SYMPTOME VERSTEHEN
Der in ADHS-Kreisen bekannte Psychiater Dr. Martin Winkler erzählt in einem Vortrag in gewohnt flapsiger Weise von einem seiner Patienten, der die Wände seines Zimmers bis auf die letzte getüncht habe, aber es nicht schaffte, die auch noch zu tünchen. Aus ADHS-Sicht ist es eindeutig: ADHS und Prokrastination, angeboren und unheilbar, eine Hirnstörung der Exekutivfunktionen, aber mit Pillen gut behandelbar. Man muss jetzt nur noch den Patienten dazu kriegen – notfalls mittels Psychopharmaka -, dass er die letzte Zimmerwand auch noch tüncht.
So schlicht macht man es sich in der ADHS-Welt. Menschliches Verhalten wird irgendwelchen Syndromen oder vorgeblichen psychiatrischen Krankheiten zugeordnet, die im ICD oder DSM katalogisiert sind – oder auch nicht. Aber verstanden wird es nicht.
Verhalten zu kategorisieren ist natürlich grundsätzlich hilfreich, aber nur ein erster Schritt, es auch zu verstehen. Wenn der zweite Schritt nicht gegangen wird, bleibt es unverständlich. Der Mensch wird und fühlt sich unverstanden, in Störungskategorien einsortiert und abserviert. Wirkliche Heilung wird so unmöglich.
Der Fokus der Psychoanalyse liegt dagegen im lebensgeschichtlichen Verstehen der Motive eines Menschen. Wenn es gelingt, gemeinsam mit einem Menschen die (unbewusste) Motivation seines Verhaltens zu hinterfragen und zu verstehen, kann Neuorientierung und psychische Gesundung geschehen.
Ich hatte einmal einen Patienten, der dem von Dr. Winkler sehr ähnelte. Er hatte alle Innentüren seiner Wohnung neu gestrichen, bis auf eine, und er konnte sich monatelang nicht aufraffen, die auch noch zu streichen. Aber nicht aus diesem Grunde hatte er eine Psychotherapie begonnen, sondern wegen quälender Angstgefühle, die ihn sei Jahren plagten.
Das Geheimnis der ungestrichenen Tür entschlüsselte sich im Verlauf der tiefenpsychologischen Psychotherapie als eine tiefverzweifelte Depression mit Selbsttötungswünschen. Die letzte Tür zu streichen stand unbewusst für den abgewehrten Wunsch, Schluss zu machen, sprich: sich umzubringen. Als das bewusst war, konnten die Hintergründe der Suizidwünsche weiter verstanden und aufgelöst werden. Ganz nebensächlich berichtete der Patient von der letzten gestrichenen Tür, bevor er weiter daran arbeitete, wie er wieder emotionalen Zugang zu seinem geliebten Sohn finden könnte, den er seit der Scheidung so schmerzlich verloren hatte.
Das psychoanalytische Konzept der Abwehrmechanismen bzw. Ersatzmotive (Toman) hilft, Verhalten zu verstehen und zu ändern. Wenn Sie sich näher mit diesem Konzept befassen wollen, können Sie gleich hier einsteigen: