Fachbeiträge

Fachtexte zu «ADHS» von unseren Kuratoriumsmitgliedern

Wer in dieser unserer bundesdeutschen Gesellschaft erfolgreich sein will, der muß "fit sein", "gut drauf" sein, "funktionieren" und vor allen Dingen, er muß "Leistungen erbringen". Dieses lernen Kinder sehr früh, früher als in vergangenen Generationen, aller Orten und mit mehr Nachdruck. Eine aggressiv werbende Pharmaindustrie, eine große Gruppe bedenkenlos verschreibender Ärzte, eine steigende Zahl von Eltern und Lehrer, die mit Medikamenten Leistung und/oder Anpassung ihrer Kinder sichern wollen und ein mehr und mehr schwindendes Gesundheitswissen in unserer Bevölkerung fördern den Arzneimittelge- und -mißbrauch der Kinder im Schulalter.

Vitamin-tabletten (!) (statt einer gesunden, ausgewogenen Ernährung), Grippemittel (obwohl die Grippe mit Tabletten 1 Woche, ohne Tabletten 7 Tage anhält), Medikamente gegen Schul-, Familien- und Freizeitstreß (statt der Suche nach alternativen Vermeidungs- oder Bewältigungsmöglichkeiten), Schmerzmittel gegen Menstruationsbeschwerden oder Kopfschmerzen ("den Schmerz darf man mir nicht ansehen" bzw. "Indianer kennen keinen Schmerz"), Stärkungsmittel, die die Leistung und Konzentration fördern sollen (der Beweis über die Wirkung ist bis heute nicht erbracht worden) und nicht zuletzt Medikamente, die unsere Familien und Schulen von störenden, unkonzentrierten, bewegungsfreudigen Kindern befreien sollen (von denen es angeblich immer mehr geben soll), usw..

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"Man sieht ein schwarzes Telefon auf weißem Untergrund. Es läutet. Eine einschmeichelnde Frauenstimme antwortet mit einem fragenden ‘Ja’. Ein Mann antwortet: ‘Ich bin’s’. Die Frau reagiert mit einem hörbaren Lächeln. Im Dialog erfährt man, daß der Mann sie ins Kino einladen möchte, aber Bedenken hat wegen ihrer Kopfschmerzen, die sie offensichtlich vorher hatte. Die Kamera tastet die Gegenstände neben dem Telefon ab. Das Telefon steht auf einem seidig glänzendem Tuch. Darauf eine Perlenkette. Daneben eine Packung Aspirin Plus und ein Glas Wasser. Die Frau beruhigt den Mann, daß sie sehr rasch wieder in Form sein wird, wenn sie ein Aspirin von Bayer nimmt."

"Für Schüler ist Glutiagil geeignet, um

  • die Leistungen in der Schule zu steigern
  • die Auffassungsgabe und Merkfähigkeit zu verbessern
  • Konzentration und Ausdauer zu erhöhen
  • die Examensvorbereitungen zu intensivieren
  • einer zu raschen Lernmüdigkeit vorzubeugen
  • Zerfahrenheit, Vergeßlichkeit und Unkonzentriertheit leichter zu überwinden."

Medikamentenkonsum

Kinder im Alter von 0 bis 5 Jahren erhalten im Durchschnitt genauso viele Medikamente, wie die Altersgruppe der 45 bis 49jährigen (!) (Schwabe 1997). In einer repräsentativen Studie für Nordrhein- Westfalen, die wir für das MAGS, NW (1989) durchgeführt haben, konnten wir folgende Zahlen für den Medikamentenkonsum der 6 bis 14jährigen feststellen:

  • 28,6% der Kinder nahmen in den letzten vier Wochen Arzneimittel ein, 70% ein Arzneimittel, 19% zwei und 11% drei und mehr
  • 50% der Arzneimittel entfielen auf Hustenmittel, Antiallergika, Analgetika und Mittel gegen Bronchitis
  • Die Nutzung von Arzneimitteln ist nach Prokopfeinkommen unterschiedlich. Kinder in Familien mit den höchsten Prokopfeinkommen (mehr als 1000 DM) weisen einen um 60% höheren Arzneimittelkonsum auf als Kinder aus Familien der untersten Prokopfeinkommensgruppe (unter 500 DM).

