme Veränderungen im Alltag der Familien. All dies konkretisiert sich leib-haftig in Armut, Arbeitslosigkeit, in hohen Scheidungsraten u.a.m. In hohem Maße verunsichert, reagieren die Erwachsenen. "Kinder der Freiheit", so der Titel eines Buches von Ulrich Beck, in dem er die Lebenssituation der Erwachsenen (!) in unserer Gesellschaft beschreibt. Sie müssen das "eigene Leben in die eigenen Hände nehmen" und mit immer mehr Freiheiten leben lernen. Sie müssen die Angst vor diesen neuen Freiheiten bewältigen. So ist der Wandel für viele Menschen zur Zeit die einzige Sicherheit- Der bekannte Psychotherapeut Helm Stierlin bringt dies auf die griffige Formel "Haltsuche in Haltlosigkeit". Die Erwachsenen sind gezwungen, sich neue, passende Formen des (Über-)Lebens anzueignen. Zugleich haben sie aber auch die Chance, den Nutzen, die "Tugend der Orientierungslosigkeit" (Goebel, Clermont) zu erlernen und zu erleben.

Daß dies für alle Betroffenen immer auch an die Akzeptanz von Unsicherheit und Schmerz gebunden bleibt, ist eine uralte Lebenserfahrung. Erfahrung, so heißt es in einem mexikanischen Sprichwort, ist eine stachelige Frucht. Zugleich machen die Betroffenen, wie auch die Familie in diesem Buch die Erfahrung, eine große Chance erlebt, genutzt zu haben. Krise bedeutet immer auch Chance. Chancen für eine veränderte, gemeinsame Zukunft.

Ähnliches gilt für Schule und Kindergarten. Die Schule und ihre Entwicklung wird immer auch von den gesellschaftlichen Gegebenheiten und Herausforderungen geprägt. Seit Beginn der 90er Jahre lassen sich auf allen Gebieten des Schullebens deutliche Umbrüche feststellen. Eine andere Kindergeneration, erhöhte gesellschaftliche Erwartungshaltung en an die Schule, neue Technologien, insbesondere Informationstechnologien, stellen ganz neue Anforderungen an die Schulen dar. Immer mehr Pädagoginnen und Pädagogen fühlen sich in ihren Arbeitsbedingungen überfordert. Zugleich verstärken erhöhte Stundendeputate und größer werdende Klassen die wachsenden Burn-Out- Phänomene und frühzeitige Pensionierungen. Nur noch 10% unserer Lehrer sind bis zum Pensionsalter von 65 Jahren in der Schule tätig. Lehrerinnen und Lehrer, die überfordert, ausgebrannt oder krank reagieren, zeigen passende Reaktionen auf eine vorgegebene Lebenswelt. Die Individualisierung, die Pathologisierung von Anpassungsproblemen hat inzwischen auch die Gruppe der Lehrer erreicht- Vielleicht hilft uns diese Entwicklung, auch die Situation des auffälligen Kindes anders zu sehen. Oder sollten wir etwa mehr Therapie für auffällig gewordene Lehrer und Erzieherinnen einfordern?

Es muß für jeden einsichtig sein, daß in dieser gesellschaftlichen Umbruchphase, in der die traditionellen Strukturen und Wertorientierungen, die vertrauten Denk- und Handlungsmuster brüchig geworden sind, die Alltagsbewältigung für Kinder und Jugendliche eine besondere Belastungsprobe darstellt- Während einerseits die Freiheitsgrade von Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft sehr hoch sind (Konsum, Freizeitgestaltung), müssen sie andererseits diese Freiheiten  mit einer fortschreitenden Lockerung von sozialen und kulturellen Bindungen bezahlen.

Der Bielefelder Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann hat festgestellt, daß Kinder und Jugendliche von dieser Entwicklung besonders stark betroffen sind. Seiner Meinung nach, nehmen Kinder nicht nur physiologisch Schaden, sondern sie leiden auch körperlich, seelisch und sozial stärker als andere in dieser Lebensweltsituation. Sie reagieren mit "Hyperaktivität", "Aggressivität", "Konzentrationsstörungen", "Kopfschmerzen" u.a. Dies sind aktive, jeweils passende Reaktionen des Kindes auf eine Lebenswelt, die für immer mehr Kinder zum Problem geworden ist. Kinder reagieren immer ganzheitlich auf Situationen, die sie überfordern: Einige stärker im Lern- oder Verhaltensbereich, andere deutlicher mit psychischen oder körperlichen Symptomen. Es sind Signale, "Notsignale", einer für Kinder zum Problem gewordenen Lebenswelt- Diese zwingt sie, wie die Erwachsenen auch, zu immer neuen Anpassungsleistungen. Von den Erwachsenen werden diese dann als "störend" bzw. "krank" bezeichnet und zu oft mit Medikamenten behandelt.

Dies schafft Entlastung für Helfer, Lehrer, Eltern und Politiker. "Billige Psychopharmaka ersetzen teures Personal." Dieser Satz von Gerd Glaeske, bezogen auf die alten Menschen in unserem Lande, die mit ungeheuren Mengen von Psychopharmaka ruhiggestellt werden, weist eine enge Parallele zum Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern auf. Es ist schlicht billiger, die Anpassungsprobleme des Kindes mit Medikamenten zu behandeln, als mehr Geld  für  Familien, Lehrer und Beratungsinstitutionen oder gar für kinderfreundliche Lebenswelten bereitzustellen.

In dieser Situation wäre es für die betroffenen Kinder, Eltern, Lehrer und Erzieher hilfreicher, wenn sie sich intensiver mit anderen Fragen beschäftigen würden. Mit der Frage zum Beispiel: "Wo sind diese Kinder mit ihrer Konzentration?" Dazu folgendes Fallbeispiel.

Klaus, acht Jahre alt, ist im Unterricht unruhig und unkonzentriert. Nach den W orten seines Lehrers ist er "ständig abwesend", verläßt regelmäßig nach der zweiten Stunde die Klasse und geht nach Hause. Mit der Zeit wird der Lehrer hilflos, die Eltern sind verärgert- Als "Schulverweigerer" etikettiert, wird Klaus dem Schulpsychologen vorgeführt. Nachdem auch dieser scheitert, verschreibt der zu Rate gezogene Kinderarzt Psychopharmaka zur Behandlung der Unruhe und ein Mittel zur Steigerung der Konzentrationsfähigkeit. Am Ende seiner "Karriere" hat Klaus das Glück, daß er in der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf eine engagierte Ärztin trifft, der es gelingt, eine engere Beziehung zu ihm aufzubauen- In dieser Situation hat der Junge zum ersten Mal die Möglichkeit, sich zu öffnen. Er beginnt zu erzählen, daß er eines Abends durch die angelehnte Tür den Streit der Eltern mitangehört habe, in dem seine Mutter unter anderem drohte, die Familie zu verlassen. So hielt es Klaus verständlicherweise nicht lange im Unterricht aus. Erst nachdem er sich persönlich vergewissert hatte, "daß die Mutter noch da war", kam er für den Rest des Tages zur Ruhe.

Unruhe treibt viele Kinder um, sie können sich auf die Anforderungen der Schule nicht richtig konzentrieren, da sie mit den Konsequenzen von Scheidung oder Armut, von Leistungsdruck in Familien und Schulen, mit den Nöten der Freundin oder der Klassenkameradin beschäftigt sind.

Darüberhinaus haben diese Kinder eine Anpassungsleistung vollbracht, die unserer immer schneller werdenden Lebenswelt entspricht. Freed und Parsons, ein amerikanischer Psychotherapeut und eine betroffene Mutter unterstreichen dies in ihrem Buch.

"Ich glaube, daß die Mehrheit der Kinder mit der Diagnose ADD tatsächlich das hat, was Hallowell und Ratey als Pseudo-ADD bezeichnen. Sie wurden nicht so geboren; wir haben sie dazu gemacht. Diese Kinder sind ein Produkt unserer schnellebigen, visuellen, überstimulierenden Kultur."

