Springer präsentiert von Pharma gesponserte Werbung als «State of the art» Therapie bei ADHS

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Mit seinem «Special ADHS» Newsletter hat der Springer Medizin Verlag einmal mehr bewährte Marketingstrategien benutzt, um ein neues auf Methylphenidat (der Wirkstoff, der auch dem bekannteren Ritalin zugrunde liegt) basiertes Arzneimittel zur «Therapie» von ADHS zu vermarkten. Einige davon sind: (1) Bestärken des Bildes vom «Zappelphilipp»; (2) Erinnern daran, dass ADHS bei Mädchen oft übersehen wird; (3) Erinnern daran, dass es sich bei ADHS um eine Krankheit handelt; (4) Betonen, dass Methylphenidat Leben rettet; sowie (5) Betonen, dass mit Ausnahme von Psychopharmaka sowieso alles nur Placebo ist. Lassen Sie uns diese kurz unter die Lupe nehmen.

  1. Bestärken des Bildes vom «Zappelphilipp»: Das Bildmaterial mit der Bezeichnung «Wild hüpfender Junge» soll das Bild des wilden, ohne Medikamente nicht zu bändigenden Jungen bestärken. Das Bild reiht sich ein in einen (weltweiten) Diskurs, der junge, weisse Knaben als Archetyp des von ADHS Betroffenen Kindes zeichnet (Schmitz et al., 2003). Als Kindheitssoziologe assoziiere ich mit diesem Bild die Freude eines Jungen (bspw. darüber, dass bald ein Haustier in den Familienhaushalt einziehen wird). Die Pharmaindustrie versteht es jedoch gekonnt, Ausgelassenheit, oder gar nur körperliche Aktivität, die über das Erledigen von Hausaufgaben hinaus geht, zu pathologisieren. Die Botschaft: Jungen, die ihrem Bewegungsdrang nachkommen, sollten auf ADHS abgeklärt und gegebenenfalls medikamentös «therapiert» werden. Die Lösung wird im selben Newsletter auch gleich beworben: «Seit Juni 2021 ist das Methylphenidat-haltige Arzneimittel Methysym® zur ADHS-Behandlung bei Kindern und Jugendlichen im Alter von 6-18 Jahren verfügbar». Die Pharmaindustrie verspricht dabei «stabile Wirkspiegel bis in den Nachmittag», damit diese Jungen den gesamten Schultag über ruhig bleiben.

  2. Erinnern daran, dass ADHS bei Mädchen oft übersehen wird: Zumal ADHS ca. 5-mal öfter bei Jungs diagnostiziert wird, lässt die Pharmaindustrie keine Gelegenheit ungenutzt, daran zu erinnern, dass Verträumtheit bei Mädchen selbstverständlich ebenso pathologisch sei wie der Bewegungsdrang bei Jungs. Das Bildmaterial «Gelangweiltes Schulmädchen» soll unterstreichen, dass Mädchen mit ADHS zwar ruhig sind, jedoch die Hausaufgaben genauso zu vermeiden suchen wie die Jungs. Die «Erkrankung» ADHS, so die Begründung, führe auch bei Mädchen oft zu Leidensdruck. Dieses Argument wird dann zur Legitimation eines Managements von «ADHS Symptomen» mit Psychopharmaka herangezogen. Es liegt mir fern, den erheblichen Leidensdruck, den (viel zu viele!) Kinder in unserer Gesellschaft erfahren, zu relativieren oder gar zu leugnen. Doch während der Leidensdruck bei Kindern real ist, ist die Art und Weise, wie die Pharmaindustrie und die dominante Position innerhalb der Medizin diesen versteht und adressiert, keineswegs hilfreich. In Studien hat sich gezeigt, dass Kinder Psychopharmaka mehrheitlich nicht als hilfreich erachten (Haubl und Liebsch 2010).

  3. Erinnern daran, dass es sich bei ADHS um eine Krankheit handelt: Der Artikel «ADHS: So übersehen Sie die Mädchen nicht» betont, dass sich die «Erkrankung bei ihnen anders bemerkbar macht». Der Begriff «Erkrankung» ist jedoch irreführend: psychiatrische «Diagnosen» bauen auf einem Modell auf, welches aus (i) Symptomen, (ii) Syndromen, (iii) Störungen und (iv) Krankheiten besteht (Heiby, 2012). Auch nach hundert Jahren Psychiatriegeschichte hat jedoch immer noch keine psychiatrische Diagnose das Niveau einer Krankheit erreicht, zumal dazu eine objektive und nachweisbare physische Pathologie und nicht bloss ein subjektiver Leidensdruck erforderlich wäre (vgl. Katona et al., 2015). Dennoch ist die Pharmaindustrie sehr erfolgreich mit dem Bewerben von «ADHS» als Krankeit: durch permanente Wiederholung im Diskurs wird bei vielen Menschen die Idee, dass es sich bei ADHS um eine objektive «Erkrankung» handelt, genährt.