Selbstmedikation

  • 23% der Arzneimittel stammten aus dem Bereich der Selbstmedikation, waren also ohne Rezept in der Apotheke gekauft worden (vor allem Vitamine, Mittel gegen Hauterkrankungen und Schmerzmittel)

Neben der immensen Höhe der verordneten Medikamente für Kinder und Jugendliche muß ferner der wachsende Anteil der Selbstmedikation in unserem Lande thematisiert werden. Selbstmedikation wird definiert als ein Teilbereich der Selbstbehandlung, der mit Medikamenten ohne ärztliche Verordnung durchgeführt wird. Herauszustellen bleibt, daß für Kinder die Selbstmedikation de facto eine problematische Fremdmedikation der Eltern darstellt. Zugleich fördert die Selbstmedikation bei Jugendlichen ein, in seiner Wirkung für den Medikamentenmißbrauch, nicht zu unterschätzendes Verhaltensmuster.

Andere Untersuchungen weisen auf eine deutliche Steigerung des Medikamentenkonsums mit fortschreitendem Alter der Kinder auf. (Glaeske 1999, 28) Auch geschlechtsspezifische Differenzen des Arzneimittelkonsums verstärken sich mit steigendem Alter der Kinder und können mit unterschiedlichen Rollenanforderungen an Mädchen und Jungen erklärt werden.

Schmerz-, Beruhigungs- und leistungssteigernde Mittel

Verschiedene Untersuchungen belegen eine deutlich soziale Komponente: "Der Ehrgeiz der Mittelschicht-Eltern, ihre Kinder fit zu machen und fit zu halten für den ‘Ernst des Lebens’, spielt offenbar eine wichtige Rolle." (Hurrelmann 1990, 47) Wachsender Leistungsdruck (in Familie, Freizeit, Schule) und fehlende Bewältigungsmechanismen bedingen, daß immer mehr Kinder und Jugendliche mit Streßsymptomen und psychosomatischen Erkrankungen (Kopf- und Bauchschmerzen, Nervosität, Schlafbeschwerden, Konzentrationsschwächen) reagieren, denen Ärzte und Eltern, mit fortschreitendem Alter auch die Schüler über Selbstmedikation, begegnen. Arzneimittel sollen Schüler gerade in ökonomisch unsicheren Zeiten stabilisieren, die Leistungsfähigkeit sichern. Vor allem bei Kopfschmerzen greifen immer mehr Schüler zu einem Mittel, mit dem sie den Schmerz "wegschlucken" wollen. Ärger in der Schule und in der Familie, z.B. Klassenarbeiten oder erhöhte Leistungsanforderungen der Eltern, werden als die wichtigsten Stressoren angegeben. Natürlich gibt es auch einen körperlich erklärbaren Konsum: Den Gebrauch von Mittel gegen Regelschmerzen oder Mittel gegen eine Erkältung. 4% der Jugendlichen benutzen bereits Herz-Kreislaufmittel, 5% haben Erfahrungen mit Anregungsmitteln. "Untersuchungen an Schülerinnen und Schüler im Alter von 13-17 Jahren zeigten, daß neben Kopfschmerzmitteln (wöchentlich 7%) und Herz-Kreislaufmitteln (wöchentlich 4%) etwa 2% Beruhigungs- und Schlafmittel sowie 2% Anregungsmittel einnehmen". (Glaeske, Rumke 2000) Jüngere Schulkinder erhalten Multivitaminpräparate und andere Mittel, die konzentrationsfördernd wirken sollen (z.B. Glutiagil).

Anpassung auf Rezept

Die medikamentöse Behandlung sozialbedingter Auffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter (aggressiv, hyperaktiv, unkonzentriert etc.), die Anpassung auf Rezept (Voß 1992), hat in Deutschland schon eine Tradition. Die neuerfundenen Begrifflichkeiten "Hyperkinetisches Syndron" (HKS) oder "Minimale Cerebrale Dysfunktion" (MCD), die in den 70er und 80er Jahren eine weite Verbreitung fanden, schafften die Legitimation für Psychopharmakaverordnungen, i. b. für das Ritalin. Nachdem selbst von medizinischer Seite sich diese Konstruktion als einheitliches Krankheitsbild nicht aufrechterhalten ließ - "MCD: Leerformel oder Syndrom" so der bezeichnende Titel einer Arbeit von Esser und Schmidt (1987) - setzt sich in den 90er Jahren (wiederum als US-Import) ein neues Modewort "Attention Deficit Disorder" (ADD) bzw. "Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom" (ADS) mehr und mehr durch, dem eine Stoffwechselstörung zugrundeliegen soll, für die wiederum eine Methylphenidat-Behandlung gefordert wird. Abweichungen im Neurotransmitterbereich erlauben jedoch keine ätiologischen und pathogenetischen Schlußfolgerungen, solange nicht die Ursache im biochemischen Bereich bewiesen ist. Ein solcher Beweis fehlt bisher für das ADS. All jene Wirklichkeiten, die uns die verschiedensten Etiketten wie HKS, MCD oder ADS u.a. suggerieren wollen, gibt es nicht. Sie sind wissenschaftliche Konstruktionen, die den Zugang zu den eigentlichen je individuellen Signalen einer für Kinder und Jugendlichen zum Problem gewordenen Lebenswelt versperren.

Obwohl traditionell in den USA deutlich mehr Ritalin verordnet wird, mahnen uns die neuesten US- Zahlen für den Zeitraum von 1991-1995 am Beispiel Baltimore. Dort ist in allen Schulstufen ein deutlicher Anstieg von Ritalinverabreichungen festzustellen. Eine Verdoppelung der Verordnungen von Ritalin findet dort in der Grundschule (!) statt. Es läßt sich, wie bereits zu Beginn der 80er Jahre geschehen, ein entsprechender Anstieg in den kommenden Jahren auch für Deutschland erwarten.

Neben einem allgemeinen Klima, in dem sich immer mehr Lehrer und Eltern überfordert zeigen, in dem bildungspolitisch ein "role back" deutlich erkennbar wird, lassen sich Alltagsphänomene aufweisen, die für sich sprechen. In Stuttgart gab 1996 die obere Schulverwaltung "Empfehlungen für die Schule und fachliche Stellungnahmen" heraus, die eindeutig die Verordnung von Ritalin beim HKS propagieren. Deutlich ist eine wachsende Bereitschaft bei Psychologen Ritalin zu empfehlen. Offensichtlich zeigt sich auch in Eltern-Selbsthilfegruppen (vgl. Voß/Wirtz 2000) wieder stärker die Tendenz, Ritalin zu nutzen.

In seinem Jahresbericht 1997 wiederholt der internationale Drogenkontrollrat (INCB) die Bitte an die Regierungen "zur höchster Vorsicht, um die Überdiagnostizierung von ADD bei Kindern und die medizinisch nicht gerechtfertigte Behandlung mit Methylphenidat und anderen Stimulantien zu vermeiden". (INCB 1997, 19)

Ausblick

Es kann nicht überraschen, daß in diesen Zeiten einer soziokulturellen Umbruchphase über stärkere Anpassungsforderungen, Leistungsorientierungen und ein wachsendes Konkurrenzverhalten, gekoppelt an ein gesellschaftlich akzeptiertes pharmakologisches Lösungsmodell, auch die Schüler in einen steigenden Medikamentenge- und -mißbrauch eingebunden sind.