Sie zitieren die Arbeit zweier Kollegen:

"ADD ist wie das Leben heutzutage. Ich [Hallowell] möchte nicht zu hochtrabende Behauptungen aufstellen, aber ich glaube wirklich, daß dieses medizinische System eng mit der gegenwärtigen Kultur Amerikas verzahnt ist. Das schnelle Tempo des Alltagslebens, die Suche nach dem Sound Bite, die Vorliebe für Fast Food und sofortige Bedürfnisbefriedigung, die weite Verbreitung von Faxgeräten, Mobiltelefonen, Computer-Netzwerken und E-Mail, unser Appetit auf Gewalt, Action und Abenteuer, das Streben nach Gewinn, unsere weitverbreitete Ungeduld, die Vorliebe für Glücksspiele, Extreme und Gefahren - all diese sehr amerikanischen Eigenschaften sind auch dem Aufmerksamkeits-Syndrom sehr ähnlich."

Sind nicht auch in Deutschland die sogenannten "Hypis" oder die Kinder mit der Diagnose "Aufmerksamkeit-Defizit-Syndrom" (ADS) die typischen Kinder des 21. Jahrhunderts? Oder offenbart sich unser Unbehagen an der Welt, in der wir leben, unbewußt in der fortschreitenden medizinischen Behandlung auffälligen Verhaltens von Kindern?

Wenn zur Zeit wieder einmal die Nachfrage nach der schnellen Lösung steigt, so werden wir nicht umhinkommen, uns intensiv mit den allgemeinen Lebensbedingungen unserer Gesellschaft zu Beginn des neuen Jahrtausends zu beschäftigen. Nach den "alten Rezepten", der "Anpassung auf Rezept" (Reinhard Voß), den kindzentrierten Psychotherapien und einem wachsenden Esoterikrepertoire sind Ärzte, Psychologen, Eltern und Lehrer aufgefordert, gemeinsam "neue Lösungen" zu finden. Nicht nur "die Schule muß neu erfunden werden". (Reinhard Voß)

"Alternativen im Umgang mit unruhigen Kindern" aufzuweisen, war und bleibt unser Anliegen. Das Kind aus dem Zentrum der Betrachtung zu nehmen und sein Verhalten in größere soziale Zusammenhänge zu stellen (Hans von Lüpke, Reinhard Voß), erfordert andere Wahrnehmungs-, Denk-, Einstellungs- und Handlungsweisen. So soll(en) das Kind im Kontext seiner Lebenswelt und Lebensgeschichte betrachtet, seine individuellen Kompetenzen und sozialen Ressourcen genutzt, gemeinsame Hilfsangebote von Ärzten, Psychologen, Lehrern und Eltern organisiert und Lösungen statt alte Rezepte (Krankheitszuschreibungen) angestrebt werden.

Schaut man intensiv nur auf das Problem, hier auf das "hyperaktive" Kind, so bedingt dies oft eine Bindung an das Problem, anstatt neue Lösungswege zu eröffnen. Die Betroffenen bleiben meist im Problemraum gefangen, während die so herbeigesehnten Lösungen ungesehen bleiben. Auch dieses Ringen um individuelle kind- und familienspezifische Lösungen wird von Roswitha Wirtz anschaulich beschrieben. Es wird deutlich, daß es sich bei diesen Lösungswegen nicht um gerade Straßen handelt, sondern um Umwege, wobei das Stehenbleiben und auch das Zurückgehen genauso dazugehört, wie das beharrliche Verfolgen des gesetzten Zieles.

Die Fragwürdigkeit traditioneller, medizinischer Konstruktionen im Sinne einer krankhaften Eigenschaft des Kindes, wie die Legasthenie (Bühler-Niederberger), "Minimale Celebrale Dysfunktion" (MCD), "Hyperkinetisches Syndrom" (HKS) oder neuerdings "Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom" (ADS) bleibt bestehen. Dies gilt im besonderen dann, wenn immer mehr Kinder derart etikettiert werden. Die Aussage gilt trotz aller neurophysiologischen oder genetischen Erklärungsversuche. Diesem Mythos zu begegnen, wie ich ihn bereits in "Anpassung auf Rezept" beschrieben habe, bleibt als Aufgabe bestehen. Eine Aufgabe, der wir uns gemeinsam stellen müssen, Eltern, Lehrer, Erzieher und Ärzte.