  4. Betonen, dass Methylphenidat Leben rettet: Der Newsletter betont, dass «[e]ntgegen mancher Befürchtungen» eine Pharmakotherapie die Mortalitätsrate bei Jugendlichen nicht erhöhe. Vielmehr sei diese unter Methylphenidat sogar signifikant gesunken. Das hier verwendete Bildmaterial (vier quadratische Holzplättchen mit den Buchstaben A, D, H und S) erinnert dabei an Scrabble (ein Brettspiel, in dem Spieler aus zufällig gezogenen Buchstaben Wörter legen und dadurch Punkte sammeln können). So wird die Vergabe von Methylphenidat an Kinder und Jugendliche visuell mit etwas Positivem und Spielerischem in Verbindung gebracht. Wie Kean (2009) argumentiert, werden zur Förderung der psychiatrischen Diagnose ADHS und deren Behandlung mit Psychopharmaka die Risiken der entsprechenden Medikamente als minimal dargestellt. Insbesondere Methylphenidat wird dadurch populär gemacht, dass es als «ein extrem sicheres Medikament präsentiert wird, das nicht süchtig macht und bei der Mehrheit der Anwender*innen nur geringe Nebenwirkungen hat» (Cooper, 2001, S. 392). Solche Behauptungen widersprechen der Tatsache, dass Psychostimulanzien als kontrollierte Substanzen eingestuft werden. Dennoch erklärte das American College of Neuropsychopharmacology, dass die Einnahme von Stimulanzien nur für «normale» Kinder gefährlich sei, und nicht für mit ADHS bezeichnete Kinder (Leo & Lacasse, 2015).

  5. Betonen, dass mit Ausnahme von Psychopharmaka sowieso alles nur Placebo ist: zwar anerkennt der Artikel «Neurofeedback – eine nicht medikamentöse Alternative bei ADHS?», dass Neurofeedback sich bei der «Therapie» von ADHS als wirksam erwiesen habe, betont aber gleichzeitig, dass es nicht klar sei, ob es sich dabei um Placebo handle. Ob «die positiven Effekte» auf die «angenommenen spezifischen Wirkmechanismen» zurückgehe oder das Resultat unspezifischer «(Placebo-) Effekte» darstelle, sei auch nach fast 60 Jahren Forschung ungeklärt. Dadurch wird die Idee geschaffen, dass es sich bei der Behandlung mit Methylphenidat um bekannte und wissenschaftlich gesicherte Wirkmechanismen handle, während dies bei Neurofeedback eben nicht der Fall sei. Sandler et al. (2008) betonen jedoch, dass 80% der mit Methylphenidat «behandelten» Kinder auch auf eine Placebo-Pille ansprechen. Trotzdem gelang es der Pharmaindustrie, die Wirkung von Methylphenidat in der «Therapie» von ADHS als wissenschaftlich bewiesen darzustellen und alles andere als Placebo abzutun. Bildlich wird der Beitrag mit einem «Epilepsie EEG» untermauert. Der Newsletter lässt allerdings ungeklärt, was die Erfassung einer Epilepsie Elektroenzephalografie (EEG) mit Neurofeedback zu tun hat. Vielleicht ist das Bild als Kritik neurologischer Erhebungsmethoden, welche auch im Zusammenhang mit Neurofeedback zum Einsatz kommen, zu verstehen. Solche und weitere Verfahren werden von der Pharmaindustrie und der dominanten Schulmedizin allerdings auch herangezogen, um die angebliche Ursache der «Andersartigkeit» von «ADHS-Gehirnen» zu unterstreichen (vgl. Hasler, 2013).

Abschliessend lässt sich hier also begründet argumentieren, dass der «Special ADHS» Newsletter keineswegs „state-of-the-art“ ist, wie da behauptet wird. Vielmehr werden alte Strategien unter Ausschluss jüngerer Forschung gekonnt kommunikativ so bemüht, dass die Idee von ADHS als einer mit Methylphenidat behandlungsbedürftigen «Erkrankung» im Diskurs weiter gestärkt wird.  

Pascal Rudin

Referenzen

Cooper, P. (2001). Understanding AD/HD: A Brief Critical Review of Literature. Children & Society, 15(5), 387–395. https://doi.org/10.1002/chi.693

Hasler, F. (2013). Neuromythologie: Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. Transcript.

Haubl, R., & Liebsch, K. (Hrsg.). (2010). Mit Ritalin® leben: ADHS-Kindern eine Stimme geben. Vandenhoeck & Ruprecht.

Heiby, E. (2012). DSM-IV: Symptom, Syndrome, Disorder, Disease. http://www2.hawaii.edu/~heiby/overheads_classification.html

Katona, C. L. E., Cooper, C., & Robertson, M. (2015). Psychiatry at a Glance. Wiley.

Kean, B. (2009). ADHD in Australia: The Emergence of Globalization. In S. Timimi & J. Leo (Hrsg.), Rethinking ADHD: From Brain to Culture (S. 169–197). Palgrave Macmillan.

Leo, J., & Lacasse, J. R. (2015). The New York Times and the ADHD Epidemic. Society, 52(1), 3–8. https://doi.org/10.1007/s12115-014-9851-5

Sandler, A., Glesne, C., & Geller, G. (2008). Children’s and parents’ perspectives on open-label use of placebos in the treatment of ADHD. Child: Care, Health and Development, 34(1), 111–120. https://doi.org/10.1111/j.1365-2214.2007.00743.x

Schmitz, M. F., Filippone, P., & Edelman, E. M. (2003). Social Representations of Attention Deficit/Hyperactivity Disorder, 1988–1997. Culture & Psychology, 9(4), 383–406. https://doi.org/10.1177/1354067X0394004

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