Modell-lernen: Für viele Kinder ist es selbstverständlich geworden, daß ihre Mütter ständig bis zu drei verschiedene Tablettensorten mit sich tragen; daß ihre Väter nach dem Alkoholgenuß wiederum eine Tablette benötigen; daß immer mehr Erwachsene in den verschiedensten Situationen, bei kleineren oder größeren Problemen (bis hin zur Abhilfe gegen "schlechte Laune"), Hilfe von der Tablette erwarten oder mit ihr ihre Arbeitskraft und ihre sozialen Beziehungen zu sichern suchen. (vgl. ausf. Voß 1983)

Die dringend notwendige Abkehr von diesen sauberen und schnellen "Helfern" ist eine gesamtgesellschaftliche, zugleich weltweite Herausforderung. Dies unterstreicht der Jahresbericht des internationen Drogenkontrollrates (Kölner Stadtanzeiger vom 23.02.1999). Die Forderung des Suchtstoffrates, die "Gesellschaft abstinenter zu machen" bleibt jedoch folgenlos, solange nicht strukturbezogene Formen der Prävention, in die die Schulen einbezogen werden, in der Breite praktiziert werden. Mehr Arbeitsplätze, größere Unterstützung für arme Familien und Schulen (auch in Deutschland heilen Pillen keine Armut - Will 1996), ein anderes Modellverhalten der Erwachsenen im Umgang mit Medikamenten, Verbot der Medikamentenwerbung, institutions- und professionsübergreifende Handlungsmodelle ("Healthy Cities", "Gesunde Schulen", mobile Familienhilfe und Jugendarbeit, Schulsozialarbeit u.v.a.) werden Lösungen anstelle traditioneller Scheinlösungen ermöglichen. (Voß 2000)

Literatur

Esser, G.; Schmidt, M. (1987) Minimale Cerebrale Dysfunktion - Leerformel oder Syndrom, Stuttgart

Glaeske, G. (1999) "Ein Indianer kennt keinen Schmerz" - Arzneimittelkonsum bei Kindern und Jugendlichen, in: Marbuse, 1/2, 28

Glaeske, G.; Rumke, R. (2000) Schule und Arzneimittel - Ohne Pillen geht es auch! Zum Arzneimittelge- und -mißbrauch bei Kindern und Jugendlichen im Schulalter, in: Voß, R. (Hg.) (Schein-)LÖSUNGEN

Hurrelmann, K. (1990) Familien-, Schul-, Freizeitstreß, Weinheim, Basel

Internationaler Drogenkontrollrat/INCB (1997) Zunehmender Mißbrauch von Amphetaminstimulantien, in: drogen-report, 2, 16

Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales (1989) Kinder und Medikamente, Düsseldorf

Schwabe, U. (1997) Arznei-Verordnungsreport ‘97, Stuttgart, Jena

Voß, R. (1983) Fördern Eltern, Lehrer, Erzieher und Ärzte den fortschreitenden Medikamentenmißbrauch bei Kindern und Jugendlichen?, in: Suchtgefahren, 29, 369

Voß, R. (1992) Anpassung auf Rezept - Zur fortschreitenden Medizinisierung auffälligen Verhaltens von Kindern und Jugendlichen, Stuttgart

Voß, R. (Hg.) (2000) Verhaltensauffällige Kinder in Schule und Familie - Neue Lösungen oder alte Rezepte?, Neuwied

Voß, R.; Wirtz, R. (2000) Keine Pillen für den Zappelphilipp - Alternativen im Umgang mit unruhigen Kindern, Reinbek (vollständig überarbeitete Neuauflage)

Will, A. (1996) Pillen heilen keine Armut - Kinder im Visier der Pharmaindustrie, in: Marbuse 1/2, 35

Unsere Arbeit

«Wir sind ein Zusammenschluss von namhaften Wissenschaftlern aus verschiedenen Disziplinen, die sich für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Thema ADHS einsetzen.»

Unsere Vision

«Unsere Vision ist es, die Öffentlichkeit zu ermächtigen, das gegenwärtige schulmedizinische ADHS-Konstrukt kritisch zu hinterfragen und damit der einseitigen Biologisierung kindlichen Verhaltens entgegenzuwirken».

Governance

Die Konferenz ADHS wird durch den Vorstand geführt und durch das Kuratorium beraten. Der Generalsekretär vertritt die Konferenz ADHS nach aussen.