Seien wir vorsichtig mit all den bereits beschriebenen (medizinischen) Königswegen, die sich dann immer wieder, jedoch auf Kosten der betroffenen Kinder und Familien, als Irrwege herausstellen. So wurde noch vor wenigen Jahren die Behandlung eines hyperaktiven Kindes mit einer Diät als das "Allheilmittel" herausgestellt, um heute eindeutig, "wissenschaftlich bewiesen", als "unwirksam" zu gelten. Daß ein kleiner Prozentsatz von Kindern einer umfangreicheren medizinischen Betreuung bedarf, bleibt dabei unbestritten.

Die Sünden der Helfer

Oft sind es die Helfer, die Familien in eine Sackgasse führen. Wir werden nicht umhin kommen, wir, die Lehrer und Erzieher, Psychologen und Ärzte, uns mit den eigenen Fehlern, mit professioneller Inkompetenz zu beschäftigen. Es läßt sich nicht verleugnen, daß inkompetentes Handeln auf Seiten der Helfer oft zu einer Verschärfung oder Verlängerung einer Problemsituation beiträgt. Es kann nicht darum gehen, in irgendeiner Form diese Berufsgruppen zu beschimpfen, sondern es bedeutet allein, daß wir uns um mehr Professionalität und Kooperation bemühen. Da ich selbst auch Familientherapeut bin, kann das folgende Beispiel nicht als eine Beschuldigung einzelner Berufsgruppen mißverstanden werden.

Maria war so ein "typisches" hyperaktives Kind. In einer schwierigen Familiensituation reagiert der Kinderarzt empört auf das Ansinnen der Eltern, möglicherweise das Kind mit Ritalin zu behandeln. Die Probleme sieht er eher bei der Mutter, als bei dem Kind. In der Konsequenz sucht sich die Familie einen Kinderarzt in einer benachbarten Stadt. Dieser ist selbst betroffener Vater, der Ritalin für die einzig sinnvolle Behandlungsform hält. Somit erhält Maria vom 5. bis zum 11. Lebensjahr Ritalin, weil sie unruhig und aggressiv ist und des nachts nicht schlafen kann. Morgens erhält sie eine Tablette und mittags noch eine halbe. Erst als Maria in die Gesamtschule, eine Ganztagsschule, kommt, wird die Medikamenteneinnahme mit 11 Jahren abgesetzt. Sie soll wie üblich mittags das Medikament alleine einnehmen, was sie in der Schule, vor den anderen Schülern, nicht tun will, nicht tut. Die Familie stellt so fest, daß das gemeinsame Leben auch ohne die Pille funktioniert und setzt das Medikament ohne das Wissen des Arztes ab. Erst ein halbes Jahr danach finden sie den Mut und erzählen dem Kinderarzt von der Absetzung. Später gab es noch eine Familientherapie, zu der alle Familienmitglieder gegangen sind, die aber von der Familie abgebrochen wurde. Die Therapeutin sprach eine direkte Beschuldigung der Mutter aus, in dem sie sagte, die Probleme der Familie bestünden darin, daß die Mutter ihr eigenes Verhältnis zu ihrer Mutter nicht aufgearbeitet habe.

Selbst wenn man den Überlegungen, sowohl des Kinderarztes, wie auch der Familientherapeutin folgen wollte, ist es ihnen nicht gelungen, diese Familie in ihrer spezifischen Konfliktsituation dort abzuholen, wo sie sich gerade befand. So war die Chance vertan, gemeinsam nach einer Lösung ohne einseitige Schuldzuweisungen (jetzt der Mutter!) zu suchen, vielleicht sogar gemeinsam einen Weg ohne Medikamente zu finden. Doch aufgepaßt! Auch die Helfer sind eingebunden in Ausbildungsstrukturen und bestehende Arbeitsplatzbedingungen. Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Helfer stellen oft deutliche Grenzen dar.

Wir spielen " Schwarzer Peter"

Die Frage nach den Ursachen für "hyperaktives" Verhalten von Kindern gleicht jenem "Schwarzer- Peter- Spiel", bei dem sich die Beteiligten gegenseitig die Schuld zuweisen. Nach dem Kind sind es jetzt verstärkt die Eltern, i.b. die Mütter, aber auch die Lehrer und Erzieher, denen der "Schwarze Peter" zugeschoben wird.

Auf diesem Wege werden Energien gebunden, die wir gemeinsam in die Eröffnung neuer Lösungsräume investieren könnten: Eltern und "Helfer" zusammen mit den Kindern. Daß dies ein einfacher Weg sein soll, wird niemand ernsthaft behaupten wollen und können. So bleibt letztlich allein die Ermutigung, den ersten, kleinsten Schritt zu gehen. Neue Wege entstehen bekanntlich beim Gehen, andere gehen mit. Dies für die Seite der Eltern in einem ersten Zugang beschrieben zu haben, dafür gebührt Roswitha Wirtz und ihrer Familie ein besonderer Dank.

Die Betroffenen glauben jeweils nur durch das Ausfindigmachen des einen " Schwarzen Peters", den "Schuldigen" finden zu können. Aber es sind nicht die Kinder, nicht die Mütter!! In der Auffälligkeit der Kinder symbolisiert sich immer die Ganzheit der Lebenswelt, die für die Menschen zum Problem wird. Die meisten dieser Kinder sind nicht krank! Oft ist es sogar so, daß sie über besondere Stärken, Talente und ein besonderes Maß an Kreativität verfügen. Wäre ein Mozart der geworden, der er war, wenn es seinerzeit schon Krankheitsbilder wie "ADS" und Medikamente wie Ritalin gegeben hätte? Bewegungsfreudige und anders konzentrierte Kinder verhalten sich jeweils individuell passend, anders, eigensinnig (wie die Erwachsenen auch!). Daß sich  die  individuellen  Unterschiede  auch neurologisch aufweisen lassen, dies darf doch niemanden verwundern. Unsere gemeinsame Aufgabe besteht also darin, auffällige Kinder in ihrer schwierigen Lebenssituation nicht allein zu lassen, ihnen beizustehen und ihre Eltern, Lehrer und Erzieher zu unterstützen. Unsere Pflicht ist es, ihnen Zeit zu lassen, jene Zeit, die sie benötigen, um mit der neuen Situation leben zu können. Und dieses notwendige Maß an Zeit ist bei Kindern wie Familien wiederum sehr individuell ausgeprägt.

In der Reflektion am Ende dieses Buches beschreibt Roswitha Wirtz sehr anschaulich, daß die beliebten Schuldzuschreibungen zu keiner Veränderung führen. Gesucht wird eine Abkehr von den Fragen nach den "wirklichen" Ursachen, Problemen, den Schuldigen, da diese Fragen nur zur Aufrechterhaltung des Problems beitragen. Dies ist der Punkt, der mich persönlich bis auf den heutigen Tag so betroffen macht. Die traditionellen Rezepte tragen dazu bei, die betroffenen Kinder, Eltern, Lehrer und Erzieher in ihren schwierigen Lebens- und Berufssituationen festzuhalten. Deshalb sind wir aufgefordert, einen gemeinsamen Ausbruch aus den selbst angelegten Ketten zu leisten.

Reinhard Voß / Roswitha Wirtz

Unsere Arbeit

«Wir sind ein Zusammenschluss von namhaften Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema ADHS einsetzen.»

Unsere Vision

«Unsere Vision ist es, die Öffentlichkeit zu ermächtigen, das gegenwärtige schulmedizinische ADHS-Konstrukt kritisch zu hinterfragen und damit der einseitigen Biologisierung kindlichen Verhaltens entgegenzuwirken».

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Die Konferenz ADHS wird durch den Vorstand geführt und durch das Kuratorium beraten. Der Generalsekretär vertritt die Konferenz ADHS nach aussen.